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BERICHT/025: Linksliteraten - Auf Bündnisdeutschland ist Verlaß ... (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Frank Deppe über die aggressive Ausrichtung der deutschen Außenpolitik, ihre widersprüchliche Verankerung im transatlantischen Bündnis und den Versuch ihrer Sachwalter in Politik und Medien, einer immer noch nicht kriegsbereiten Bevölkerung auf die Sprünge zu helfen



Wenn von einer neuen Verantwortung und Rolle der Bundesrepublik Deutschland in der Welt die Rede ist, meint dieser von interessierten Kreisen lancierte Umbruch in der Außenpolitik der BRD im Prinzip nichts anderes als den Griff zu den Waffen. Die Bundeswehr soll stärker als bisher Präsenz an den globalen Konfliktherden zeigen. Die Neuverortung Deutschlands sei seiner gewachsenen Macht als führende Wirtschaftskraft in Europa geschuldet, mahnen nicht nur ausgesprochene Bellizisten, was mit Blick auf weltweite Ressourcenkriege und soziale Unruhen in den Peripheriestaaten einen Paradigmawechsel in der Zielsetzung der militärischen Auslandseinsätze dringend erforderlich mache: weg von einer friedenslegitimierten und hin zu einer intervenierenden Armee.

Es kann daher nicht verwundern, wenn die Kriegsbegeisterung deutscher Geostrategen zugleich mit der Forderung aufwartet, die parlamentarischen Instanzen in die zur Kriegführung notwendigen Entscheidungsprozesse einzubinden und bestehende verfassungsrechtliche Bedenken frühzeitig auszuräumen. Dem Aufstieg der Bundesrepublik zu einer global agierenden Militärmacht sollen keine Hindernisse mehr in den Weg gelegt werden. Für Frank Deppe, der die Transformationen der bundesrepublikanischen Politik seit vielen Jahren kritisch begleitet, kündigt sich hier ein demokratische Schranken niederreißender "Imperialer Realismus" an, so der Titel seines jüngsten Buches, das er auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg vorstellte.

Im Vortrag auf der 19. Linken Literaturmesse - Foto: © 2014 by Schattenblick

Frank Deppe
Foto: © 2014 by Schattenblick

Der 2006 emeritierte Hochschullehrer widmet sich drängenden gesellschaftlichen Fragestellungen aus explizit marxistischer Sicht. Deppe ist ein Vertreter der Marburger Schule, die sich um den Politologen und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth gebildet hatte. Der Marxist erforschte mit wissenschaftlicher Akribie die Geschichte der Arbeiterbewegung und Klassenkämpfe und setzte sich mit marxistischer Theorie und Verfassungsrecht auseinander. So verschieden die Wege auch waren, die Abendroths Schüler letztendlich gingen, ihr Verständnis vom Marxismus bildete stets die Grundlage für die Analyse gesellschaftlicher Kämpfe und Veränderungen. So rief Deppe, nachdem er 1972 zum ordentlichen Professor gerufen wurde, den "Marxistischen Arbeitskreis" und die "Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaft" ins Leben. Eine Arbeiterbewegung ohne Marxismus wäre für ihn sinngemäß vergleichbar mit einem Fisch auf trockenem Land. Seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit politischer Theorie und Machtinteressen entsprangen zahlreiche Werke, so eine mehrbändige Abhandlung über das "Politische Denken im 20. Jahrhundert".

Deppe war schon immer wichtig, das Rechtssystem der Demokratie selbst auf den Prüfstand zu stellen. Wie sein Lehrer Abendroth, der gegen die NS-Diktatur gekämpft hatte, geht es Deppe darum, verhängnisvolle Entwicklungen, die der Demokratie von innen her drohen, rechtzeitig als solche zu erkennen und sich gegen sie zu positionieren. Dies sei um so erforderlicher, als "wir uns in einem Prozeß der Erosion von Demokratie und dem Übergang zu neuen Formen eines autoritären Kapitalismus befinden", so Deppe in seinem Vortrag zur Buchvorstellung.

Schon als normaler Zeitungsleser, so Deppe, müsse man sich täglich darüber ärgern, daß Prozesse der Entdemokratisierung oft verharmlosend, mitunter als beiläufige Bagatelle in den Medien plaziert werden. Dabei sei für jeden ersichtlich, daß virulente Gewaltverhältnisse immer mehr hervortreten und die Menschen wie Mühlsteine zermahlen. Was den Politologen jedoch besonders entsetzt und aufrüttelt, ist die Verschärfung der militärischen Leitlinien in der deutschen Außenpolitik seit dem Jahr 2013. Dieses Datum wählt Deppe nicht zufällig - im September 2013 erschien der mit Empfehlungen zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik aufwartende Bericht "Neue Macht - Neue Verantwortung" [1]. Als Herausgeber fungieren die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und der German Marshall Fund (GMF). Während das SWP als Thinktank des deutschen Außenministeriums gilt, ist der GMF vor allem um die Pflege der deutsch-amerikanischen Beziehungen bemüht. Deppe bemängelt, daß der Expertenstab zwar mit insgesamt 53 Persönlichkeiten aus Bundestag, Bundesregierung, Wissenschaft, Wirtschaft, Stiftungen, Denkfabriken, Medien und politischen Organisationen besetzt war, aber keiner aus dem Bereich der Friedens- und Konfliktforschung stammte.

Aus Sicht Deppes werden in dem Bericht die Grundlagen einer Neuorientierung in der deutschen Außenpolitik skizziert, die als richtungsweisender Minimalkonsens im Bereich Internationaler Politik auch Eingang in den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD fanden. Einige dieser politischen Positionen, Konzepte und Strategien wurden, so Deppe, in die öffentlichen Reden des Bundespräsidenten Joachim Gauck eingebaut, was aus seiner Sicht nicht weiter verwunderlich ist, da der Redenschreiber im Bundespräsidialamt, Thomas Kleine-Brockhoff, zuvor Sekretär des GMF war und die Expertengruppe mit betreut hatte. Deppe zufolge enthielten die Reden Gaucks immer wieder wortgetreue Passagen aus dem Bericht.

Doch auch die Stellungnahmen der Bundesregierung schwenkten seit der Veröffentlichung des Berichts mehr und mehr auf den Kurs einer Militarisierung der Außenpolitik ein. Für Deppe liegt es nahe, daß damit der für ein neoliberales Exportmodell wie das Deutschlands ungemein wichtige Zugang zu internationalen Handelswegen, Märkten und Rohstoffen unter Ausspielung aller außenpolitischen Instrumente bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt gesichert werden soll. Das habe sich auch bei der Bundestagssitzung am 1. September 2014 gezeigt, als die Bundesregierung sich von einem essentiellen Punkt deutscher Außenpolitik, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, verabschiedete.

Unter dem Applaus aller Parteien außer der Linken und einiger Abgeordneter der Grünen wurden an diesem Tag Waffenlieferungen an das kurdische Autonomiegebiet im Nordirak beschlossen. Wie selbstverständlich es inzwischen geworden ist, ein außenpolitisches Tabu zu brechen, um eigene Wirtschaftsinteressen zu fördern bzw. zu erhalten, erläutert Deppe am Beispiel des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Anlaß seines Rücktritts war ein Interview, in dem er die Einsätze der Bundeswehr am Hindukusch mit der Sicherung ökonomischer Interessen der Bundesrepublik begründete. Seinerzeit sei ein Sturm der Entrüstung ausgebrochen, weil Köhler damit allem Anschein nach einen Wirtschaftskrieg gerechtfertigt hatte. Gauck hingegen könne auf jeden erdenklichen Rückhalt seitens der Bundesregierung und Kanzlerin bauen. Die deutschen Repräsentanten bräuchten ihre Worte nicht mehr auf die Waagschale zu legen oder diplomatisch abzuwägen. Seit den schwächelnden Volkswirtschaften der südeuropäischen Peripherie im Zuge der Krise eine harte Austeritätspolitik aufgezwungen wurde, hätten sich die Zeiten maßgeblich geändert. Erst dieses nach den Vorgaben neoliberaler Expansionslogik erfolgreiche Krisenmanagement habe die BRD zum alles dominierenden Faktor, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, in der Europäischen Union gemacht.

Die Behauptung, daß Deutschland mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen habe, werde nicht nur mit dem gestiegenen Machtzuwachs der Bundesrepublik in der EU, sondern auch mit der größeren Anfälligkeit des internationalen Systems durch reale Gefahren und Gewalten begründet. So könne die USA als Hüterin der Weltordnung nicht an allen Konfliktpunkten gleichermaßen präsent sein. Daher müsse Deutschland schon aus eigenem Interesse heraus vehement einspringen, um einem drohenden Machtvakuum an den kritischen Schnittstellen der kapitalistischen Verwertungskette entgegenzuwirken. Der Konflikt in der Ukraine, das Kurden-Drama im Irak und in Syrien, die Unruhezonen in Libyen, Pakistan und Nigeria seien deutliche Anzeichen dafür, daß die Welt aus den Fugen geraten ist, so daß im Sinne der zu wahrenden Stabilität notfalls auch kriegsinterventionistisch eingeschritten werden müsse.

Der Chor der großen Medien stimme denn auch, so Deppe, in den allgemeinen Kriegsfuror mit ein. Im besonderen zitierte er dabei den FAZ-Herausgeber Berthold Kohler, der am 22. Mai 2014 forderte, mit der notorischen Kriegsverweigerung vieler Bundesbürger endlich Schluß zu machen:

"Seit der Wiedervereinigung ist es mit der außenpolitischen Trittbrettfahrerei für Deutschland vorbei. Noch immer trauert es der Zeit der Unschuld nach, in der nicht einmal von nationalen Interessen gesprochen werden durfte, sondern nur von 'Verantwortungspolitik'. Seit fünfundzwanzig Jahren aber muss Deutschland seine Interessen selbst definieren und verteidigen." [2]
In diesem Zusammenhang stellte Kohler fest, daß das breite Publikum "den Vordenkern der auswärtigen Angelegenheiten, vom Bundespräsidenten bis zur Verteidigungsministerin, nicht so recht folgen" wolle. Bereits Außenminister Frank-Walter Steinmeier habe anläßlich der Ukraine-Krise den "'Graben' zwischen den außenpolitischen Eliten und dem Volk" beklagt. Gemeint, so Deppe, sei die Diskrepanz zwischen der Bereitschaft der Eliten, die Führungsrolle in der Außenpolitik zu übernehmen, und der sich bei Meinungsumfragen deutlich abzeichnenden Ablehnung der Bürger gegenüber einer aggressiven Außenpolitik. Der Politikwissenschaftler verweist darauf, daß der Anteil derer, die einer Ausweitung des Krieges als Mittel außenpolitischer Bestandssicherung kritisch bis ablehnend gegenüber stünden, in den Jahren nach den Anschlägen des 11. September 2001 trotz der sich emsig drehenden Rechtfertigungsmühlen sogar zugenommen habe.

Die ursprünglich im rechtskonservativen bis rechtsradikalen Lager beheimatete Militarisierung der Außenpolitik sei inzwischen in der politischen Mitte angekommen, die ein viel größeres Spektrum an Handlungsfähigkeit abdecke. Auch bestehe der Kurswechsel nicht nur in der Forderung nach Einsätzen der Bundeswehr im Ausland, die es de facto seit 1990/91 gibt. Deppe verweist auf die Homepage des Bundesverteidigungsministeriums, wo der Auftrag der Bundeswehr ganz klar darin definiert sei, die ökonomischen Interessen Deutschlands, die global eingebunden sind, gegen Sicherheitsrisiken hinsichtlich der Transportwege und Märkte auf der ganzen Welt zu verteidigen, was im Ernstfall auch den militärischen Einsatz erforderlich mache.

So gesehen habe der Referenzrahmen der Expertenkommission nur an Konzepte angeknüpft, die nach 1990 vor allem von konservativen Historikern entworfen wurden. Deutschland müsse nach dem Ende des Kalten Krieges damit umzugehen lernen, sich als europäische Mittelmacht im Spannungsfeld zwischen den USA und Rußland zu behaupten. Diese Diskussion war seinerzeit jedoch überwiegend im rechten Politspektrum lokalisiert und nährte sich aus der territorialen Ausdehnung des Staatsgebietes der Bundesrepublik nach dem Fall der Mauer. Bis 40, 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich die deutsche Außenpolitik immer so definiert, daß die Staatlichkeit der Bundesrepublik perspektivisch in der europäischen Integration aufgeht. Das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa war nach 1945 fester Bestandteil der Wahlprogramme aller großen Parteien.

Nach der Wiedervereinigung sei dieser Punkt aus den Parteiprogrammen gestrichen worden. Allen voran hätten Konservative die Einbindung der BRD in einen europäischen Staatenbund als zeitgeschichtliche Illusion abgetan mit dem Verweis darauf, daß die EU im Grunde nur ein multilaterales Vertragswerk in ihrer Souveränität unangetasteter Einzelstaaten sei. Nach Ansicht Deppes sattle der Bericht der Expertenkommission auf diese Nahtstelle des außenpolitischen Umdenkens auf. Von der Idee eines politisch vereinten Europa sei längst nicht mehr die Rede, vielmehr werde Deutschland darin zur "Gestaltungsmacht im Wartestand" inthronisiert.

Diese Weltmachtambitionen in der deutschen Außenpolitik nennt Deppe "Imperialer Realismus". Er tut dies mit Blick darauf, daß sich viele Machtpolitiker westlichen Zuschnitts vor allem in den USA der außenpolitischen Schule des Realismus zuordnen. In dieser werde vertreten, daß das internationale System durch die militärischen und ökonomischen Machtstrukturen der Staaten hierarchisch formiert sei. In US-amerikanischen Thinktanks und an den führenden Universitäten des Landes kreise alles um die Frage, wie die USA ihre Weltmachtposition in einer sich wandelnden Welt behaupten könnten. Diese Sichtweise vertretende Geostrategen wie Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski setzen den Erhalt der Weltordnung mit der amerikanischen Führungsrolle gleich. Sogenannte Idealisten, die nicht mit überlegener Feuerkraft argumentieren, sondern Konflikte durch wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit, Transformationspartnerschaften, Krisenprävention und Krisenmanagement zu entschärfen versuchen oder eine Friedenslösung auf dem Verhandlungswege anstreben, würden von diesen gemeinhin als mehr oder weniger sympathische Spinner erachtet.

In den Imperialismustheorien wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Frage nach den Risiken des Kapitalismus aufgeworfen. Deppe räumt ein, daß sich Marxisten oft in der Einschätzung der Entwicklung des Kapitalismus geirrt, aber in einem Punkt Recht behalten hätten: die großen kapitalistischen Staaten bewegten sich in ihrer Eigendynamik auf den Punkt zu, an dem die außenpolitische Absicht, Weltmarkt und Weltpolitik zu beherrschen, mit der des Konkurrenten kollidiere. Um ihre Macht zu stärken, müßten sie aufrüsten, was aufgrund des aggressiven und gewaltsamen Charakters des Imperialismus unvermeidlich zum Krieg führe.

Allerdings glaubt Deppe nicht, daß sich die Grundannahmen der Imperialismustheorien vor 1914 auf die Gegenwart übertragen lassen. Damals seien die führenden imperialistischen Staaten aufgrund der inneren ökonomischen Entwicklungsbedingungen nahezu zwangsläufig aufeinandergeprallt. Die integrative Entwicklung Europas in den letzten 60 bis 70 Jahren habe zwar zu vielen Konflikten und Konkurrenzverhältnissen geführt, nur seien diese in ihrem Bedingungsprofil nicht vergleichbar mit der Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Im Unterschied zu damals werde die heutige Struktur des Imperialismus im wesentlichen durch die führende Rolle der USA innerhalb des kapitalistischen Weltsystems bestimmt. Dieser ökonomische Führungsanspruch sei im Moment zwar im Abstieg begriffen, aber aufgrund ihrer militärischen Kapazität seien die USA nach wie vor die unumstrittene Weltmacht Nummer eins.

Für die Bundesrepublik, die sich durch eine stark exportorientierte Industrie auf der einen und ein sozialpartnerschaftliches Bündnis von Kapital, Sozialdemokratie und großen Teilen der Gewerkschaften auf der anderen Seite auszeichne, müsse die Stabilisierung des inneren kapitalistischen Regimes durch die Gewährleistung äußerer Bedingungen - Märkte, Transitwege, Rohstoffe - gesichert werden, was gegebenenfalls auch die militärische Option einschließt. Die Führungsmacht in der Europäischen Union könne Deutschland dennoch nur im Bündnis mit den USA ausüben. Dabei spiele die NATO in den transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland eine noch wichtigere Rolle als früher, stehe sie doch als Garant für den Erhalt der Nordamerika und Westeuropa bestimmenden Gesellschaftsmodelle.

Laut Deppe sind die USA und Europa gegenwärtig mit der schwersten außenpolitischen Krise seit dem Fall des Eisernen Vorhangs konfrontiert. Die Handlungsfähigkeit der transatlantischen Allianz sei mit Blick auf die konfliktträchtige geopolitische Gemengelage von eminenter Bedeutung, was bis in die Tagespolitik und gesellschaftlichen Debatten hineinwirke. Das Memorandum "Neue Macht - Neue Verantwortung" hat nach Ansicht des Referenten auch eine Diskursverschiebung in der Öffentlichkeit angestoßen, wie die irritierende Entwicklung zeige, daß 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs wieder die Schuldfrage aufgeworfen und eine Revision der Geschichte ins Auge gefaßt werde.

Dies stehe durchaus im Zusammenhang mit aktuellen Krisenentwicklungen wie in der Ukraine. So hätten deutsche Journalisten die aus einem Putsch hervorgegangene Regierung in Kiew vorbehaltlos unterstützt und gleichzeitig eine konfrontative Haltung gegenüber Rußland eingenommen, was im Kreml wiederum als sich permanent steigernde Aggressivität wahrgenommen wurde. Politisch gesehen hätten die USA vielleicht ein stärkeres Interesse als die EU daran, die Ukraine an die EU bzw. NATO zu binden, um an der russisch-ukrainischen Grenze Front gegen den neuen Feind der westlichen Staatengemeinschaft zu machen.

Besonders aufgebracht zeigt sich Deppe über die Rolle, die einige Politikerinnen und Politiker der Grünen bei der Eskalation des Ukraine-Konflikts spielten. Da er selbst der 68er-Bewegung angehörte und seinerzeit viele Auseinandersetzungen mit Leuten aus dem linksradikalen revolutionären Spektrum führte, hat er diesem Punkt der Analyse in seinem Buch einen eigenen Abschnitt gewidmet. Nicht nur unter diesen habe es "furchtbare Wendehälse" gegeben, die schon den ersten Irakkrieg 1990 unterstützten. Auch in Frankreich seien mit dem Aufkommen der neuen Philosophen in den 70er Jahren einige ultralinke Kaderleute zu glühenden Anhängern des Neoliberalismus mutiert und hätten ihre Kanonen gegen links gerichtet. Viele Prominente, die die Seiten wechselten, stammten aus dem Großbürgertum. Deppe erinnert in diesem Kontext an seinen Lehrer Abendroth, der immer schon vor den "ultralinken Schwätzern" gewarnt habe, da die meisten von ihnen in eine ganz andere Richtung kippen würden.

Die Präsentation des Buches "Imperialer Realismus" beschloß sein Autor unter Verweis auf das Schlußkapitel. Darin habe er versucht, einige Grundsätze linker Außenpolitik vor dem Hintergrund seiner These von der beschriebenen Zäsur im strategischen Diskurs der Eliten in Staat und Gesellschaft zu formulieren. Es sei notwendig, aber auch extrem schwierig, sich als Linker zwischen Prinzipienfestigkeit und Flexibilität zu bewegen, um in der außenpolitischen Debatte eine angemessene Position zu entwickeln.

Spiegelfassade aus zwei Blickrichtungen - Fotos: © 2014 by Schattenblick Spiegelfassade aus zwei Blickrichtungen - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Irrlichternde Fassadenwirklichkeiten ... Neues Museum Nürnberg
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Den Herrschaftsdiskurs dechiffrieren ...

In den zweieinhalb Monaten nach diesem Vortrag haben sich die Gefahren der von Frank Deppe geschilderten Entwicklung auf breiter Ebene verschärft. Der Aufbau einer rechtspopulistischen Massenbasis im Rahmen der sogenannten PEGIDA-Bewegung ist in vollem Gange und erhält durch den Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo willkommene Nahrung. Die dazu geführte Debatte schließt den selbstkritischen Blick auf die Beteiligung westeuropäischer und nordamerikanischer Regierungen an dieser Gewalteskalation weitgehend aus und schürt statt dessen eine kulturalistisch begründete Angst vor dem Islam, die den Blick auf soziale Widerspruchslagen im Nahen und Mittleren Osten wie in den Wohlstandsinseln der EU weitgehend versperrt [3]. Die angeblich vom sogenannten islamistischen Terrorismus angegriffenen Freiheiten werden im gleichen Atemzug beschworen und aufgehoben [4]. Nicht nur in Frankreich wird die Einheit der Nation beschworen, um virulente Klassenantagonismen auszublenden und die Akzeptanz für das Führen neuer Kriege zu vergrößern.

Die gegen die Russische Föderation gerichtete Frontstellung wird ausgebaut, obwohl das deutsche Exportmodell innerhalb kurzer Fristen an der rezessiven Tendenz des Wirtschaftswachstums scheitern könnte. Auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel Ende November 2014 bekräftigte Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Aufrechterhaltung der Wirtschaftssanktionen gegen Kritik von Teilen des deutschen Industriekapitals mit dem Argument, Rußland habe "die Grundlagen sowohl unserer Sicherheit als auch unseres Wohlstands verletzt". Auch wenn dies "uns selbst wirtschaftliche Kosten" verursache, seien die "Kosten einer dauerhaft gefährdeten Ordnung in Europa" jedoch "sehr viel größer", weshalb die Sanktionen "auch im langfristigen Interesse der Wirtschaft" erfolgten. Steinmeiers Behauptung, es dürfe dabei nicht darum gehen, "Russland ökonomisch niederzuringen" [5], kann die gefährliche Logik eines mehr oder minder offen geführten Wirtschaftskrieges nicht widerlegen. Schäden in Kauf zu nehmen, um dem Konkurrenten mehr zu schaden, ist eine Strategie der kalkulierten Zerstörung und damit auch eine Vorstufe zur offenen militärischen Aggression.

Das "außenpolitische Engagement", mit dem der deutsche Außenminister die "Rezession der Globalisierung" eindämmen will, als "Konjunkturprogramm" [6] zu bezeichnen, bestätigt die von Deppe analysierte Bedingungskonstellation des deutschen Imperialismus. Dessen Stoßrichtung in einer ökonomisch begründeten Sachzwanglogik zu verankern, soll alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen, deren Erwerbseinkommen und Sozialleistungen an den wirtschaftlichen Erfolg der Nation geknüpft werden, in das zum Schlachtkreuzer ausgebaute Boot holen. Steinmeiers Verweis auf die Schrift des indischen Politikwissenschaftlers Kishore Mahbubani, der im Rahmen der vom Auswärtigen Amt initiierten Debatte "Review 2014 - Aussenpolitik weiter denken" unter dem Titel "Deutschlands Bestimmung: Europa führen, um die Welt zu führen" der imperialen Restauration deutscher Hegemonialplitik das Wort redet, belegt, daß die deutsche Sozialdemokratie ungebrochen in der Tradition der Kriegsbefürwortung vor hundert Jahren steht.

All das wird mit dem Anschein bester und friedlichster Absichten bemäntelt. Gerade deshalb ist es wichtig, den aggressiven Kern dieses einer widerwilligen Bevölkerung aufzuoktroyierenden Herrschaftsdiskurses herauszuarbeiten. Linke Literatur kann zu dessen Dechiffrierung einen wichtigen Beitrag leisten, und das um so mehr, als sie sich im Sinne besagter Prinzipienfestigkeit klar positioniert. Wohin es führt, den Imperativen der kapitalistischen Markt- und Arbeitsgesellschaft durch opportunistisches Manövrieren zu entsprechen, belegen die Karrieren zahlloser bereits rundgeschliffener Ex-Genossinnen und -Genossen.


Fußnoten:


[1] http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/projekt_papiere/DeutAussenSicherhpol_SWP_GMF_2013.pdf

[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/aussenpolitik-die-deutsche-dreieinigkeit-12953514.html

[3] KULTUR/0975: Selbstkritik Fehlanzeige (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0975.html

[4] KULTUR/0974: Meinungs- und Pressefreiheit wieder hoch im Kurs (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0974.html

[5] http://www.wsws.org/de/articles/2014/12/05/stein-d05.html

[6] http://www.sueddeutsche.de/politik/sz-gipfel-steinmeier-warnt-vor-schaerferen-sanktionen-gegen-russland-1.2241048

[7] http://www.review2014.de/de/aussensicht/show/article/deutschlands-bestimmung-europa-fuehren-um-die-welt-zu-fuehren.html
und https://www.wsws.org/de/articles/2014/06/19/stei-j19.html


Zur "19. Linken Literaturmesse in Nürnberg" sind im Pool
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unter dem kategorischen Titel "Linksliteraten" erschienen:

BERICHT/017: Linksliteraten - Aufgefächert, diskutiert und präsentiert ... (SB)
BERICHT/018: Linksliteraten - Sunnitische Ränke ... (SB)
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BERICHT/020: Linksliteraten - Marktferne Presse, engagiertes Buch ... (SB)
BERICHT/021: Linksliteraten - Widerspruchssymptom EU ... (1) (SB)
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BERICHT/023: Linksliteraten - Widerspruchssymptom EU ... (3) (SB)
BERICHT/024: Linksliteraten - Bannrecht, Kerker, Isolation (SB)

INTERVIEW/009: Linksliteraten - Ukraine und das unfreie Spiel der Kräfte ...    Reinhard Lauterbach im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/012: Linksliteraten - kapital- und umweltschadenfrei ...    Emil Bauer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/013: Linksliteraten - Der aufrechte Gang ...    Victor Grossman im Gespräch (SB)
INTERVIEW/014: Linksliteraten - Übersetzung, Brückenbau, linke Kulturen ...    Mario Pschera vom Dagyeli-Verlag im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/020: Linksliteraten - Das Primat des Kampfes ...    Detlef Hartmann im Gespräch (SB)

16. Januar 2015


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