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BERICHT/034: Links, links, links - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ... (SB)


Griechenland-Solidarität und die Gewerkschaftsfrage

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Solidarität mit Griechenland, genauer gesagt einer Bevölkerung, die unter dem Diktat aus Brüssel respektive Berlin drangsaliert und ihrer Lebensgrundlagen beraubt wird, ist in linken Gruppen, Netzwerken und Organisationen seit Jahren ein zentrales Thema. Die Parteinahme für die von Massenarmut, ökonomischem Niedergang und sozialer Verelendung eines Ausmaßes, das Aktivistinnen und Aktivisten früherer Jahre in den postkolonialistischen Staaten der sogenannten Dritten Welt verortet, niemals jedoch in Europa selbst vermutet hätten, stellt für Menschen linker Gesinnung eine Selbstverständlichkeit dar, und so waren denn auch auf der 20. Linken Literaturmesse in Nürnberg gleich vier der insgesamt 60 Einzelveranstaltungen Griechenland gewidmet.

Für die hiesige Linke in ihrer wenn auch eher uneinheitlichen Erscheinung, inneren Brüchigkeit und organisatorischen Schwäche scheint Solidarität mit Griechenland so etwas wie eine verbindende Klammer zu sein, soweit Einigkeit darüber vorherrscht, was von der Transformation des EU- und NATO-Staats in ein Protektorat der sogenannten Institutionen zu halten ist. Wird dann aber nach Schlußfolgerungen und praktischen Konsequenzen gefragt, erweist sich der klare linke Standpunkt schnell als gar nicht mehr so einhellig. Sollte die Syriza-Regierung, wenn auch zähneknirschend, als das sprichwörtliche "kleinere Übel" irgendwie doch noch akzeptiert oder müßte nicht vielmehr gegen den von ihr vollzogenen Bruch des Referendums Stellung bezogen werden, ist dabei nur eine der Fragen, mit der sich Aktivistinnen und Aktivisten der Griechenland-Solidarität immer wieder konfrontiert sehen.

In Griechenland selbst scheinen die Akzeptanzwerte Syrizas, aber auch führender Gewerkschaftsverbände in den Keller gerutscht zu sein. Ihr Politikkurs, nämlich ein Nein gegenüber dem Diktat aus Brüssel und Berlin vorzutäuschen, das mit der als Letztbegründung opportunistischer und wählertäuschender Winkelzüge aufgestellten Behauptung, es könne alles noch viel schlimmer kommen, ins Gegenteil verkehrt wurde, läßt kaum noch Spielräume offen für glaubwürdige Perspektiven auf einen Politikwechsel. In Athen konnte sich Alexis Tsipras Medienberichten zufolge nur noch unter starkem Personenschutz bei den Gedenkfeierlichkeiten zum 43. Jahrestag des von der Obristendiktatur niedergeschlagenen Studentenaufstands vom 17. November 1973 blicken lassen. [1]

Diese Entwicklung stellt auch die hiesige Solidaritätsbewegung vor zum Teil unbequeme Fragen. Wer ist eigentlich mit wem solidarisch? Und wie ist das Verhältnis zwischen Solidaritätsgebenden und -empfangenden, sprich den deutschen Aktions- und Unterstützungsgruppen einerseits und den sozialen Bewegungen, selbstorganisierten Strukturen wie auch den außer- wie innerparlamentarisch tätigen Parteien in Griechenland, so sie denn gegen die Austeritätspolitik der EU opponieren, andererseits beschaffen? Und was hat die griechische Seite ungeachtet auch ihrer Uneinheitlichkeit den Unterstützenden in Deutschland oder anderen EU-Staaten zu sagen?

Einen Anhaltspunkt dazu lieferte Peter Betscher vom Bundesverband Arbeiterfotografie [2] auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg am 31. Oktober in seinem Vortrag zum Thema "Griechenland im Würgegriff von EU, EZB und IWF". Ende September hatte er an einer einwöchigen, gewerkschaftlich organisierten Solidaritätsreise nach Athen teilgenommen. Viele Menschen in Griechenland, mit denen die Reisegruppe gesprochen hatte, hätten ihnen folgendes mit auf den Weg gegeben: Schafft uns die Merkel und den Schäuble vom Hals! Und immer wieder sei ihnen auch gesagt worden, daß es den Menschen in Griechenland am meisten helfen würde, wenn auch in Deutschland gegen den Abbau der von der Arbeiterbewegung erstrittenen Rechte gekämpft werden würde.


Proteste und Widerstand ab 2008

An den Anfang seines Referats hatte Peter Betscher ein Zitat von Katja Kipping und Bernd Riexinger, den Vorsitzenden der Partei Die Linke, vom 20. September 2015 gestellt, dem Tag der letzten Parlamentswahl in Griechenland. Darin gratulierten sie Syriza und Alexis Tsipras zum abermaligen Wahlerfolg und meinten, daß ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler Griechenlands nach wie vor überzeugt sei, daß eine linke Regierung in der Krise besser sei als eine Rückkehr zu den korrupten Altparteien. In Griechenland sähe das kaum jemand so, faßte der Referent seine auf der Reise gewonnenen Eindrücke zusammen, was auch für die 35,5 Prozent der Wahlberechtigten gelte, die Syriza gewählt hätten, weil sie in ihr das kleinere Übel vermuteten.

Auf der Basis des Vortrages eines Journalisten referierte Betscher zunächst über die Entwicklung des Widerstands in Griechenland ab 2008, dem Jahr der Finanzkrise. Als im Dezember 2008 der 15jährige Schüler Alexis Grigoropoulus durch die Polizei getötet wurde, löste dies einen Aufstand aus. Menschen in ungesicherten Arbeitsverhältnissen und Arbeitslose verloren den Glauben an Parteien, aber auch an die Gewerkschaften. Die "Unsichtbaren" wurden sichtbar. "Wir wollen anders leben und zwar jetzt", lautete die Parole. In dieser Zeit wurden die ersten selbstorganisierten Strukturen geschaffen, die in den folgenden, von der Umsetzung harter Sparmaßnahmen und gewaltsamer Privatisierungen, aber auch großen Generalstreiks und vielfältigen Aktionen geprägten Krisenjahren weiter aufgebaut wurden.

Im Sommer 2011 konnte von einer "Bewegung der Plätze" gesprochen werden angesichts massiver Demonstrationen in den großen Städten, Bürgerbewegungen wie "Ich zahle nicht" und permanenten Protestlagern wie auf dem Syntagmaplatz in Athen. 2012 war ein leichter Rückgang solch großer Protestaktionen zu verzeichnen, während dezentrale Aktionen zunahmen. Es entstanden umfangreiche selbstorganisierte soziale Strukturen, die von Kliniken bis zu Lebensmittelgeschäften reichten und allen Menschen, die ihr tägliches Leben nicht mehr finanzieren konnten, unterstützen sollten. Zugleich kam es in dieser Zeit zu langanhaltenden Arbeitskämpfen wie zum Beispiel dem weit über die Landesgrenzen hinaus bekanntgewordenen Streik der Putzfrauen im griechischen Finanzministerium.

Im Juni 2012 wurde Syriza zweitstärkste Partei durch einen Stimmenanstieg auf 26,9 Prozent statt zuvor 3,5 Prozent, im Januar 2015 wurde sie mit 36,3 Prozent Wahlsiegerin. Wirklich einschneidend sei jedoch das Memorandum vom 5. Juli gewesen, bei dem das griechische Volk mit klarer Mehrheit (62 Prozent) Nein sagte zur Austeritätspolitik der EU ungeachtet der erpresserischen Maßnahmen der EZB, die Liquidität der griechischen Banken zu begrenzen, weshalb die Abhebungen an den Geldautomaten limitiert werden mußten. In Griechenland werde gemunkelt, so Betscher, daß Tsipras und seine Parteikollegen über den Ausgang des Referendums gar nicht so glücklich gewesen wären. Noch in derselben Nacht habe sich der Ministerpräsident mit den Führern der alten Parteien Nea Dimokratia und PASOK getroffen und, wenn auch inoffiziell, mit ihnen so etwas wie eine Regierung der nationalen Einheit gebildet.

Die eigentliche Kapitulationserklärung, so die Formulierung von Varoufakis, erfolgte dann am 13. Juli mit der Vereinbarung des Euro-Gipfels zur Fortsetzung des Austeritätsprogramms. Drei Tage später wurde der erste Teil der sogenannten Reform-Auflagen vom griechischen Parlament gebilligt, am 22. Juli folgte der zweite Teil. Um die fast tausend Seiten dieser Gesetzesvorlage zu lesen, hätten die Abgeordneten nur 48 Stunden Zeit gehabt. Der per Referendum eruierte Volkswillen gegen das Spardiktat aus Brüssel wurde durch die Beschlüsse des Eurogipfels und des griechischen Parlaments, so Betscher, definitiv ad absurdum geführt.


Was von Gesundheitsversorgung und Bildung noch übrig ist ...

Daß die Demokratie in Griechenland "Pause" macht, ist kaum zu bestreiten. Die inzwischen im Amt bestätigte Regierung Tsipras hat mit dem dritten Memorandum jeden Handlungsspielraum eingebüßt. Auf dem Rücken und zu Lasten der griechischen Bevölkerung wird ein Zukunftsmodell Europa vorexerziert, über dessen katastrophale soziale Folgen in kritischen Medien bereits relativ viel berichtet wurde. Peter Betscher schilderte, was der Reisegruppe im September in Athen von Angehörigen der im Gesundheitsbereich tätigen Gewerkschaften berichtet wurde. Ein neues griechisches Sprichwort laute sinngemäß, daß du deinen Job und dein Haus verlieren, aber nicht krank werden kannst.

Zwei Millionen Griechinnen und Griechen - fast 20 Prozent der Bevölkerung - sind nicht krankenversichert. Im Zuge der Memorandumspolitik wurden 60 Prozent des Etats für die Gesundheitsversorgung gestrichen. Für 2015 seien jedoch erst 22 Prozent der gekürzten Mittel ausgezahlt worden, weshalb die Krankenhäuser rund eine Million Euro Schulden bei den Zulieferern hätten und deshalb teilweise nicht mehr beliefert werden. In den letzten fünf Jahren gab es im Gesundheitswesen keine Neueinstellungen mehr, über 5000 Kollegen sind ausgeschieden. Der Personalstand läge unterhalb der Sicherheitsgrenze. Die medizinische Unterversorgung verursache ca. 2500 Todesfälle im Jahr, wobei zu bedenken sei, daß diese Zahlen dem Stand des zweiten und noch nicht des dritten Memorandums entsprächen. Zu den Folgen dieses Notstands gehöre auch, daß es 400.000 ungeimpfte Kinder gäbe, früher lag diese Zahl bei null.

Im Bildungsbereich habe sich dieselbe Lage gezeigt. Vertreter der Lehrergewerkschaft hätten auch hier gegenüber der Reisegruppe aus Deutschland die Folgen der Unterfinanzierung beschrieben. In Griechenland werden derzeit 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgegeben. Zum Vergleich: 8 Prozent des BIP werden, was historische Gründe habe, für das Militär aufgewendet, doch am hohen Militärhaushalt wird ungeachtet der Krise und vielfacher Kritik nicht gespart. Im Bildungsbereich gäbe es 20.000 unbesetzte Stellen, was 20 Prozent aller Lehrkräfte entspricht. Das Einstiegsgehalt von Lehrerinnen und Lehrern sei von früher 1050 Euro auf 600 Euro gesunken. In ländlichen Regionen wurden bereits viele Schulen geschlossen oder zusammengelegt; trotz Schulpflicht können längst nicht mehr alle Kinder zur Schule gehen.


Zu Gast bei Basisgewerkschaften ...

An der Spitze des dreigliedrigen Gewerkschaftssystems Griechenlands, so erläuterte der Referent, stünden die in Gewerkschaften für Privatunternehmen und Staatsbetriebe aufgeteilten Dachverbände. Danach kämen die Zusammenschlüsse der jeweiligen Basis- und Branchengewerkschaften und schließlich, an unterster Stelle, die Basisgewerkschaften selbst. Viele von ihnen seien unglaublich radikal, doch an der Gewerkschaftsspitze werde so gut wie nichts getan. Durch die Krise seien die Gewerkschaften selbst auch in eine Krise geraten und hätten bereits viele Mitglieder, die ihre Beiträge nicht mehr bezahlen können, verloren. Ein schwerer Schlag sei natürlich auch die von der Troika geforderte Aufkündigung des Tarifrechts.

Inzwischen sei es so, wie Angehörige der Basisgewerkschaften berichtet hätten, daß der Staat den Mindestlohn festsetze. Derzeit läge er bei 568 Euro, für junge Leute unter 25 Jahren sei er sogar noch niedriger - und das bei Lebenshaltungskosten, die annähernd so hoch sind wie in Deutschland. Basisgewerkschaftsaktivisten und -aktivistinnen engagierten sich gegen Sonntagsarbeit, zu spät oder gar nicht ausgezahlte Löhne im informellen Gastgewerbe und bemühten sich um die Wiedereinstellung Entlassener. Nicht selten käme es zu Angriffen von Schlägertrupps.


... und in Arbeiterzentren

Arbeiterzentren sind in den Stadtteilen durch das Engagement von Freiwilligen entstanden, um den finanziell abgeschnittenen Menschen das tägliche Überleben zu erleichtern. In einem Vorort von Athen konnten die deutschen Solidaritätsreisenden ein solches Arbeiterzentrum besuchen. Hier war früher eine der größten Schiffsbauindustrien der Welt beheimatet, doch seit der Pleite der griechischen Werftindustrie gibt es nur noch einen einzigen Containerhafen. Bis 2008 waren rund 10.000 Menschen direkt im Schiffbau beschäftigt, inzwischen sind es nur noch 500 auf Abruf. Früher gab es insgesamt 25.000 Arbeitsplätze, heute sind die Menschen in diesem Stadtteil zu 95 Prozent arbeitslos.

Die sozialen Zentren in betroffenen Stadtteilen sind Beispiele dafür, wie in Griechenland durch praktische Selbsthilfe versucht wird, der Erpressung des ganzen Landes entgegenzutreten, und zwar ganz konkret. So hätten sich zum Beispiel Trupps gebildet, die Familien, denen wegen ihrer Zahlungsunfähigkeit der Strom abgestellt wurde, wieder ans Netz anschließen. Natürlich kämen dann auch wieder die Leute der Elektrizitätsfirma und stellten den Strom wieder ab, doch dann werde er eben auch wieder angestellt, und so gehe es dann hin und her. Es werde auch gegen die drohenden Zwangsversteigerungen von Häusern gekämpft, deren Besitzerinnen oder Besitzer die fälligen Raten nicht mehr bezahlen können.


Zwangsräumungen und Massenentlassungen

In Griechenland ist es traditionell so, daß sich eigentlich alle Menschen eigenes Wohneigentum anschaffen. Viele seien durch die Krise aber in eine Situation gekommen, in der sie die Raten für ihre Wohnungen nicht mehr abbezahlen können. Bislang boten griechische Gerichte noch einen gewissen Pfändungsschutz auf der Basis gesetzlicher Schutzbestimmungen gegen die Zwangsräumung von Erstwohnungen. Nach Einschätzung des Referenten werde sich dies - wie inzwischen geschehen - mit der Umsetzung des dritten Memorandums ändern. Im Eilverfahren wurde ein Gesetz durch das griechische Parlament gebracht, das für die Banken den Weg freimacht für die Zwangsenteignung verschuldeter Haus- und Wohnungseigentümer, nur das ärmste Viertel solle davon ausgenommen bleiben.

Das dritte Memorandum sieht weitere Verschärfungen vor. Die Mehrwertsteuer für verpackte Lebensmittel und andere Massenkonsumartikel soll um 10 auf 23 Prozent erhöht werden. Steuererleichterungen für Bauern werden gestrichen, obwohl die Landwirtschaft des Landes schon lange nicht mehr konkurrenzfähig ist und 85 Prozent der Nahrungsmittel aus dem Ausland importiert werden müssen. Das Renteneintrittsalter wurde erst vor kurzem auf 67 Jahre heraufgesetzt, zugleich entfielen die Zuschüsse an Rentner und Rentnerinnen mit geringem Einkommen, wovon nicht nur ältere Menschen, sondern auch arbeitslose Verwandte und ganze Familien betroffen sind, die bislang, wenn auch mehr schlecht als recht, von den kümmerlichen Renten mitgelebt haben.


Ein Protektorat der Europäischen Union

Der Referent thematisierte auch die Griechenland mit dem dritten Memorandum aufgezwungenen Bedingungen, mit deren Umsetzung zum Zeitpunkt der Reise noch gar nicht begonnen worden war. Er bezeichnete Griechenland als ein Protektorat der EU, weil das Land die Kontrolle über die eigene Gesetzgebung vollständig an die EU abgeben muß. Die nun Institutionen genannte Troika hätte die Kontrolle über die Berechnungsgrundlagen des griechischen Haushalts komplett übernommen und es sich vorbehalten, weitere Kürzungsmaßnahmen im Haushalt anzuordnen. Sämtliche Gesetzentwürfe der griechischen Regierung müßten, bevor sie verabschiedet werden können, der Troika vorgelegt werden.

Sogar bereits beschlossene Gesetze können rückwirkend in ihrem Sinne korrigiert werden, was nichts anderes bedeutet, als daß die Syriza-Regierung gezwungen werden kann, die wenigen Schritte, die sie unternommen hat, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung ein klein wenig erträglicher zu gestalten, wieder rückgängig zu machen. Das dritte Memorandum beinhaltet auch, daß die Steuern weiter erhöht und die Renten gekürzt werden müssen. Angesichts dieser Lage zu behaupten, die griechische Regierung hätte einen wie auch immer gearteten Handlungsspielraum, sei pure Augenwischerei, so Betscher.

Der griechischen Regierung wurde von der EU auferlegt, im laufenden Jahr einen Primärüberschuß von einem Prozent zu erwirtschaften, 2016 von zwei und 2018 schließlich von 3,5 Prozent, gekoppelt an ein System, das bei finanziellen Abweichungen automatisch zu weiteren Kürzungen der Renten und Sozialausgaben führen soll. Festgelegt wurde auch die Schaffung einer "Treuhand", einem (angeblich) unabhängigen Fonds, der den Ausverkauf öffentlichen Eigentums abwickelt und die staatlichen Vermögenswerte monetarisiert, damit 50 Milliarden Euro zur Abbezahlung der Kredite zusammenkämen.

Die Regierung in Athen wurde zu Zwangsprivatisierungen verpflichtet, wobei es nicht nur um den Verkauf griechischer Flughäfen an die deutsche Gesellschaft Fraport, sondern auch um die Privatisierung von Stromnetzwerkbetreibern, Gaswerken, Eisenbahnnetzwerken und Instandhaltungsbetrieben gehe. Dies sei noch immer keine vollständige Auflistung aller im dritten Memorandum festgelegten Maßnahmen, die der Referent mit dem Satz zusammenfaßte: Hier wird ein Land vollkommen ausgeblutet und seine Bevölkerung vollständig ihrer Lebensgrundlagen beraubt.


Widerstand? Widerstand!

In Anlehnung an Werner Rügemer [3] löste Betscher den Blick von Griechenland, um klarzustellen, daß alle großen Industriestaaten so stark verschuldet sind, daß bei keinem die Aussicht bestünde, sie eines Tages regulär zurückzahlen zu können. Nach der Bankenrettung seien die Finanzmechanismen, die zur Krise geführt hätten, genauso fortgesetzt worden. Dieses System setze in Griechenland voraus, daß die Beschäftigten, die Steuerzahlenden, die Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen für die Schuldentilgung aufkämen und dadurch immer weiter verarmten. Auch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur und die Aushöhlung des Sozial- und Rechtsstaats gehörten zu den unverhandelbaren Bedingungen, die der griechische Staat nach dem dritten Memorandum zu erfüllen habe.

Diese tödliche Logik liege dem Euro insgesamt zugrunde. Sie müsse durchbrochen werden, weshalb Widerstand begründet, notwendig und legitim sei. Viele Gewerkschaften hätten 2008 nach der Finanzkrise als Parole ausgegeben, "wir zahlen nicht für eure Krise", aber schon ein halbes Jahr später nichts mehr davon wissen wollen. Wir sind auch nicht ganz unschuldig an der Misere in Griechenland, weil es nicht gelungen ist, die Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeitswelt aufzuhalten, so der Referent. In Deutschland seien die Proteste gegen die Austeritätspolitik der EU in Griechenland und anderswo bis heute relativ schwach entwickelt. Generalstreiks, wie es sie in Griechenland schon häufig gegeben habe, seien hierzulande nur sehr schwer vorstellbar, was daran läge, daß Teile der Gewerkschaften an ihrem Kurs der Klientelpolitik und Sozialpartnerschaft festhielten, auch wenn sie sich dadurch mehr und mehr ins Abseits manövrierten und Gefahr liefen, Mitglieder zu verlieren.

Der Referent zog das Fazit, daß es neben der praktischen Solidaritätsarbeit, in Griechenland die allergrößte Not zu lindern, wichtig sei, die Zersplitterung der Arbeitnehmerschaft in Stammbelegschaft, Leiharbeitende, Geringbeschäftigte, Scheinselbständige etc. zu überwinden. Die griechische Tragödie müsse hierzulande klargemacht und den Menschen die Illusion eines wirtschaftlich starken Deutschlands und unrentabler südeuropäischer Länder genommen werden, weil die Scheußlichkeiten, die derzeit in Griechenland verübt werden, mit Sicherheit auch auf uns zurückschlügen. Der Blick auf den eigenen Standort im Glauben an die Sozialpartnerschaft sollte zugunsten der Solidarität mit den Kollegen in Griechenland, Bulgarien oder wo auch immer zurückgedreht werden.


Fußnoten:

[1] http://www.heise.de/tp/artikel/46/46598/1.html

[2] Siehe das Interview mit Peter Betscher im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:
INTERVIEW/030: Links, links, links - vom fernen Verwandten ...    Peter Betscher im Gespräch (SB)

[3] Griechen aller Länder, vereinigt euch! von Werner Rügemer, junge Welt, 24.2.2010


Berichte und Interviews zur 20. Linken Literaturmesse im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/030: Links, links, links - Getrennt publizieren, gemeinsam agieren ... (SB)
BERICHT/031: Links, links, links - in jedem Falle unbestechlich ... (1) (SB)
BERICHT/032: Links, links, links - in jedem Falle unbestechlich ... (2) (SB)
BERICHT/033: Links, links, links - in jedem Falle unbestechlich ... (3) (SB)
INTERVIEW/027: Links, links, links - strukturell faschistoid ...    Wolf Wetzel im Gespräch (SB)
INTERVIEW/028: Links, links, links - Neue Pläne ...    Susann Witt-Stahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/029: Links, links, links - Familiendämmerung ...    Gisela Notz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/030: Links, links, links - vom fernen Verwandten ...    Peter Betscher im Gespräch (SB)

Zur 19. Linken Literaturmesse 2014 siehe unter dem Sammeltitel "Linksliteraten" im Schattenblick unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/ip_d-brille_report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/ip_d-brille_report_interview.shtml

29. November 2015


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