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BERICHT/040: Jetzt schreiben, wofür? - Rolf Becker liest Georg Weerth (SB)


Rolf Becker liest aus dem Nachlaß von Georg Weerth im Polittbüro in Hamburg am 18. Februar 2016

Wenn die Weltgeschichte den Leuten die Hälse bricht, da ist die Feder überflüssig
(Georg Weerth an Heinrich Heine, 10. Juni 1851)


Viele der Gekommenen wurden persönlich begrüßt, einige mit Handschlag, andere per Umarmung. Eher schien der Abend des 18. Februar 2016 im Polittbüro am Hamburger Steindamm ein Treffen unter Freunden zu sein als eine öffentliche Lesung. Was kein Wunder wäre, ereignete sich das Ganze doch in Rolf Beckers eigenem Quartier, St. Georg, im Herzen der Hansestadt, wo er seit 45 Jahren zuhause ist und wo sich die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, längst durch die Faktizität beantwortet hat.

Becker, der seit fast 60 Jahren auf deutschen Bühnen, in Film und Fernsehen unterwegs ist und nicht müde wird, sich auch politisch weltweit zu engagieren, las an diesem Abend unter dem bewußt doppeldeutigen Titel "Du kamst zur Welt und fandest keine Blüten" Gedichte und Prosa aus dem Werk von Georg Weerth, jenem deutschen Dichter des Vormärz, den Engels als den "ersten und bedeutendsten proletarischen Dichter Deutschlands" bezeichnete und der doch lange unbekannt blieb, bis ihn nach dem zweiten Weltkrieg zunächst die Literaturwissenschaft der DDR wiederentdeckte, später dann auch die bundesrepublikanische in seiner Lyrik "die innovative Verbindung von politischer Radikalität und volksliedhaftem Stil" erkannte. [1]


Eingang zum Polittbüro am Abend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Das Polittbüro in Hamburg
Foto: © 2016 by Schattenblick

Georg Weerth wird 1822 als Sohn eines Superintendenten in Detmold geboren. Mit 14 beginnt er eine kaufmännische Lehre, aus dieser Zeit datieren auch erste Gedichte, die sich, ganz altersgemäß, zunächst um die Liebe und die möglichen Ausschweifungen des Lebens drehen. Schon früh allerdings ist darin auch sein poetischer Protest abzulesen, so Becker, seine Auflehnung gegen die christliche Prüderie wie gegen eine spießbürgerliche proletarische Moral.

Wie die Natur in ihrer ew'gen Schöne
in ew'ger Nackheit schimmert nur allein
so mögen ihre Töchter auch und Söhne
nicht fürchten, sinnlich, wie sie sind, zu sein.

Nach der Lehrzeit wird Weerth Buchhalter in Köln, wenig später geht er nach Bonn. Aber eigentlich zieht es ihn hinaus in die Welt. 1843 fährt er als Handelskorrespondent nach England. Dort durchstreift er, dem schon früh ein soziales Gewissen erwacht, zusammen mit Friedrich Engels die Elendsquartiere in den englischen Industriezentren, lernt Robert Owen, den Führer der Chartisten, kennen, studiert Ludwig Feuerbach und beteiligt sich an der Herausgabe frühsozialistischer Schriften zur politischen Ökonomie. Ab Herbst 1844 befaßt er sich auch in seinen Gedichten und Prosatexten ausschließlich mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen. Über die unvorstellbaren Lebensverhältnisse der englischen Arbeiter schreibt er in Skizzen und Briefen an seine Mutter: "Manchester liegt einem wie Blei auf dem Kopfe; in Birmingham ist es nicht anders, als säße man mit der Nase in einer Ofenröhre; in Leeds muß man vor Staub und Gestank husten [...]! In Bradford glaubt man aber nirgendsonstwo als beim leibhaftigen Teufel eingekehrt zu sein." [2] und "White-Abbey. Ein Zimmer, 4 Fuß unter der Erde. In diesem Loch schlafen in einem Bett, das aus Abfall gemacht ist, 1 Mann, 1 Frau und 4 Kinder, alle krank." [3]


Porträt Rolf Becker - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker beim Lesen Weerthscher Gedichte
Foto: © 2016 by Schattenblick

Unter dem Titel Handwerkslieder und Lieder aus Lancashire entstehen eine Fülle sozialkritischer Gedichte, in denen Weerth die durch die industrielle Produktion bedingte miserable Lage der englischen Arbeiterklasse beschreibt und anprangert.

Verehrter Herr und König,
Weißt du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
Und am Dienstag aßen wir nicht.

Und am Mittwoch mußten wir darben,
Und am Donnerstag litten wir Not;
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod!

Drum laß am Samstag backen
Das Brot, fein säuberlich -
Sonst werden wir sonntags packen
Und fressen, o König, dich!

Die meisten Gedichte sind schlicht, kurz und eingängig, "politisierte und poetisierte Variationen einfacher lyrischer Formen" [4], enthalten bisweilen auch Anklänge an bereits bekannte Werke anderer Autoren, wie etwa das Weberlied von Heinrich Heine, mit dem Weerth eine intensive Freundschaft verbindet. Mit der ganzen Bandbreite der Vorlesekunst und dennoch ohne jede Theatralik bringt Rolf Becker eine Reihe davon zu Gehör, und läßt sie dadurch um so stärker wirken.

Es war ein armer Schneider,
Der nähte sich krumm und dumm;
Er nähte dreißig Jahre lang
Und wußte nicht warum.

Und als am Samstag wieder
Eine Woche war herum:
Da fing er wohl zu weinen an
Und wußte nicht warum.

Und nahm die blanken Nadeln
Und nahm die Schere krumm -
Zerbrach so Scher und Nadel
Und wußte nicht warum.

Und schlang viel starke Fäden
Um seinen Hals herum -
Und hat am Balken sich erhängt
Und wußte nicht warum.

Er wußte nicht - es tönte
Der Abendglocken Gesumm.
Der Schneider starb um halber acht,
Und niemand weiß warum.

Internationale Beachtung wird Georg Weerth, inzwischen Mitglied des Bundes der Kommunisten, 1847 auf dem Brüsseler Freihandelskongress zuteil, als er in seiner Rede für die Arbeiter Partei ergreift. Der Freihandel, so Weerth, beschere den Arbeitern durch verschärfte Konkurrenz der Unternehmen zwar kurzfristig mehr Lohn und Arbeit und niedrige Preise, stürze sie aber langfristig durch den internationalen Zusammenschluß der Unternehmer noch stärker ins Elend. Darum müsse, wer den Arbeitern helfen wolle, an mehr denken als den Freihandel. Denn: "Die Arbeiter sind satt der Versprechungen ohne Erfüllung; sie wollen nichts mehr wissen von den nimmer bezahlten Anweisungen auf den Himmel."


Rolf Becker stehend beim Vortrag am Mikrofon - Foto: © 2016 by Schattenblick

Becker alias Weerth vor dem Freihandelskongress
Foto: © 2016 by Schattenblick

Den Bezug zur aktuellen Diskussion um TTIP und CETA durch ein Zitat von Willi Wimmer aus dem Jahre 2014 aus einem Interview mit der Jungen Welt hätte Becker so explizit gar nicht ausführen müssen - er drängte sich den Zuhörenden beim Vortrag dieser Rede von selbst auf.

1848 ist Georg Weerth mit Marx und Engels bei Gründung der Neuen Rheinischen Zeitung dabei, deren Auslandsredakteur und Feuilletonleiter er wird. Dort veröffentlicht er auch eigene Prosatexte und Romanfragmente, von denen etwa ein Drittel aus politischen Gründen zunächst unveröffentlicht blieb. Aus "Fragmente eines Romans", "Humoristische Skizzen aus einem deutschen Handelsleben", "Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten", aus "Fragment einer Warnung vor der Neuen Rheinischen Zeitung" sowie aus dem Roman "Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski" liest Rolf Becker Ausschnitte. Darin karikiert Weerth den Fabrikanten Preiß ebenso wie sein jeweiliges Gegenüber, sei es der neue Lehrling, sein Buchhalter Lenz oder der Baron d'Eyncourt, die er mit Mimik, Gestik und Modulation der Stimmlage so lebendig werden läßt, als hätten sie dort wahrhaftig auf jenem leeren Stuhl in der Mitte der Bühne Becker gegenüber am Tisch gesessen. Des Fabrikanten Sohn August - autobiographische Anklänge sind unüberhörbar - wird nach Erfahrungen in England zu einem glühenden Sozialisten. Am Ende führt sich Preiß als Opfer der 48er Revolution selbst vor. In jeder Lebenslage vor allen Dingen profitorientiert, verschreibt er sich der Produktion von Schrapnells, dient sich dazu mit Erfolg den Regierenden an. Auch hier drängen sich aktuelle Bezüge geradezu auf.


Rolf Becker mit unternehmerischer Gestik am Tisch sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker gibt den Fabrikanten Preiß
Foto: © 2016 by Schattenblick

Daß bei allem Ernst der geschilderten Zustände das Vorgelesene von manchem Zuhörer im fast voll besetzten Saal sehr unterhaltsam aufgenommen und mit Lachen quittiert wird, spiegelt jene Widerspruchslage, mit der sich jede kulturell verarbeitete und auf die Bühne vor ein auf Zerstreuung gerichtetes Publikum gebrachte Variation der Wirklichkeit konfrontiert sieht.

Nach gescheiterter 48er Revolution, dem Verbot der Neuen Rheinischen Zeitung und einer dreimonatigen Gefängnisstrafe wegen angeblicher Verleumdung des Fürsten Ernst Lichnowski durch seinen Roman "Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski" wendet sich Weerth vom Politischen wie vom Literarischen gänzlich ab und konzentriert sich fortan aufs Kaufmännische. In Westindien errichtet er eine eigene Handelsagentur. Er, der sich selbst einen Lumpenkommunisten nannte, kann jener Unerträglichkeit entfliehen, die für die, für die er Partei ergriff, alternativlos bleibt.

Dürftige Witze, schlechte Späße reißen, um den vaterländischen Fratzen ein blödes Lächeln abzugewinnen, wahrhaftig, ich kenne nichts Erbärmlicheres. Ich muß gestehen, die letzten drei Jahre für nichts und wieder nichts verloren zu haben. Aber: wir haben uns nicht kompromittiert. Das ist das Wichtigste. [5]

Am 30. Juli 1856 stirbt Georg Weerth erst 34jährig in Havanna an Gelbfieber, auf "jenem Feld", schreibt er fast visionär an Marx, "auf welchem die großen Konflikte der neuen Welt zunächst ausgefochten werden". [6] 100 Jahre später wird von dort die Kubanische Revolution ausgehen.

Die Intensität, mit der Rolf Becker an diesem Abend den Texten und dem wenngleich befristeten literarischen und politischen Anliegen Weerths zu neuer Aufmerksamkeit verhalf, zeugte von großem Respekt auch vor der Weitsicht dieses marxistischen Literaten, machte aber auch immer wieder die eigene Kritik an den herrschenden Verhältnissen deutlich spürbar und wurde vom Publikum mit solidarischem Beifall belohnt.

Dabei hatte Weerth selbst "seiner Lyrik keinen besonderen Stellenwert beigemessen, sie war ihm nach der Erinnerung von F. ENGELS, 'einmal hingeschrieben, total gleichgültig'" und weder Ersatz noch Agitation fürs politische Handeln [7]. Die bleibende Aktualität seiner Gedichte und Prosa mehr als 150 Jahre später speist sich vor allem aus der Tatsache, daß der Konflikt zwischen Arm und Reich, zwischen Starken und Schwachen an Brisanz nichts verloren hat, vor allem aber der Kampf nicht ausgefochten ist.


Anmerkungen:

[1] Kindlers Neues Literatur Lexikon, Hrsg. Walter Jens, München 1992, S. 477
[2] Georg Weerth, Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten, in: Georg Weerth, Sämtliche Werke, Hrsg. Bruno Kaiser, Aufbau-Verlag Berlin, 1957, Bd. 3, S. 165
[3] Georg Weerth: Der Gesundheitszustand der Arbeiter in Bradford, Yorkshire, England, in: Georg Weerth, Sämtliche Werke, a.a.O., S.226-228
[4] Kindlers Neues Literatur Lexikon, a.a.O., S. 476
[5] Brief an Karl Marx vom 28. April 1851
[6] Brief an Karl Marx vom 1. April 1855
[7] Kindlers Neues Literatur Lexikon, a.a.O., S. 477


Ein Interview mit Rolf Becker zu dieser Lesung finden Sie im Schattenblick unter:
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INTERVIEW/047: Jetzt schreiben, wofür? - alte, neue und offene Fragen ... Rolf Becker im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0047.html


28. Februar 2016


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