Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


BERICHT/051: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Kunst befreit die Wirklichkeit ... (2) (SB)


Entfremdung und Gegenentwurf

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte


Innerhalb des warenproduzierenden Kapitalismus zu überleben und die eigene Arbeitskraft zu Bedingungen verkaufen zu müssen, die man sich nicht aussuchen kann und vielleicht sogar aus prinzipiellen Gründen ablehnt, kann den Menschen von seinen ureigensten Interessen entfremden. Da die gesellschaftliche Notwendigkeit fortwährender Verwertung gegenüber ihrem Inhalt insofern gleichgültig ist, als der immanente Zweck, aus Geld mehr Geld zu erzeugen, erfüllt wird, ist die Sinnhaftigkeit des individuellen Lebenserwerbs so relativ wie der ihm zugrundeliegende Zwang, als nicht durch Grund- oder Geldbesitz privilegierter Mensch seine Haut zu Markte tragen zu müssen, absolut.

Wo grundstürzende Konsequenzen gemieden werden, macht es wenig Sinn, sich gegenseitig die Misere des eigenen Erwerbslebens vorzuhalten. Was bleibt, ist die wachsende Bereitschaft, mögliche Konkurrenten im Kampf um die verfügbare Erwerbsarbeit mit rassistischer und sozialchauvinistischer Hetze aus dem Feld zu schlagen. Sie ist nicht zuletzt der mangelnden Bereitschaft geschuldet, den zwischen Arbeit und Kapital ausgespannten Zwangsverhältnissen auf den Grund zu gehen. Die grundsätzliche Entfremdung vom Anspruch auf selbstbestimmte Arbeit kann aber auch entlastend wirken. So können sich Lohnabhängige, die Tätigkeiten verrichten, die ihnen im Grunde genommen zuwider sind oder deren Zweck sie nicht gutheißen, dem abstrakten Charakter des Geldes, mit dem ihre Arbeit bezahlt wird, überantworten. Was immer sie an Lohnarbeit verrichten, muß keinen über den den Erhalt ihres Lebens hinausgehenden Sinn machen und ist insofern beliebig.

Daß es den meisten Menschen dennoch nicht gleichgültig ist, auf welche Art und Weise sie ihre Zeit und Kraft verkaufen, ist ein wesentlicher Grund für den immensen Bedarf an Unterhaltung und Zerstreuung, den Kulturindustrie und Kunstbetrieb befriedigen. Funktioniert die Herstellung dieses Angebots im Mainstream der Unterhaltungsindustrie, Kreativwirtschaft und Eventveranstalter nicht viel anders als in anderen Bereichen der Warenproduktion, so kann in den avancierten Bereichen des Kulturbetriebes durchaus zum Thema werden, daß das subjektive Interesse der Produzentinnen und Produzenten mit dem objektiven Zweck ihrer Arbeit, der Befriedung in sich widersprüchlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, nicht in eins fällt. Drängt die Entfremdung, der Arbeiterinnen und Arbeiter bei der industriellen Fertigung von Gebrauchsartikeln so selbstverständlich ausgesetzt sind, daß sie kaum mehr in Frage gestellt wird, an die Oberfläche ihrer kulturellen Reflexion, dann können sich die häufig prekär lebenden Künstlerinnen und Künstler kaum der Frage entziehen, wie es um das eigene Leben in der kapitalistischen Gesellschaft bestellt ist.


Runde der Teilnehmerinnen und Teilnehmer - Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Diskurs mit Bernd Stegemann
Foto: © 2016 by Schattenblick


Kunst und Literatur als gesellschaftliches Lehen oder Hort des Widerstands?

Daraus hat sich, wie Bernd Stegemann in seinem Vortrag im Brecht-Haus ausführte, eine spezifische Form der Künstlerkritik entwickelt, in der die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Vergesellschaftung unter dem Begriff der Entfremdung kritisch diskutiert wird. In der Postmoderne habe sich allerdings die Tendenz durchgesetzt, Entfremdung nicht als Folge ökonomischer Verhältnisse, sondern als individuelles Problem zu behandeln. Wo nicht mehr von Ausbeutung und ihrer Überwindung die Rede ist, wo konkrete Gewaltverhältnisse der Unübersichtlichkeit multipler subjektloser Machtdispositive weichen, da bleibt eine herrschaftskritische Künstlerkritik auf der Strecke der bürgerlichen Sehnsucht nach einer Selbstverwirklichung, der gegenüber die Produktionsverhältnisse vor allem als Einschränkung des eigenen Gefühlslebens wahrgenommen werden.

Verschwindet der gesellschaftliche Antagonismus hinter dem Horizont individueller Befindlichkeiten, stehen einer neoliberalen Ideologie, die die Entfesselung des Marktes als Heilsbotschaft predigt, so daß die Entwicklung unternehmerischer Energien als Form individueller Befreiung und Sinnstiftung erlebt werden kann, Tür und Tor offen. Das Unbehagen an einer Kultur, die alles zur geldwerten Ware macht und den Menschen dazu nötigt, sich nicht über seine Bedürfnisse und Wünsche, seine Hoffnungen und Träume, sondern über Preis und Leistung zu definieren, wird in die Entwicklung der Produktivkräfte eingespeist, was sich auch auf die dabei entstehende Kunst und Literatur auswirkt.

Für Stegemann hat die Vereinnahmung der Künstlerkritik durch den postmodernen Kapitalismus insbesondere die Bedeutung avantgardistischer Kunst als Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung geschwächt. Das dort besonders geschätzte Streben nach individueller Autonomie, Selbstverwirklichung und Kreativität, das sich ursprünglich gegen herrschaftliche Machtausübung und soziale Kontrolle positionierte, kann mit liberalen Ideen unternehmerischer Freiheit und marktförmiger Tauschprozesse durchaus konform gehen, so lange nicht die Eigentumsfrage gestellt wird. Eine Gesellschaft, die das Kontingente feiert und den Anarchismus des Marktes über Wert und Wahrheit entscheiden läßt, so Stegemann, kann sich mit kritischer Kunst durchaus schmücken, ja sie sogar zum Wettbewerbsvorteil ausbauen. Der inhaltliche Wandel, der originär linke Formen emanzipatorischer Identitätspolitik zu Legitimationsfaktoren kapitalistischer und imperialistischer Politik machte, vollzog sich in Kunst, Theater und Literatur als Trennung der Darstellungsmittel von den konkreten sozialen Verhältnissen. Künstlerische Arbeit bleibe affirmativ zum Ganzen, solange die realistische Perspektive verweigert wird, in der das Ganze im Detail hervortritt, so Stegemann zu postmodernen Formen hochauflösender und endlos fragmentierter Performanz.

Die auf dem sowjetischen Schriftstellerkongreß 1934 erhobene Forderung, Literatur und Kunst sollten eine positive Rolle beim Aufbau einer Gesellschaft spielen, kann für Stegemann nur produktiv aufgegriffen werden, wenn die sozialistische Unterscheidung von Tendenz und Parteilichkeit dabei nicht vergessen wird. Operiert die bürgerliche Kunst aus der isolierten Position des Künstlers heraus und setzt sein subjektives Kommando an die Stelle eines Bewußtseins, das über die Bedingtheit des Eigenen Rechenschaft ablegt, dann sei diese Kunst tendenziös, weil sie das Subjekt nicht als gesellschaftliche Position, sondern als geheimnisvolle letzte Instanz denken will.

Wo das Künstlersubjekt sich in seiner vermeintlichen Unergründlichkeit in Wert setzt, erfülle es die liberale Forderung einer Eigentümergesellschaft, während die offengelegte Abhängigkeit des Subjekts von seinen materiellen Lebensbedingungen sich parteilich gegen sie stelle. Je mehr sich Künstler die Bedingungen ihrer Vergesellschaftung klarmachen, desto geringer ausgeprägt sei die Tendenz, den Zwang zur Einzigartigkeit nicht als konkretes Klassenverhältnis zu erkennen. Gegenüber einem klassenbewußten und damit sozialistischen Realismus folge die Behauptung, nur das freie Individuum könne absolute Kunst hervorbringen, der Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft, das unternehmerische Selbst zur zentralen Instanz individueller Selbstverwirklichung zu erheben.

Die paradoxe Pointe der neoliberalen Zurichtung der Kunst zu einem Produktivfaktor der ästhetischen Legitimation von Unternehmensstrategien, des Akzeptanzmanagements des Kulturstaates oder der Verschönerung von Produktdesigns und Shopping Malls liegt für Stegemann darin, daß der gegen den sozialistischen Realismus gerichtete Vorwurf, parteilich und funktional zu sein, sich im kapitalistischen Realismus vollständig verwirklicht habe. In der Postmoderne sei er endgültig aus der Schmuddelecke der angewandten Kunst von Design und Werbung getreten und habe sich in der Verbindung von kritischem Gestus, avantgardistischer Form und neoliberaler Ökonomie zur global erfolgreichsten Kunstform entwickelt. So habe sich die auf dem Kongreß 1934 geübte Kritik an der Egozentrik des Formalismus bewahrheitet wie auch die Forderung nach einer funktionalen Kunst erfüllt, doch geschah dies nicht im Sozialismus, sondern im postmodernen Kapitalismus. Avantgarde sei zur Kunst für die Wall Street geworden, und die gewinnträchtigste Vereinnahmung des maximalen künstlerischen Ausnahmezustands bestimme den Kunstmarkt.

Ganz und gar unironisch sei dieser Vorgang jedoch, wenn die künstlerische Feier des Individuums im Selbstverwirklichungszwang in der Arbeit funktional werde und die Vereinnahmung ehemals freier Produktivkräfte zu einer wirksamen Struktur der Ausbeutung gerate. Zwar sei es schon möglich, daß es sich in den flachen Hierarchien und Teamstrukturen des postfordistischen Arbeitsregimes angenehmer arbeiten läßt, doch die durch eine sich freundlich gebende Motivation der Mitarbeiter bewirkte Gewinnmaximierung kommt weiterhin dem Eigentümer zugute. Wo die Bereitschaft, den Job als Selbstverwirklichung zu begreifen, zunimmt, erhöht sich vor allem der Wirkungsgrad der Ausbeutung. So werde die Arbeit durch Planung und postfordistische Aufhebung von Entfremdung immer effektiver, doch unter nichtrevolutionären Eigentumsverhältnissen diene auch eine kooperativ gestaltete Arbeitsorganisation der beschleunigten Ausbeutung, so Stegemann.

Wenn der Kapitalismus vom Sozialismus gelernt habe, indem er seine Produktionsbedingungen immer weiter von einer Ausbeutung der Arbeitszeit zu einer Wertschöpfung durch Maschinen und kooperatives Arbeiten umbaute, wenn er sich also erfolgreich den sozialistischen Arbeitsbegriff der Planung und Genossenschaft angeeignet habe, um die disziplinarische Durchsetzung entfremdeter Fabrikarbeit zu optimieren, dann verkehrten sich auch alle kritischen Impulse in ihr Gegenteil. Für den Realismus in Kunst und Kultur wirft der Vorgang, mit Hilfe einst zur Emanzipation des Menschen gedachter Formen der Vergesellschaftung die materielle Umverteilung von unten nach oben zu beschleunigen, ganz neue Fragen auf.

Für Stegemann geht es bei einer kritischen Kunst stets darum, die Produktionsverhältnisse so zu durchdringen, daß ihre Auswirkungen auf Arbeit und Eigentum sichtbar werden können. Indem der sozialistische Realismus die neuen Arbeitsweisen antizipierte, um Mut für den weiteren Aufbau zu machen, erweiterte er dieses künstlerische Leitbild um ein utopisches und spekulatives Moment. Zwar waren die alten Eigentumsverhältnisse im Sozialismus aufgehoben, doch am Aufbau der neuen Produktionsverhältnissen scheiterte das System dennoch.

Demgegenüber seien die Produktionsverhältnisse in der Postmoderne mitunter fast sozialistisch zu nennen. Die Eigentumsverhältnisse hätten sich jedoch zu einem Finanzfeudalismus gesteigert, der die Ideologie des Marktes desto tiefer in die Seelen preßt, je freier sich der einzelne fühlt. Die spekulative Kraft des Realismus bestünde wohl darin, diesen Widerspruch ins Bild zu holen, schloß Stegemann seinen Vortrag, den er teilweise mit Zitaten aus seinem Buch "Lob des Realismus" bestritt.


Diskussionsrunde von oben - Foto: © 2016 by Schattenblick

Literaturforum im Brecht-Haus
Foto: © 2016 by Schattenblick


Ein neuer Realismus für die sozialen Kämpfe der Zukunft

In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die Aufhebung der postfordistischen Entfremdung in der Arbeitswelt überhaupt auf die beschriebene Weise erfolge. Der Referent teilte diesen Zweifel insofern, als daß 98 Prozent der Menschen seiner Ansicht nach weiterhin in klassischen Entfremdungsbedingungen lebten, aber die Veränderungen in der Arbeitswelt jener 2 Prozent, von denen so häufig im Kontext neuer Unternehmenskulturen die Rede ist, unverhältnismäßig viel Beachtung fänden. Ob eine auch nur formale Emanzipation der Lohnabhängigeklasse im Rahmen der neoliberalen Innovationslogik überhaupt vorgesehen ist oder sie in der Offensive der kreativen Zerstörung zu willigen und billigen Sklavenexistenzen herabgewürdigt werden soll, wäre der weiteren Erörterung wert.

Zu bedenken gegeben wurde, daß die konservative Kulturkritik dem Umgang mit dem Problem der Entfremdung auch etwas Positives abgewinnen könne. Wenn der arbeitende Mensch als Befehlsempfänger von seiner Entscheidungsüberforderung entlastet wird und in der Ordnung geregelter Verhältnisse sein Heil entdeckt, anstatt den ihm aufgeherrschten Bedingungen das emanzipatorische Ideal der Befreiung entgegenzustellen, dann habe die linke Bewegung jenen rechten Parteien, die autoritäre Ideale dieser Art auf ihre Agenda heben, im Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie kaum etwas Adäquates entgegenzusetzen.

Die abschließende Frage, was zu tun sei, beantwortete Stegemann mit einem Plädoyer für eine aktive Lebenspraxis, in der der Mensch erst einmal lerne, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Erst mit der Fülle der neuen Perspektiven entstünden Veränderungsmöglichkeiten, die nicht auf einem Blatt Papier vorgezeichnet werden können. Leider sei die Lebenspraxis vieler Menschen derzeit durch eine permanent affirmative Medienwelt formiert, die gerade das Moment der Empörung in den Dienst eines Aufbegehrens stellt, das an der Mattscheibe endet. Insofern, so ein Teilnehmer, bleibe die Frage des neuen Realismus bestehen, wie die Kunst eine Kritik formulieren kann, die nicht auf die sattsam bekannte Weise ins Affirmative umschlägt.

Wie ein roter Faden durchzog die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Stellung und der inhaltlichen Positionierung der Produzentinnen und Produzenten von Kunst und Literatur die Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen?" Da dies nicht nur Künstler und Autorinnen betrifft, sondern alle Menschen, die ihre soziale Reproduktion durch erwerbsabhängige Beschäftigung oder als Leistungsempfänger sicherstellen, sollte die kritische Aufarbeitung kapitalistischer Lebens- und Arbeitspraxis auch die Chancen für einen neuen Realismus in der Literatur vergrößern. So könnte die Aufhebung der Entfremdung, der jeder Mensch, der der endlosen Kette von Produktion und Konsum keinen Lebenssinn abgewinnen kann, unter den herrschenden Bedingungen ausgesetzt ist, schon im konsequenten Stellen der Eigentumsfrage Gestalt annehmen. Ob eine Repolitisierung der Künste auf reaktionäre oder revolutionäre Weise erfolgt, ist allerdings nicht allein Sache ihrer Urheberinnen und Urheber, sondern wird in den sozialen Kämpfen entschieden, die in den düsteren Perspektiven der epochalen globalen Krise zweifellos an Schärfe zunehmen werden.


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/044: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Lesen, schreiben, stören ... (SB)
BERICHT/045: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - vom Mut nicht nur zu träumen ... (SB)
BERICHT/047: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Fortschritt schalten, mitgestalten ... (SB)
BERICHT/049: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Diskurs der Selbstverständlichkeiten ... (SB)
BERICHT/051: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Kunst befreit die Wirklichkeit ... (1) (SB)
INTERVIEW/063: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Mangel an Sozialkritik ...    Enno Stahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/064: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Die Krise als Chance ...    Erasmus Schöfer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/065: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ...    Ingar Solty im Gespräch (1) (SB)
INTERVIEW/066: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ...    Ingar Solty im Gespräch (2) (SB)
INTERVIEW/068: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - gedruckte und gelebte Utopie ...    Raul Zelik im Gespräch (SB)
INTERVIEW/069: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - neue Elite, Sachverstand ...    Jörg Sundermeier im Gespräch (SB)


11. Juli 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang