Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


BERICHT/073: Linke Buchtage Berlin - polizeistrategisch nachgeladen ... (SB)


Was wir hier sehen ist eine Bürgerkriegsübung, eine groß angelegte Bürgerkriegsübung. Eine Aufstandsbekämpfung ohne Aufstand. Das ganze ist ein massiver Verstoß gegen die Verfassung. Die Rufe die zurzeit von de Maiziere kommen, angesichts der Hamburger Verhältnisse müsse es eine Notstandsverfassung geben, sind unmäßig, sie sind rechtswidrig, sie sind gerade zu unglaublich. Wir brauchen Meinungsfreiheit, wir brauchen Versammlungsfreiheit! Wir brauchen keinen Polizeistaat!
Rechtsanwältin Gabriele Heinecke vom Anwaltlichen Notdienst [1]


Die angeblich bürgerkriegsähnlichen Zustände im Kontext der G20-Proteste in Hamburg resultierten keineswegs aus einem Kontrollverlust oder Versagen der Staatsgewalt. Vielmehr zeichnet sich der umfassend konzipierte strategische Entwurf einer massiven polizeilichen Operation im urbanen Raum ab. Politisch, administrativ und juristisch gestützt wurde ein Labor der Aufstandsbekämpfung in Stellung gebracht, in dem das technische, taktische und personelle Inventar und Zusammenspiel der Polizeien nicht nur erprobt, sondern unter den realen Anforderungen einer Metropole umgesetzt wurde. Es ging dabei nicht um eine bloße Übung, der die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand folgt, sondern um eine massive Verschiebung der Grenzen hin zu einer repressiveren Staatlichkeit.

Der G20-Gipfel stand im Zeichen des Ausnahmezustands und der präventiven Aufstandsbekämpfung in einer Großstadt. Zum einen wurde das Arsenal der Zwangsmittel umfassend zur Anwendung gebracht. Zum anderen kamen Instrumente der Spaltung des Widerstands anhand der Gewaltfrage bis hin zur Okkupation der Deutungsmacht und der Diskreditierung der Linken zum Einsatz. Im Vorgriff auf die Eindämmung und Niederschlagung künftiger Hungerrevolten auch in den Metropolengesellschaften haben die Protagonisten des Sicherheitsstaats eine innovative Stufe der Verfügung etabliert. Es steht zu befürchten, daß die in der Hansestadt massenhaft und vielfältig ins Feld geführten Varianten des Protests künftig kaum noch oder gar nicht mehr möglich sind, so daß andere Formen des Kampfs zu diskutieren und praktizieren sein werden.

Das mit rund 31.000 Polizeikräften aller Kategorien größte Aufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik verfügte über modernste Wasserwerfer und den Survivor, das volle Spektrum der Bewaffnung inklusive Maschinengewehren samt Gummigeschossen der SEK. Über die verschiedenen Sicherungs-, Angriffs- und Zugriffsmethoden bis hin zur Gefangenensammelstelle blieb nichts ausgespart. Auf Grundlage der Außerkraftsetzung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts in ausgewiesenen Zonen kam es zu einem Frontalangriff auf den Straßenprotest mit Schlagstock, Reizgas und Pfefferspray, Prügel für die Wehrlosesten am Rande, Schockstrategien gegen junge Menschen, Erniedrigung und Entrechtung in der Gesa - die Polizeigewalt brach sich in verschiedensten Szenarien Bahn, diente aber ein- und demselben Zweck: Weit über den unmittelbaren Anlaß hinaus, den Gipfel politischer Sachwalter kapitalistischer Macht und imperialistischer Aggression vor dem Widerstand zahlreicher Menschen zu schützen, sollten die Optionen der Drangsalierung, Einschüchterung und Diskreditierung des Widerstands weit vorangetrieben werden.

Der G20-Gipfel in Hamburg bedarf einer Einordnung in die Phalanx verschiedener Maßnahmen polizeistaatlicher Ermächtigung, deren Inkraftsetzung sich in enger zeitlicher Nähe darum herum gruppiert. Ende Mai 2017 erlangte der neue § 114 StGB Gesetzeskraft, der tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte unter verschärfte Strafe stellt. Er erweitert maßgeblich das Spektrum dessen, was als Angriff sanktioniert werden kann, und zielt nicht zuletzt auf Formen passiven Widerstands wie auch die pauschale Kriminalisierung ganzer Gruppen ab. Geist und Inhalt dieses Gesetzes finden ihren Niederschlag im polizeilichen Vorgehen gegen den Gipfelprotest wie auch in den richterlichen Haftbegründungen und den ergangenen Urteilen. Im August wurde mit indymedia.linksunten ein maßgebliches Forum verboten, in dem die radikale Linke den Gipfel aufarbeitete und die zahlreichen Widersprüche in der offiziellen Darstellung zur Sprache brachte.

Wenngleich seither ein Jahr vergangen ist, hat der G20-Gipfel nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Die Soko Schwarzer Block ist mit 180 Beamten die größte aller Zeiten, beim Staatsschutz angesiedelt und verfügt über ungeheure Datenmengen. Bislang wurden etwa 3000 Verfahren eingeleitet, insgesamt sollen bis zu 6000 Menschen strafverfolgt werden. Die Auswertung jeglichen Bildmaterials mündete in eine öffentliche Fahndung, die auf die denunziatorische Kollaboration der Bevölkerung setzt. Der lange Arm reicht über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus, wovon die Razzien in Frankreich, Spanien, Italien und der Schweiz zeugen.

Unterdessen werden in den Bundesländern die schärfsten Polizeigesetze seit 1945 verabschiedet. Die Länder sind verpflichtet, ihre Polizeiaufgabengesetze an die neuen Datenschutzrichtlinien der Europäischen Union und an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz anzupassen. Sie nutzen diese Vorgaben, um den Ausbau exekutiver Befugnisse der Polizeien auf breiter Front voranzutreiben. Baden-Württemberg und Bayern haben vorgelegt, in Nordrhein-Westfalen soll das neue Polizeigesetz nach dem Willen der Regierung in Düsseldorf noch vor der Sommerpause verabschiedet werden. Es geht dabei nicht zuletzt um ein Gesamtkonzepts, denn obwohl die Polizei verfassungsrechtlich Sache der Bundesländer ist, wollen Innenminister und Bundesregierung in Gestalt eines sogenannten Musterpolizeigesetzes eine einheitliche Sicherheitsstruktur schaffen.

Der damalige Bundesinnenminister De Maizière forderte im Dezember 2017 eine weitere Zentralisierung der Sicherheitsbehörden: Aufhebung des föderalen Prinzips, Zusammenfassung von Verfassungsschutzbehörden, Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizeien. Das setzte sich in Form von sogenannten Antiterrorgesetzen durch. Wer ein Gefährder ist, entscheidet nicht ein Gericht, sondern die Polizei. Die Unschuldsvermutung wird außer Kraft gesetzt. Polizei und BKA werden in allen Bereichen aufgestockt, es wird ein Regime installiert, das den permanenten Ausnahmezustand übt und praktiziert.


Ankündigung der Podiumsdiskussion zu den G20-Protesten - Foto: 2018 by Schattenblick

Die Ruinen von Hamburg ...
Foto: 2018 by Schattenblick


"Die Ruinen von Hamburg - Über die Linke nach G20"

Im Rahmen der Linken Buchtage, die vom 1. bis 3. Juni 2018 im Berliner Mehringhof stattfanden, war ein Podiumsgespräch am Eröffnungstag dem Thema "Die Ruinen von Hamburg - Über die Linke nach G20" gewidmet. Unter Moderation des Veranstalters Jungle World diskutierten der Journalist Gaston Kirsche, ein Aktivist der Gruppe Theorie, Organisation, Praxis (TOP) aus Berlin sowie Andreas Blechschmidt von der Roten Flora in Hamburg miteinander und mit dem Publikum.

Die Gruppe TOP ist im Bündnis Ums Ganze organisiert, einem Vorhaben, der Strukturschwäche der radikalen Linken etwas entgegenzusetzen. Sie verfolgt den Ansatz, eine nichtreduktionistische Kapital- und Gesellschaftskritik zu artikulieren und die Mobilisierung gegen die Macht der Herrschenden um eine Kritik der politischen Ökonomie zu ergänzen. Ein zeitgemäßer Ausdruck schien ihr die Logistik zu sein, so daß in Hamburg nichts näher lag als der Hafen, in dem TOP beim G20-Gipfel eine Blockade plante. Diese Aktion sollte Teil der Proteste sein, wobei die Gruppe auch zur "Welcome to Hell"-Demo aufrief und sich an der großen Demo am Samstag beteiligte.

Wie Andreas Blechschmidt betonte, spreche er nicht als Delegierter der Roten Flora, für die es ohne Mandat keine öffentlichen Äußerungen gebe. Bei G20 war er einer der Anmelder und Demoleiter des "Welcome to Hell"-Bündnisses. Aufgrund der Ereignisse in der Schanze in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli sei er in die andere Rolle zurückgeschlüpft und öffentlich als Vertreter der Flora aufgetreten. Die Diskussionen zu G20 haben in den autonomen Zusammenhängen demnach im Herbst 2016 begonnen, es gab ein norddeutsches Bündnis mit Genossinnen und Genossen aus anderen Städten. Einigkeit herrschte weithin darüber, daß ein klassischer Gipfelprotest gegen die Politik der Herrschenden nicht das Vorgehen der Wahl sein könne, man sich aber zum G20-Gipfel in Hamburg verhalten müsse. Da sich verschiedene Ansätze des Protests abzeichneten, habe man beschlossen, Akzente mit einer Demo am Vorabend zu setzen und sich dann in andere Aktionen solidarisch einzureihen.


Was erwartete die autonome Linke beim G20-Gipfel?

Gaston Kirsche wies darauf hin, daß der Veranstaltungsort Messehallen und damit auch die räumliche Nähe zur Schanze und zum Karolinenviertel frühzeitig feststand. Vermutlich sei das als Machtdemonstration konzipiert worden, um zu unterstreichen, daß die SPD-geführte Regierung alles machen kann, was sie will. Zwei Wochen nach 9/11 hatte bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg die rechtspopulistische Partei unter Ronald Schill aus dem Stand fast 20 Prozent erreicht. Olaf Scholz war damals Innensenator und hatte mit sehr harten Maßnahmen versucht, das Ruder im Wahlkampf noch herumzureißen. Seitdem gebe es dieses Trauma und das Mantra, daß innere Sicherheit und SPD immer zusammengehen müssen. Hartmut Duddes Wanderkessel wurde damals vom Verwaltungsgericht als unrechtmäßig eingestuft, was aber für ihn folgenlos blieb. So kam es, daß die Polizeiführung in Hamburg bei G20 de facto außerhalb des Gesetzes stand. Dieser Voraussetzungen war sich die radikale Linke bewußt, so Kirsches Einschätzung.

Nach den Worten Andreas Blechschmidts hat sich bei G20 provinzieller Größenwahn mit Dummheit gekreuzt. Parallel zur später gescheiterten Olympiabewerbung für 2024 holten Olaf Scholz und Angela Merkel den Gipfel nach Hamburg. Erst danach nahm der Erste Bürgermeister mit der Polizeiführung Kontakt auf, die zu bedenken gab, daß eine Großstadt der denkbar schlechteste Ort sei, um einen Gipfel sicher und störungsfrei zu veranstalten. Dies zog sich als roter Faden durch die öffentliche Diskussion im Vorfeld. Es gab klare standortpolitische Entscheidungen in dem Glauben, man könne sich für die Olympiabewerbung besser positionieren.

Es sei das erklärte Ziel der autonomen Zusammenhänge gewesen, die Gipfelinszenierung zu stören und auch über Hamburg hinaus sichtbar zu machen, daß es Widerspruch gegen die Agenda eines solchen Gipfels gibt, bei dem die 20 mächtigsten Staaten über die Geschicke der ganzen Welt diskutieren. Die politisch Verantwortlichen für weltweite Kriege, Ausbeutung und katastrophale humanitäre Verhältnisse träfen zusammen, wobei keinerlei Probleme angemessen verhandelt, geschweige denn gelöst würden. Dies deutlich zu artikulieren und kämpferisch sichtbar zu machen sei das Minimalziel gewesen. Ein Vehikel sollte die Vorabenddemo sein, wobei es auch Ideen gegeben habe, den Verkehr zu behindern, die Kolonnen zu stören und die Hafenblockade zu unterstützen, zumal Hamburg als Drehscheibe des globalen Handels auch für Waffen-, Atom- und Kohletransporte relevant ist.

Der TOP-Aktivist gab zu bedenken, daß in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen zumeist Friedhofstille herrschte. Nachdem Berlin ganz Europa in die Knie gezwungen hatte, sei Hamburg eine Provokation gewesen, die beantwortet werden mußte. In seinem Umfeld hätten eher gedämpfte Erwartungen vorgeherrscht, da die Zivilgesellschaft verglichen mit Rostock oder Heiligendamm eine ganz andere geworden sei. So kam es vor dem Gipfels zu einer Entsolidarisierung seitens einiger Teile des zivilgesellschaftlichen Spektrums. Die eigene Demo von Campact und den Naturfreunden habe dazu beigetragen, den Protest zu diskreditieren.

Kirsche erinnerte in diesem Zusammenhang daran, daß die an der Hamburger Regierung beteiligten Grünen zuerst gegen den Gipfel waren, dann aber alles mitgetragen haben. Dies sei ein Offenbarungseid für grüne Politik und einen Teil der sogenannten Zivilgesellschaft: Die staatsnahen NGOs betrieben Politikberatung und wollten mitgestalten. Die "Protestwelle" am Sonntag vor dem Gipfel brachte bei allerdings schlechtem Wetter lediglich 5000 Menschen auf die Straße. Zudem gab es eine simulierte Zivilgesellschaft von Grünen, SPD, DGB und Kirchenleuten, die parallel zu der unter Auflagen leidenden Großdemonstration am Samstag eine eigene Demo unter dem Namen "Hamburg zeigt Haltung" durchgeführt und das Alibi dafür geliefert haben, daß man der breiten Demonstration, die vom "Welcome to Hell"-Bündnis bis hin zu ökologischen Gruppierungen und der Linkspartei reichte, das Wasser abzugraben versuchte. Das ist nicht geglückt. An der Demo "Hamburg zeigt Haltung" haben 4500 Leute teilgenommen. Nach der Nacht im Schanzenviertel und der Medienhetze sei es dann um so bemerkenswerter gewesen, daß bei der großen Demo 76.000 Menschen durch die Stadt gezogen sind. Es gab einen starken autonomen Block, der als solcher erkennbar war. Es herrschte eine ausgeprägte Gemeinsamkeit, und vereinzelte Provokationen der Polizei fruchteten nicht, so Kirsche.

Im übrigen hätte er sich eine Gipfelkritik gewünscht, die Hamburg als Stadt der Globalisierungsgewinner in den Mittelpunkt stellt, die durch den Zusammenbruch der DDR gewonnen und seit 1990 ein riesiges Hinterland in Osteuropa hat. Gehe man in Hamburg durch die Innenstadt, sehe man an jeder Ecke eine Firma, deren Reichtum entweder aus der Kolonialgeschichte oder der Zwangsarbeit im NS-Staat herrührt, der im Hamburger Stadtgebiet 1500 Arbeitslager betrieb. Positiv überrascht habe ihn die Auftaktkundgebung der Demo am Fischmarkt, die inhaltlich sehr viel geboten habe, was angesichts der folgenden brutalen Angriffe der Polizei leider untergegangen sei.


Böse Überraschung angesichts massiver Staatsgewalt

Nach fast 30 Jahren autonomer Politik hätte er nicht erwartet, daß ihn noch etwas überraschen könne, so Andreas Blechschmidt. Im Kontext polizeistrategischer Überlegungen zur urbanen Aufstandsbekämpfung sei eine Großstadt wie Hamburg, die derart in die Fläche geht, schwer unter Kontrolle zu bringen. Die Polizei habe der Politik signalisiert, daß sie das Problem lösen könne, sofern man ihr freie Hand lasse. Die Camps wurden mit Vehemenz verhindert, um zu erreichen, daß viele AktivistInnen gar nicht erst nach Hamburg kamen. Dies wurde von massiven Grenzkontrollen durch 3500 Bundespolizisten flankiert. Diese Polizeitaktik schien zunächst aufzugehen, da hinter der Mobilisierung ein großes Fragezeichen stand, so Blechschmidt. Das habe sich auch bei der Mobilisierung für die "Welcome to Hell"-Demo gezeigt, da andere Strukturen nicht eingebunden werden konnten und die Demo nur mit lokalen Kräften am Rande des Machbaren auf die Bein gestellt wurde. Als die Polizei glaubte, die Camps verhindert zu haben, griff sie am Dienstag beim Massencornern massiv durch. Dann folgte der Angriff auf die "Welcome to Hell"-Demo. Die Polizei sei offenbar der Auffassung gewesen, daß sie mit ihrem massivem Aufgebot den Rest in Schach halten konnte, der dann noch nach Hamburg käme. Diese Dramaturgie kippte am Freitag, weil der Unmut auf seiten des Protests angeschwollen war.

Der Aktivist der Gruppe TOP berichtete von einer weit verbreiteten Einschätzung im Vorfeld der Gipfelproteste, daß die Polizei die Camps verhindern und alles plattmachen würde. Bis Mitte der Woche schien der Protest auf der Kippe zu stehen. Der Gewaltmonopolist halte sich eben nicht an seine eigene bürgerliche Rechtsordnung. Als Begleitmusik habe der reaktionäre Text "Hölle, Hölle, Hölle" [2] vom Roten Salon Leipzig ein Hohes Lied auf den Rechtsidealismus gesungen und demobilisierende Wirkung gehabt. Dies bekräftigte auch Gaston Kirsche, der den Text als denunziatorisch bezeichnete, weil er mit den zwei Aussagen geendet habe: Das Gewaltmonopol des Staates ist hochzuhalten und daß es Regionen im Trikont schlecht gehe, weil sie zu wenig und nicht zu viel Kapitalismus hätten. Was die Beteiligung der Linken an der Gewalt betrifft, gefalle ihm persönlich eine eskalierende Sprache wie "G20 zerschlagen" nicht so sehr: Verbalradikalismus immer lauter, je weniger man wird, das finde er für die Tonne. Manche hätten das Spiel nicht durchschaut und den bürgerlichen Medien Futter gegeben. Was wollte man mit der Formulierung sagen, daß in Hamburg der größte schwarze Block Europas antreten würde?

Andreas Blechschmidt fügte selbstkritisch hinzu, daß die Mobilisierung aus Sicht des autonomen "Welcome to Hell"-Bündnisses nicht gelungen sei: Wir hatten das Gefühl, daß viele Genossinnen und Genossen aus anderen Städten nicht nach Hamburg gekommen sind, weil sie befürchteten, etwas auf die Mütze zu bekommen. Die inhaltliche Gewichtung des Auftretens der Demo sei unscharf, die Kommunikation nicht die beste gewesen. Einige Leute hätten sich in der Kommunizierung nach außen nicht an die Vereinbarungen gehalten. Als mobilisierend habe er indessen die Auftaktkundgebung erlebt, zu der AktivistInnen aus Mexiko, lesbisch-schwule AktivistInnen aus Rußland und Vertreter aus der Türkei eingeladen worden waren, die alle aus ihren Perspektiven beschrieben, was sie mit G20-Politik zu tun haben und warum sie dagegen auf die Straße gehen. Das Leipziger Papier sei kaltherzig und könne nur formuliert werden, wenn man mit dem Privileg des bordeauxfarbenen Passes durch die Welt reise, aber wenig Ahnung habe, was wirklich los ist. Vor dem Hintergrund der massiven Hetze auch in der Hamburger Presse, die nicht zuletzt einzelne Personen anprangerte, sei die riesige Menschenmenge auf dem Fischmarkt um so erfreulicher gewesen. Die Polizei sprach von 12.000, es wären wohl bei einem regulären Verlauf nahezu 20.000 Menschen gewesen. Das sei aber weniger der Erfolg einer gelungenen autonomen Mobilisierung, als vielmehr ein Bumerangeffekt der Polizeistrategie gewesen: Viele Menschen in Hamburg hätten beschlossen, sich zu positionieren und auf die Straße zu gehen.

Es habe auch innerhalb des Bündnisses sehr schwierige Diskussionen gegen. Als man die Demonstration im Januar 2017 anmelden mußte, sei nicht absehbar gewesen, was im Juli in der Stadt los sein würde. Es gab demnach Überlegungen, dicht bei der Messe zu beginnen, was aber dazu führen könnte, daß die Leute gleich versuchen würden, den Gipfel zu stürmen. Es fehlte nicht an Stimmen, die den Fischmarkt als Mausefalle bezeichneten. Daher sei es eine gravierende Fehleinschätzung gewesen, daß es sich die Polizei nicht erlauben könnte, wie im Dezember 2013 die große Flora-Soli-Demo gleich zu Beginn massiv anzugreifen: Wir sind an diesem Punkt der politischen Naivität erlegen, daß sie das nicht wagen würden. Das hat wehgetan, weil ich als Teil der Demoleitung mit ansehen mußte, wie viele Menschen verletzt wurden, so Blechschmidt.


Was bleibt vom G20-Gipfel in Hamburg?

Kirsche charakterisierte den G20-Gipfel in Hamburg als Teil eines voranschreitenden Prozesses. So sei die Beschaffung von Maschinenpistolen und Survivor-Schützenpanzern für die Landespolizeien bereits 2015 beschlossen worden. Auch der im April 2017 eingeführte Polizeischubser-Paragraph, der zu Kriminalisierungen beim Gipfel führte, habe eines zweijährigen Vorlaufs bedurft. Die aktuellen Verschärfungen im Polizeirecht sind also keine Folge dessen, was wer auch immer in Hamburg angestellt hat. In Hamburg sei der G20-Gipfel nach wie vor präsent, habe der Sonderausschuß der Bürgerschaft doch den Arbeitsauftrag, gewalttätige Auseinandersetzungen mit Linksradikalen künftig zu verhindern. Widersprüchliche Positionen kämen dabei fast nicht vor. Am Vortag habe der Sonderausschuß erstmals eine BürgerInnenanhörung in der Nähe des Schanzenviertels durchgeführt, an der etwa 200 Leute teilnahmen. Dabei sei detailliert und emotional Kritik an der Polizei, aber auch an "linker Randale" im Schanzenviertel am Freitagabend vorgebracht worden. Es gebe indessen eine Gesprächsgrundlage, daß der Gipfel eine Provokation und die Ursache all dessen war, was dann passiert ist. Dudde und Grote müßten zurücktreten, Scholz habe seinen Platz im Kabinett auf den Knochen der Protestierer und Polizisten erwirtschaftet. Eine erregte Debatte habe auch unter jungen Leuten stattgefunden, für die G20 sehr einschneidend und teils auch traumatisierend war. Auf Ebene der Bundesrepublik seien inzwischen andere Aspekte wie etwa die Polizeigesetze wichtiger. Und in Europa betreffe es jetzt vor allem die Leute, die Angst vor Razzien haben müssen oder bereits heimgesucht wurden.

Der TOP-Aktivist erinnerte sich gern an drei autofreie Tage in der Hamburger Innenstadt, ein Aufbrechen des kapitalistischen Normalvollzugs, das man auf Demos nicht alle Tage erlebe. Das spende Kraft und Mut weiterzumachen. Andererseits habe der Staat massiv zugeschlagen und sich in den Medien ein fast schon faschistischer Mob ausgetobt. Der Protest sei für deutsche Verhältnisse außergewöhnlich, im europäischen Zusammenhang wiederum eine Fußnote gewesen. Offensichtlich löse sich die bürgerlichen Zivilgesellschaft auf, weshalb die radikale Linke in der Position sei, Zivilgesellschaft zu simulieren, weil sie für ihre eigene Organisierung darauf angewiesen sei, daß sich der Staat an gewisse Spielregeln hält. Er hoffe zugleich, daß der G20-Protest für viele jüngere Leute ein Fanal war, ihre Kritik an den Verhältnissen zu schärfen.

Wie Andreas Blechschmidt befand, müsse auf der Agenda das Podiums im Grunde noch einiges mehr stehen, das selbstkritisch zu beleuchten sei. Der G20 in Hamburg habe viele Wahrheiten gehabt. Eine bestehe darin, daß der Zahn für die nächsten Jahrzehnte gezogen ist, einen solchen Gipfel in einer Großstadt zu veranstalten, was man als Erfolg verbuchen könne. Trotz aller Drohungen seien sehr viele Menschen auf die Straße gegangen, was als Ausdruck von Courage zu würdigen sei. Seines Erachtens werde jedoch die Diskussion über die Ereignisse in der Schanze zu leidenschaftslos geführt. In dieser Nacht habe sich ein Aufscheinen dessen ereignet, was Revolte in einer europäischen Metropole bedeuten könne. Auf seiten der Herrschenden gebe es nicht ohne Grund das Interesse, den präventiven Sicherheitsstaat massiv auszubauen. Das Plündern von Läden könne eine Art von Konsumkritik sein, doch müsse die radikale Linke zugleich darüber sprechen, was in dieser Nacht indiskutabel war, wie dies mit der roten Linie in der Erklärung der Flora versucht worden sei. Einen REWE anzuzünden, über dem sich Mietwohnungen befinden, sei ein absolutes No go, was natürlich auch für kleinere Läden gelte. Auch das Vorhaben, eine Tankstelle gegenüber einem Wohnprojekt anzuzünden, und als das nicht klappte, die Tankstelle zu plündern, obwohl da noch Personal drin war, gehe überhaupt nicht klar. Das habe nichts mit emanzipatorischer Kritik zu tun und könne nicht mit einem pauschalen Diskurs über Riots wegdiskutiert werden. Auch seien er selbst und Andreas Beuth des Renegatentums und der Entsolidarisierung bezichtigt worden. Ohne deswegen den Gegendiskurs aufzumachen, könne es doch nicht darum gehen, alle Einwände zu denunzieren. Beides in eine selbstkritische Auseinandersetzung zu integrieren, stehe aus seiner Sicht noch aus. Karl-Heinz Dellwo habe ein Buch herausgegeben [3], das sich mit den Riots in der Schanze beschäftigt, an dem er erhebliche Kritik habe, weil es ein revolutionsromantisches Bild reproduziere. Es gelte vielmehr zu diskutieren, welche Perspektiven militante, radikale Politik haben kann, wie sie in politischen Kampagnen zu verorten sei und wie die notwendige Systemfrage gestellt werden könne, die man nicht aus den Augen verlieren dürfe.

Auch der Gruppe TOP sei es in der Nachbereitung nicht darum gegangen, öffentlich Kopfnoten zu verteilen, so deren Vertreter auf dem Podium. Er würde jedoch ebenfalls Kritik am insurrektischen Spektrum formulieren, das eng an den atomisierten Verhältnissen dieser Gesellschaft dran zu sein scheine, nur auf Effekt setze und sich selbst zum Spektakel mache. Die befreite Gesellschaft sei nicht identisch mit dem Bürgerkrieg, der Dialog darüber stehe bis heute aus. Dem Staat falle die autoritäre Krisenlösung um so leichter, als inzwischen das bürgerrechtliche Spektrum fehle. Beispielsweise werde in den Medien bei den in Gewahrsam genommenen Menschen die Unschuldsvermutung so gut wie nicht mehr thematisiert. Er erachte es für eine Strukturschwäche der radikalen Linken, daß es keine anhaltende Diskussion zu den Folgen von G20 gibt.

Auch Gaston Kirsche bestätigte, daß linke Gegenöffentlichkeit als Resonanzkörper kaum noch existiere. Der heftige Aufschrei der bürgerlichen Medien bei G20 rühre auch daher, daß linke Militanz immer unsichtbarer geworden und beim Gipfelprotest erstmals seit langem wieder in Erscheinung getreten sei. Die Rede sei inzwischen von Terror und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Hamburg, eine maßlose Überzeichnung und Diskreditierung der tatsächlichen Vorkommnisse. Wenngleich das "United we stand"-Bündnis gute Arbeit mache, fehle doch ein linker Ermittlungsausschuß. Niemand habe Überblick über alle Aktionen, die stattgefunden haben, Pluralität, Disparität und Zersplitterung herrschten vor.

Wie Andreas Blechschmidt abschließend warnte, leben wir seit 2011 mit dem islamistischen Terror, und eine Politik des Anschlags arbeite gezielt mit der Drohung, daß es jeden treffen könne. Erwecke autonome militante Politik bei den Menschen den Eindruck, daß sie kriterienlos alles angreift, gerate man in ein Fahrwasser, wo die Vermittlung kaum noch möglich sei und die Deutungshoheit bei der Gegenseite liege. Auf dieser Rasierklinge wandern wir, wenn es um politische Verantwortung, Militanz, Auseinandersetzungen im urbanen Raum geht, so Blechschmidt. Was die Rechte im bürgerlichen Staat betreffe, sollte man sie ungeachtet aller Kritik doch nicht kampflos preisgeben. Dazu gehöre das Versammlungsrecht, und das sage er als Aktivist der Roten Flora, die keine Verträge mit der Stadt macht, andererseits aber als Versammlungsleiter, der Gespräche mit der Polizei über Vermummung und Deeskalation führt. Das sei eine Schizophrenie und politisch teilweise auch nicht gut auszuhalten. Aber man sollte solche Rechte nicht kampflos aufgeben, die an anderen Orten der Welt nicht mehr gelten. Es wäre politisch fahrlässig, dieses erkämpfte Privileg dranzugeben.


Ankündigung Podiumsdiskussion und Reste eines abgerissenen Plakates - Foto: © 2018 by Schattenblick

... und die Trümmer der Linken - halb abgerissenes Mobilisierungsplakat für die Internationalismustage 2018 der Gruppe ArbeiterInnenmacht in Berlin am 8. und 9. Juni unter dem Motto "Kapitalismus verstehen und stürzen!"
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] www.anwaltlicher-notdienst-rav.org

[2] Hölle, Hölle, Hölle: Der Vorschein des Schlimmeren
Die Mobilisierung gegen den G20-Gipfel zeigt, dass die Linke aus der eigenen Geschichte nichts gelernt hat.
Dossier von Conne Island, Roter Salon
jungle.world/artikel/2017/26/hoelle-hoelle-hoelle-der-vorschein-des-schlimmeren

[3] Achim Szepanski, Karl-Heinz Dellwo, J. Paul Weiler: RIOT - Was war da los in Hamburg?: Theorie und Praxis der kollektiven Aktion., Laika-Verlag, Hamburg 2018, ISBN 978-3944233918


Berichte und Interviews zu den Linken Buchtagen im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT

BERICHT/068: Linke Buchtage Berlin - der belesene Blick nach vorne ... (SB)
BERICHT/069: Linke Buchtage Berlin - besinnliche Gegenwart ... (SB)
BERICHT/072: Linke Buchtage Berlin - Rote Zora und die Archive des Alltags ... (SB)


20. Juni 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang