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BERICHT/099: 24. Linke Literaturmesse - schließlich die geballte Faust ... (SB)


"(M)Ein 68" von Thorwald Proll

Buchvorstellung auf der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg am 2. November 2019


"Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen." So ähnlich - nicht wörtlich - konnte man es von einem Schwarzen der Black-Power-Bewegung auf der Vietnamkonferenz im Februar in Berlin hören.
Ulrike Meinhof: Vom Protest zum Widerstand, in: konkret 5/1968



Foto: unbestimmtes Mitglied der Familie Meinhof [Copyrighted free use] via Wikimedia Commons

Ulrike Meinhof - Aufnahme vom 1. Januar 1964
Foto: unbestimmtes Mitglied der Familie Meinhof [Copyrighted free use] via Wikimedia Commons

'68 steht bis heute für Widerstand und Rebellion. Weltweit entstanden Gruppen, Organisationen und Bewegungen, nicht selten mit einem internationalistischen Verständnis, die keineswegs (nur) ihren Protest artikulierten, sondern, ganz in dem von Ulrike Meinhof in ihrer journalistischen Zeit zitierten Sinne, dafür sorgen wollten, daß das, wogegen sie aufbegehrten, nicht länger Bestand haben kann. An die herrschenden Kräfte zu appellieren, eine "andere" Politik zu betreiben, nicht länger kapitalistischer Ausbeutung und Kriegführung das Wort zu reden und ihr zu Durchsetzung und Fortbestand zu verhelfen, war die Sache dieser sich radikalisierenden Linken nicht.

'68 stand und steht auch für ein revolutionäres Verständnis im Windschatten des Hitler-Faschismus und des sogenannten Zweiten Weltkrieges, die tatsächlich "aufgearbeitet" zu haben, den gesellschaftlich dominierenden Kräften in der noch jungen Bundesrepublik von der aufbegehrenden Jugend und kritischen Studentenschaft abgesprochen wurde. In weiten Teilen der Bevölkerung herrschten nach dem verheerenden Krieg Stimmungen und Überzeugungen vor, die in der Parole "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" einen plakativen Ausdruck fanden.

Für viele APO-Aktivistinnen und -Aktivisten war der Vietnamkrieg Beweis genug, daß der von Politik und Wirtschaft, Staat und den großen Medien behauptete demokratische Neuanfang nicht wirklich stattgefunden hat. Sie stellten sich die Frage, wie, wenn nicht mit revolutionärer Gegengewalt, diesem von den USA mit tatkräftiger Unterstützung weiterer imperialistischer Staaten wie der Bundesrepublik geführten Krieg entgegengetreten werden könne. Erinnerungen damals Beteiligter lassen vermuten, daß dies keineswegs nur, wie die bürgerliche Presse es später darzustellen suchte, sehr wenige, isolierte "Spinner" gewesen waren.

Aus diesem historischen Kontext heraus sind Gruppen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) und die Bewegung 2. Juni entstanden. Die Gegenreaktion war immens. In den 1970er Jahren, spätestens nach dem "Deutschen Herbst" von 1977, schlug die Stimmung, wenn es denn eine war, um. Staat, Politik und Medien gingen in seltener Eintracht keineswegs nur gegen die bewaffnet kämpfenden Gruppen vor, erklärtermaßen sollte der "Sumpf", aus dem sie entstanden seien, "ausgetrocknet" werden. Wer sich als "links" verstand und in Erscheinung trat, stand unter Generalverdacht, die Repression griff um sich, um nur an die damalige Praxis weitreichender Berufsverbote zu erinnern.

Nicht wenige "68er" haben in gesellschaftlich akzeptierte Betätigungsfelder zurückgefunden bzw. sind endgültig in ihnen verblieben. Um vor sich und anderen das Gesicht zu wahren, konnten linke Überzeugungen beibehalten, weiterhin Staat und Kapitalismus angeprangert werden. Aus linken Gruppen entstanden schließlich Parteien, die den Weg in die Parlamente antraten; der "Marsch durch die Institutionen", einst vehement abgelehnt, wurde in Teilen der Linken salonfähig, die Spaltung perfekt.

All dies ist heute (linke) Geschichte, "68" liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Die Erinnerung aufrechtzuerhalten und gegnerischen Bestrebungen, sie vollends in Vergessenheit versinken zu lassen, aktiv entgegenzuarbeiten, ist für viele linke Gruppen und Organisationen, aber auch Verlage heute selbstverständlicher Bestandteil ihrer Aktivitäten. Dies fand auch auf der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg seinen Niederschlag. Thorwald Proll, früherer Weggefährte von Andreas Baader und Gudrun Ensslin, stellte sein 2018 neuerschienenes Buch "(M)Ein 68" vor. [1]


Der Autor im Großformat - Foto: © 2019 by Schattenblick

Thorwald Proll
Foto: © 2019 by Schattenblick


"(M)Ein 68" von Thorwald Proll

Thorwald Proll, Jahrgang 1941, hat sich als APO-Aktivist einen Namen gemacht. Er stand in Kontakt mit der Berliner Kommune I (K1) und wurde im Kaufhausbrandstifterprozeß, gemeinsam mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Horst Söhnlein, wegen der aus Protest gegen den Vietnamkrieg am 2. April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern gelegten Brände zu je drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Haftentlassung im Oktober 1971 blieb Proll in der Linken aktiv und betätigte sich unter anderem als Lyriker, Schriftsteller, Lektor und Buchhändler. Seit 1977 lebt er in Hamburg und betrieb bis 2013 die Nautilus Buchhandlung. Am 2. November 2019 kam er auf die diesjährige Linke Literaturmesse, um seinen Erinnerungsband "(M)Ein 68" vorzustellen und aus den Tagebuchaufzeichnungen seiner Haftzeit, aber auch aus Briefen, die er von drinnen und draußen erhalten hatte, vorzulesen.

Zum besseren Einstieg und Verständnis der damaligen, inzwischen über 50 Jahre zurückliegenden Kämpfe, politischen Entwicklungen und Ereignisse skizzierte er die damalige, für die Geschichte und Widerstandskultur der jungen Bundesrepublik so maßgebliche Zeit, nicht ohne den Versuch zu unternehmen, das Lebensgefühl der aufständischen Jugend zu vermitteln. 1968 sei "ein Jahr zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit" gewesen, die APO bereits ein fester Bestandteil im öffentlichen Bewußtsein in der Bundesrepublik und West-Berlin. Die Kaufhausaktion vom 2. April 1968 sei noch weitgehend abgelehnt worden. Dann wurde Rudi Dutschke angeschossen, die Osterunruhen dadurch ausgelöst. Die Rebellion wurde vom Campus auf die Straßen gebracht. Der Pariser Mai steigerte noch die Euphorie, auch bei den vieren, die bereits im Gefängnis saßen - was Prolls Aufzeichnungen aus der Untersuchungs- und späteren Strafhaft seiner Auffassung nach ebenso belegen wie die Briefe aus jener Zeit.


Das Buch '(M)Ein 68' im Großformat - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Tagebucheintragungen habe er zunächst in kleine Schulhefte geschrieben. Aus ihnen erstellte er ein Manuskript, das 1977 in der West-Berliner Zeitschrift "Schwarze Protokolle" erschienen ist und ihm später als Vorlage für die Buchveröffentlichung diente. Der 2018 neu herausgebrachte Band "(M)Ein 68" ist erstmals 1999 veröffentlicht worden. "Alle reden vom Wetter, wir nicht" zitierte er darin beispielsweise das bekannte SDS-Plakat und fügte hinzu: "Wir redeten vom Vietnamkrieg." Doch die Briefe, aus denen Proll vorlas, machen sein "eigentliches '68" aus. Sie seien, so der Autor, "das Zeugnis von Zuneigung und Solidarität mit einem Einsamen in seiner Zelle gewesen". Sie hätten ihm Mut gemacht und ihm das Gefühl vermittelt, nicht umsonst zu sitzen, sondern "die Handbewegung zu sein, die der geschlossenen Faust vorausgeht, bevor sie sich schließt".

Thorwald Proll las aus einigen dieser Briefe vor, unter anderem aus einem des Kommunarden Fritz Teufel, aus dem sich unschwer - - auch viele Jahre, um nicht zu sagen Generationen später - das Lebensgefühl "der 68er" nachempfinden läßt.


Aus dem Brief von Fritz Teufel an Thorwald Proll [2]

Moabit, 9. Oktober 68

Nachdem ich letztes Jahr meine Grundausbildung genossen habe, mache ich gerade eine vierwöchige Knast-Reserveübung mit, um meine Liebe zur Justiz geschmeidig zu halten und denke an euch, die ihr euch leichtsinnigerweise verpflichtet habt auf Zeit. Bei der SDS-Konferenz habe ich den Versuch unternommen, die Genossen daran zu erinnern, daß es euch ja auch noch gibt. Mit welchem Erfolg wird sich zeigen.

Nächste Woche fängt euer Prozeß an. Ich werde wahrscheinlich nicht da sein und auch nicht viel davon mitkriegen, weil ich ja selber noch sitze. In Berlin ist jetzt fast jeden Tag ein Prozeß im Kriminalgericht mit Demonstrationen und so weiter. Aber die Angst vor dem Knast sitzt den meisten doch sehr in ihren blöden Knochen. Geht es dir recht beschissen, lieber Thorwald? Den draußen geht es im Moment auch nicht besonders. Habt ihr unsere Bücher bekommen? Habt ihr noch Geld?

Ihr werdet mitgekriegt haben, daß ich von der K1 weggegangen bin, um in München die Olympischen Spiele vorzubereiten. Dann habe ich mich mit den Schwabinger Gastwirten und der Republik Österreich überworfen, in Berlin den reuigen Sünder gespielt, Mahler beschimpft und verwirrt und meine neue persönliche Bestleistung von 12 Tagen Ordnungsstrafe erzielt. Die K1 ist ein bißchen sauer, daß ich weg bin. Aber ich hoffe, daß es nicht in Feindseligkeit ausartet.

Wie ist eure Kommunikation mit der Außenwelt? Zuviel Knast macht müde, aber in homöopathischen Dosen von ein paar Monaten ist es ganz wichtig für die sanften Linken. Die Prozeßwelle rollt und die Gefängniswelle wird auch bald rollen. Dann seid ihr nicht mehr so allein. Wie ist der Kontakt mit den anderen Häftlingen? In Tegel haben sie schon Flugblätter auf Klopapier gedruckt.

Wie sind denn die Frankfurter Schlüssel-Klirrer uniformiert? Oberförsterdunkelgrün wie in München oder lindgrün wie in Berlin? Gleich wird das schmackhafte Moabiter Mittwochabendsüppchen serviert, was ich immer verschmähe, weil ich mich nicht allzusehr auf Steuerzahlers Kosten mästen möchte. Wenn du dem alten Kunzelbart noch mal etwas Gereimtes schreibst, mußt du ihm eine Gebrauchsanweisung beilegen, weil ich nicht mehr da bin, um ihm deine Wortspiele zu erklären.

Viele liebe Grüße aus Saigon
dein Fritz


Der Autor liest, am Tisch zwei Messeplakate - Foto: © 2019 by Schattenblick

Während der Lesung
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] (M)Ein 68. Aufzeichnungen, Tagebuch, Schlusswort im Kaufhausbrandprozess, Fotos, Dokumente im Sinne des Unerforschten, von Thorwald Proll, Book on Demand Norderstedt, 2018,
ISBN 978-3-748149-90-3

[2] Der Schattenblick veröffentlicht diesen Brief mit freundlicher Genehmigung von Thorwald Proll.


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9. November 2019


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