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INTERVIEW/011: Linksliteraten - Spuren des Befreiungskampfes ...    Prof. Dr. Herbert Meißner im Gespräch (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Herbert Meißner über eine Revolution, die keine war, die Aktualität der historischen Auseinandersetzung zwischen Stalin und Trotzki sowie die sozialistischen Ansätze in einigen südamerikanischen Ländern



Im mottengleichen Taumel ums Licht von 8000 Leuchtballonen entlang des ehemaligen Grenzverlaufs zwischen Ost- und Westberlin haben am 9. November dieses Jahres Hunderttausende den Fall der Mauer und die sogenannte Wiedervereinigung Deutschland abgefeiert. Wo aber der Wohlfühllärm ob des Niedergangs der DDR beinahe zur Staatsräson wird, wächst der Verdacht, daß damit - auch auf dem Rücken jener, die persönliches Leid erfahren haben - vor allem die Idee einer sozialistisch organisierten Gesellschaft als Gegenentwurf zum vorherrschenden, die Schere von Armut und Reichtum immer weiter auseinandertreibenden Wirtschaftsmodell zu Grabe getragen werden soll.

Einer, der sich trotz der angesagten Freudenstimmung nicht zum Schweigen bringen läßt, ist Prof. Dr. Herbert Meißner. Er stellte am zweiten Tag der 19. Linken Literaturmesse, die vom 31. Oktober bis zum 2. November in Nürnberg stattfand, sein jüngstes Buch Gewaltfreiheit und Klassenkampf. Revolutionstheoretische Überlegungen (Wiljo Heinen Verlag, 2014) vor. Darin analysiert er Widersprüche, die von den herrschenden Interessen nur allzu gern als obsolet betrachtet werden.

"Es muß sich nicht unbedingt jede frühere These von Marx in der Geschichte bestätigt haben", stellt Meißner in seinem Vortrag fest. "Mit Marxscher Denkweise kann man auch neue Wege beschreiten und neue Fragen aufwerfen." Und das tut er ausgiebig: "Geht unter heutigen Bedingungen der Sturz der alten Gesellschaft und der Aufbau einer neuen Gesellschaft gewaltfrei? Ist das möglich? Welche Bedingungen wären dafür erforderlich? Und wo existieren solche Bedingungen, wo existieren sie nicht?" So fragt Meißner und kreist das Problem weiter ein: "Kann Gewaltlosigkeit erfolgreich sein gegenüber einer administrativ, polizeilich und militärisch hochgerüsteten Staatsmaschinerie mit Gewaltmonopol?"

Daß die Historie eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, sei bekannt. Das gehe von Spartakus über die Bauernkriege, die Französische Revolution bis zur Pariser Commune und der Oktoberrevolution. Und all diese revolutionären Bewegungen seien mit Gewalt verbunden, mitunter "sehr schlimmer und sehr opferreicher" Gewalt. Aber gelte noch heute die Marxsche These, daß die Gewalt der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht?

Diese und zahlreiche weitere Fragen durchziehen Meißners Vortrag wie ein Leitfaden. Die Auseinandersetzung mündet in den Kernsatz: "Zwischen Gewaltanwendung bis hin zum Bürgerkrieg auf der einen Seite und konsequenter Gewaltlosigkeit auf der anderen Seite gibt es auch die Möglichkeit, Gewaltarmut durchzusetzen."

Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen gehe es nicht nur um die Frage "Kapitalismus oder Sozialismus", sondern vor allem um jene der Friedenssicherung. "Wenn das nicht gelingt und es tatsächlich zu militärischen Ausbrüchen kommt, brauchen wir über Zukunft und Sozialismus nicht mehr zu reden", stellt er fest und erinnert an die Prognose Albert Einsteins: "Ich bin mir nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen."

Der 1927 in Dresden geborene Meißner trat mit 18 Jahren der Kommunistischen Partei Deutschlands bei, studierte in Leipzig Wirtschaftswissenschaften und bekleidete im Hochschulbereich der DDR verschiedene Funktionen; unter anderem leitete er den Fachbereich Geschichte der politischen Ökonomie an der Akademie der Wissenschaften der DDR, an der er auch als stellvertretender Generalsekretär tätig war. Heute ist Meißner in der Kommunistischen Plattform bei der Linken in Brandenburg politisch aktiv.

Revolutionstheoretische Überlegungen würden sicherlich in Selbstreflektion verharren, wenn sie keinen Rückbezug auf konkrete Beispiele und reale Verhältnisse nähmen. Insofern haben wir im folgenden Interview, das am Tag nach dem Vortrag geführt wurde, Herbert Meißner nicht nur nach der Theorie der Revolution, sondern auch nach seiner Einschätzung tagesaktueller politischer Entwicklungen befragt.

Herbert Meißner beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Revolutionstheoretische Überlegungen auf der 19. Linken Literaturmesse Nürnberg.
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Der Untertitel deines neuesten Buches Gewaltfreiheit und Klassenkampf lautet revolutionstheoretische Überlegungen. Nach offizieller Lesart hat 1989 eine "friedliche Revolution" das Ende der DDR herbeigeführt, und in den letzten Jahren wird in den Medien viel von "bunten Revolutionen" gesprochen. Was heißt für dich "Revolution" und warum könnte sie deiner Meinung nach wichtig sein?

Prof. Dr. Herbert Meißner (HM): Zunächst muß ich sagen, ich komme vom Marxismus her und meine Revolutionsvorstellung geht von Marx und Lenin aus. Das Problem besteht darin, daß Revolution in der Geschichte immer auf gesellschaftlichen Fortschritt orientiert war. Ein gesellschaftlicher Rückschritt, wie er für die DDR im Jahre '89 bestanden hat, ist für mich keine Revolution - friedlich oder nicht -, sondern ein historischer Rückschritt. Ob man das nun Konterrevolution oder die Aneignung der DDR durch die Bundesrepublik eine Annexion nennt, das muß jeder selber entscheiden. Für mich jedenfalls war es eine Annexion und sie hatte konterrevolutionären Charakter. Insofern paßt der Begriff "friedliche Revolution" hierfür nicht.

SB: Und wie verhält es sich mit den "bunten Revolutionen", die in den letzten Jahren aufgeblüht sind?

HM: Das ist unterschiedlich. Wenn sie nach vorn gerichtet waren, um die Gesellschaft grundsätzlich weiterzubringen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, dann sind das schon revolutionäre Bewegungen. Wie weit sie zur Vollendung gekommen sind, ist in jedem Fall wieder anders. Nicht immer dienten solche Veränderungen, die herbeigeführt wurden, dem gesellschaftlichen Fortschritt. Ich denke da an die Ukraine und den Maidan, wo mit einem großen Aufwand von Gewalt, Opfern und scharfer Munition die Änderung eines Regimes herbeigeführt wurde. Das war nach rückwärts gerichtet. Da waren sehr starke rechte Kräfte im Spiel, einschließlich Timoschenko [1]. Insofern hat diese Bewegung keinen revolutionären Charakter im Sinne gesellschaftlichen Fortschritts.

SB: Woran bemessen sich Fortschritt und Rückschritt? Was ist für dich das Kriterium?

HM: Das Kriterium ist der gesellschaftliche Gesamtstatus. Die Grundlage sind die Eigentumsverhältnisse. Zum Beispiel besaß die DDR einen antikapitalistischen Charakter und wurde wieder in ein System eingeführt, in dem das Großkapital herrschte. Das ist aus meiner Sicht natürlich ein Rückschritt, das mag für andere anders aussehen. Zudem wurde das auch individuell sehr unterschiedlich erlebt. Aber wenn man es wissenschaftlich analysiert, dann muß man die großen Zusammenhänge im Blick haben und nicht allein die Einzelschicksale.

SB: Wäre für dich mit Fortschritt verbunden, daß die Eigentumsfrage gestellt wird? Wäre das ein wichtiger Punkt?

HM: Ja, das ist eigentlich der Hauptpunkt. Denn die Eigentumsfrage ist das, was über die Machtfrage entscheidet. Wer das Eigentum besitzt, besitzt die gesellschaftliche Macht. Und wenn diese Macht in den Händen der Großkapitaleigentümer liegt und auch dazu benutzt wird, sich nicht nur weiteres Kapital, sondern auch weiteres Land anzueignen und weitere Völker zu unterwerfen, dann ist das gesellschaftlicher Rückschritt. Insofern stellt sich mir immer die Frage, wie weit eine Bewegung der Vorwärtsentwicklung dient, die dann natürlich eine Verbesserung der Gesamtsituation der Menschen, die in diesem jeweiligen Bezugssystem leben, zum Ziel hat und haben muß.

Das kann sehr unterschiedlich aussehen, sogar von Kontinent zu Kontinent. So wurde jetzt in einigen südamerikanischen Ländern gesellschaftlicher Fortschritt erreicht, mit sozialer Vorwärtsbewegung und auch Brechung der Kapitaleigentümer, wie das beispielsweise in Venezuela und Bolivien angegangen wird.

SB: Aufgrund welcher Schlußfolgerungen befaßt du dich mit Gewaltlosigkeit?

HM: Ich befasse mich damit, weil auf der einen Seite von allen sozialen Bewegungen, einschließlich der linken, aber auch der nicht ganz linken, christlichen und sonstigen sozialen Netzwerke Gewaltlosigkeit gefordert wird. Auf der anderen Seite haben wir, ob wir das wollen und täglich so benennen oder nicht, de facto Klassenkampf. Die großen Streiks, die stattfinden, erst vor kurzem wieder, und andere Dinge - das ist Klassenkampf. Das geht vom Streik der Piloten und der Eisenbahner bis hin zu den Kämpfen gegen Mietsteigerungen, für sozial bezahlbaren Wohnraum und selbst zur Flüchtlingsproblematik.

Aber eigentlich widersprechen die beiden Komponenten einander. Geht Klassenkampf ohne Gewalt? Oder umgekehrt gefragt: Ist Gewaltlosigkeit, wenn sie eingehalten wird, noch Klassenkampf? Und die Dialektik zwischen diesen beiden Komponenten lag mir am Herzen, weil erstens in der Literatur diese Frage so noch nicht gestellt worden ist - da bringe ich eine neue Fragestellung in die Debatte -, und ich zweitens der Meinung bin, daß man nur dann zu Antworten gelangt, wenn man den Widerspruch zwischen diesen beiden Komponenten dialektisch auflöst und weiterführt. Das gilt auch hinsichtlich der Frage: Wie verhalten wir uns in der Praxis? Denn zunächst ist das eine sehr theoretische Fragestellung, aber sie hat natürlich einen ganz starken Praxisbezug. Denn Gewalt findet statt, täglich und an vielen Orten. Gewaltlosigkeit wird gefordert und Klassenkampf findet statt - die Fragestellung des Buchs ist somit höchst aktuell.

SB: Zu welchem dialektischen Ergebnis bist du gekommen?

HM: Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß eine gewaltfreie Veränderung einer Gesellschaftsordnung dann möglich ist, wenn bestimmte Bedingungen vorhanden sind. Diese Bedingungen waren in einigen südamerikanischen Ländern vorhanden, das fängt mit Kuba an und geht heute weiter über Ecuador, Venezuela und Bolivien. Das erfaßt zum Teil schon - jetzt ganz vorsichtig ausgedrückt - Brasilien.

SB: Nun ja ...

HM: Ich sagte es ja: ganz vorsichtig. Aber von Lula [2] angefangen bis zu Rousseff [3] wird eine Linie gefahren, die nicht so weit geht wie die von Chávez [4] oder Morales [5], aber die eine Richtung einschlägt, die im Hintergrund eindeutig, sagen wir mal, antikapitalistisch ist. Wenn solche Bedingungen vorhanden sind wie dort, ist Gewaltfreiheit möglich.

Bei uns ist das eine völlig andere Situation. Wir haben bei uns in den entwickelten kapitalistischen Ländern - die Bundesrepublik vorne weg, aber auch in anderen europäischen Ländern - eine Gesamtsituation, in der die Herrschaft des Großkapitals stabilisiert und festgefahren ist, in der sie geschickt und differenziert gehandhabt wird mit ihrem unwahrscheinlichen Herrschaftswissen, mit ihrer großen Herrschaftserfahrung, wie man sozialen Bewegungen begegnet, wie man sie auflöst, kanalisiert und ähnliches mehr.

Dazu kommt, daß die europäischen Länder über eine moderne Technik verfügen, die die anderen Länder, von denen wir eben sprachen, nicht hatten und nicht haben. Die ganze digitale Kommunikationstechnik wird mit großem Erfolg dazu benutzt, diesem System zu dienen, es zu festigen und zu stabilisieren. Dazu kommt natürlich auch eine Manipulationsmaschinerie. Die Beherrschung der Medien an der ganzen ideologischen Front hat einen solchen Umfang, daß die Masse der Bevölkerung da vielfach gar nicht durchblickt und den propagandistischen Aktivitäten aufsitzt. Der Widerstand gegen dieses stabile System ist sehr schwer, und es wird noch lange Zeit brauchen, um Bevölkerungsmehrheiten zu gewinnen und dieses System grundsätzlich zu überwinden.

SB: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften vor dem Hintergrund der Idee der Revolution und des Aufwerfens der Eigentumsfrage? Sind sie Teil des revolutionären Prozesses oder sind sie Gegner?

HM: Teil oder Gegner, so pauschal würde ich das gar nicht einordnen. Erstens sind sie in sich differenziert. Die Masse der Gewerkschaftsmitglieder ist durchaus bereit, für ihre Rechte zu kämpfen und gegen die herrschenden Verhältnisse anzugehen. Die Führungen der Gewerkschaften haben da oft eine, sagen wir mal, zwischen Arbeit und Kapital vermittelnde Funktion. Sie sind oft auch bereit, an dem Prozeß der Kanalisierung solcher Widerstandsbewegungen teilzunehmen. Insofern sind die Gewerkschaften in sich nicht einheitlich, sondern differenziert. Aber sie sind ein ganz, ganz wichtiger Faktor für den Gesamtprozeß des Angehens gegen kapitalistische Verhältnisse, weil die Masse der Werktätigen in den verschiedensten Industriezweigen organisiert ist und dort die Möglichkeit besteht, Einfluß zu nehmen.

Wir haben erlebt, daß sowohl bei den Eisenbahnern als auch den Piloten und zuvor noch anderen Berufsgruppen das gesamte Gefüge dieser Wirtschaftszweige ins Wanken gerät. Aber eben nur diese Zweige und nicht das gesamte System. Die Streiks waren nicht aufs Ganze gerichtet. Es ist aber wichtig, die verschiedenen Interessengruppen zu erreichen - wie gesagt, das geht bis zu den Mieterbünden und den Steuerbünden und was sonst noch alles an sozialen Netzwerken existiert - bis zu den Gewerkschaften, die dabei die stärkste organisierte Kraft im Vergleich zu diesen anderen Vereinen sind. Insofern hat die Gewinnung der Gewerkschaften für den Prozeß insgesamt und nicht nur für ihre Teilinteressen eine enorme Bedeutung.

SB: Wie bewertest du den Gesetzesvorschlag von Arbeitsministerin Andrea Nahles zur Tarifeinheit?

HM: Das ist im Grunde genommen ein Vorstoß, um die Streikrechte, die nach wie vor existieren, weiter einzuschränken. Obwohl sie bisher schon eingeschränkt waren, denn in Deutschland bestimmt ein Gericht darüber, ob gestreikt werden darf oder nicht - wo gibt's denn so was! (lacht) -, insofern sind sie Teil der Sicherung der Verhältnisse. Aber trotzdem gibt es noch Möglichkeiten, die gerade in der jüngsten Vergangenheit genutzt wurden, und der Vorstoß von Nahles zielt darauf ab, diese Möglichkeiten weiter einzuschränken. Das mit den Tarifrangeleien zwischen einzelnen Gewerkschaftsgruppierungen zu erklären, trifft nur den äußeren Schein. Inhaltlich und de facto geht es um die Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte und des Streikrechts. Und insofern sollte man damit nicht einverstanden sein.

SB: Wie siehst du Nahles' Funktion - war das schon immer von ihr zu erwarten oder hast du den Eindruck, daß sie ihre politischen Ansichten mit dem Posten, den sie nun eingenommen hat, verändert?

HM: Die Frage habe ich mir selber auch schon gestellt, aber ich bin kein Biograph von Nahles und kenne ihren gesamten Werdegang nicht im Detail. Ich weiß natürlich, daß sie eine Zeitlang die Vertreterin des linken Spektrums innerhalb der Sozialdemokratie war, daß sie dadurch lange Zeit Schwierigkeiten hatte, innerhalb der Partei aufzusteigen und es große Auseinandersetzungen um sie gab. Inzwischen hat sie es geschafft - aber warum hat sie es geschafft? Weil sie ihre frühere Position verändert hat. Ich will gar nicht so weit gehen zu sagen, daß sie sie völlig aufgegeben hat, ich meine, auch ihre frühere Position war schon in vielen Einzelpunkten anzweifelbar.

Aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, daß sie ihre Position, die auf einen fortschrittlichen linken Aspekt gerichtet war, aufgegeben und sich voll in das System integriert hat. Auf dem Ministerposten macht sich das gut, sie ist ganz sicher stolz darauf, das erreicht zu haben, das will ich ihr auch nicht nehmen. Aber das hat mit dem ernsthaften Bestreben der sozialdemokratischen Masse der Mitglieder kaum noch was zu tun.

SB: In Köln haben sich vor kurzem Hooligans und Neonazis zusammen verbündet, um gegen Salafisten vorzugehen. Insgesamt nehmen die rechten Kräfte in Deutschland und Europa zu. Beschreibt die Revolutionstheorie auch eine Revolution von rechts oder würde sie das anders benennen?

HM: Erstens stimme ich völlig mit dir überein, daß eine solche Entwicklung nach rechts sichtbar ist. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich, England und einigen anderen Ländern zeigt sich das ganz deutlich. Das ist eine große Gefahr. Wir hätten das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erwartet, daß rechte und faschistische Positionen wieder derartig gesellschaftliche Kraft erreichen. Ist aber jetzt so passiert. Warum? Passiert ist es vor dem Hintergrund der bestehenden Verhältnisse. Denn einerseits wurden früher in der Bundesrepublik Positionen von Leuten besetzt, die aus dem alten System stammten. Gleichzeitig herrscht gerade unter jüngeren Kräften große Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen. Die jungen Leute werden nach rechts auf Nationalismus und ähnliches orientiert.

Ich würde das keinesfalls eine revolutionäre Bewegung nennen. Denn im Grunde genommen zielt sie auch wiederum historisch nach rückwärts und nicht nach vorwärts. Wie ich das vorhin erläutert habe, ist der Revolutionsbegriff immer mit gesellschaftlichem Fortschritt verbunden.

Ob man diese Leute nun Anarchisten oder einfach Hooligans nennt, sei dahingestellt. Wobei der Begriff der Hooligans die Sache im Grunde genommen beschönigt, denn indem man sie nur als Krawallmacher bezeichnet, wird der soziale Charakter unterschlagen. So einfach ist es aber nicht. Das sitzt tiefer und ist gefährlicher. Insofern bin ich der Auffassung, daß man diese Dinge ganz ernsthaft im Auge behalten und aufpassen muß, daß dabei nicht schon noch wieder staatliche Stützen herauskommen.

SB: So wie das anscheinend im Zusammenhang mit dem NSU und den Morden an ausländischen Mitbewohnern geschehen ist.

HM: Genau so ist es. Es ist ja kein Zufall, daß die Aufdeckung dieser Geschichten nicht zustandekam, sondern daß in diesen Strukturen auch die Geheimdienstleute selber verflochten waren und staatliche Instanzen die Augen zumachten. Ja, warum taten sie das denn?

Meißner, an einem Tisch sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Eine Bevölkerungsmehrheit müßte einen gewaltfreien Systemwandel unterstützen. Aber wenn das System existentiell gefährdet ist, dann gibt die herrschende Klasse - auch das wissen wir spätestens seit Lenin - nicht gewaltlos auf. Sie geben ihre Besitzstände nicht auf, sie wenden Gewalt an. Das heißt, die Gewaltanwendung geht von den herrschenden Kräften aus, wenn es dem Volke gelänge, eine Mehrheit dazu zu gewinnen, das System grundsätzlich, prinzipiell zu überwinden."
(Herbert Meißner, beim Vortrag am 1. November 2014)
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Du hast gestern abend in deinem Vortrag das Buch Trotzki und Trotzkismus [6] erwähnt, das du vor zwei Jahren geschrieben hast, und hast gesagt, daß du darin eine neue historische Sichtweise präsentierst. Könntest du unseren Leserinnen und Lesern beschreiben, was daran neu ist und inwiefern das für die heutigen Verhältnisse noch relevant sein könnte?

HM: Ich habe jahrelang in der Sowjetunion gelebt und an der Universität von Petersburg promoviert, deswegen hat mich dieses Land und seine Entwicklung immer sehr stark interessiert. In dieser Entwicklung spielen natürlich Trotzki und die Auseinandersetzungen zwischen ihm und Stalin eine zentrale Rolle, und von daher habe ich das Thema aufgegriffen. Mir ging es darum, die Einseitigkeit zu überwinden, die in der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur in der Bewertung von Trotzki vorgenommen wird. Die einen betrachteten ihn als Teufel und die anderen als Halbgott. Und beides ist falsch aus meiner Sicht.

Zum einen habe ich analysiert, welche ungeheuren Verdienste Trotzki in der Oktoberrevolution hatte - er war neben Stalin die zentrale Figur. Das wurde ja nachher völlig liquidiert, und er wurde sogar aus den Fotos der damaligen Zeit rausretuschiert, weil er zur Unperson erklärt wurde, um das mal so zu nennen. Und diese Verdienste, bis zu einer Reihe von Einzelheiten, habe ich untersucht und belegt. Von daher habe ich eine realistische Bewertung von Trotzki in dieser Periode vorgenommen.

Zweitens gab es dann in den zwanziger Jahren, nachdem Stalin sich in der Auseinandersetzung um die Nachfolge von Lenin durchgesetzt hatte - übrigens auch mit einer Reihe von Tricks und Bösartigkeiten, die ich im Buch darstelle, aber jetzt hier nicht ausbreiten will -, Konflikte in der Partei, die nicht nur Stalin und Trotzki betrafen. Da spielten auch Bucharin und andere eine große Rolle, bis hin zu den Moskauer Prozessen. In dieser Zeit besaß Trotzki nicht die Rolle, die ihm die Nachfolger, Trotzkisten genannt, zuschreiben, indem sie ihn als den Hauptgegner Stalins bezeichneten. Trotzki war ein Gegner, aber er hat viele Möglichkeiten, die sich auftaten und Stalins Handlungsweise begrenzt hätten, nicht genutzt und statt dessen nachgegeben.

Sei es aus Parteidisziplin, sei es aus der Evolution heraus, um sich selber auf dem Podium zu halten, hat er mit dazu beigetragen, daß Stalins Herrschaft gefestigt wurde. Nicht mit Absicht, um Gottes willen, aber objektiv. Und das ist eine Sache, die in der Literatur bisher so gar nicht behandelt worden ist. Weil die Trotzkisten natürlich meinen, er war der Hauptgegner und der Kämpfer.

Er war nicht dieser Kämpfer in den zwanziger Jahren! Das begann erst, nachdem er ausgewiesen wurde, die Entwicklung der Revolution in Rußland analysierte und dann zu Ergebnissen kam, die eindeutig antistalinistisch waren, um das mal so zu nennen. Da war er wirklich der Kämpfer dagegen, doch zu dem Zeitpunkt war es zu spät, da war schon alles gelaufen.

Daß er dann diesen Schritt tat und diesen Stoß begann, war die Hauptursache dafür, daß Stalin ihn zum Schluß liquidieren ließ. Es ist nachgewiesen, daß das ein Auftrag war. Dafür gibt es genügend Belege. Ich habe selber Dokumente gesehen, in denen Stalin im persönlichen Gespräch einem bestimmten GPU-General [7] den Auftrag erteilte: Trotzki muß in den nächsten zwei Jahren weg sein.

Die Stalinisten hatten behauptet, Trotzki hätte sogar mit den deutschen Faschisten kooperiert, und ähnliches mehr. Das ist alles Quatsch, das mußte man beseitigen. Andererseits mußte man die Überhöhung, die von seiten der Trotzkisten ausging, ebenfalls korrigieren und auch relativieren.

Bei dieser ganzen Auseinandersetzung ging es natürlich auch um unterschiedliche Ansichten, nämlich um die Frage, ob man die Weltrevolution anstrebt, oder ob es möglich ist, Sozialismus in einem einzelnen Land zu erreichen. Diese Problematik, die theoretischen Charakter trägt, ist historisch bedeutsam, weil davon abhängig ist, wie weit man geht. Wenn es keinen Sinn macht, in einem Land den Sozialismus zu errichten - worum kämpft man dann in diesem Land? Wenn man aber auf die Weltrevolution warten muß, bis man irgendwann einmal zum Sozialismus kommt - wieviele Hunderte von Jahren wollen wir denn warten, bis trotz der Zerrissenheit in der Welt eine einheitliche Weltrevolution zustandekommt?

SB: Die Frage, ob man Sozialismus in einem Land anfängt oder ob man gleich die Weltrevolution anstrebt, stellt sich heute genauso wie zu Zeiten Stalins und Trotzkis. Wäre das die Antwort auf den zweiten Teil der Frage, was die Analyse der damaligen Verhältnisses mit der heutigen Situation zu tun hat?

HM: Genauso ist es. Und natürlich muß man dazu sagen, daß die trotzkistische Bewegung nach dem Tode Trotzkis zerfallen und in viele Strömungen aufgespalten ist. Auch das beschreibe ich in meinem Buch, nur nicht bis in die letzten Einzelheiten, weil das den Leser heute nicht mehr so sehr interessiert. Aber die aktuelle Frage, wie der Trotzkismus in Deutschland aussieht, ist natürlich behandelt. Wenn man davon ausgeht, daß Sozialismus in einem Lande möglich ist, entsteht sofort die Frage: In welchem geht denn das? Und ich sage, es geht nicht in einem einzelnen.

Ich habe gestern so ein Gespräch mit einem Spartakisten gehabt, der sagte, wir hätten '89 Revolution machen sollen, hätten die DDR erhalten müssen und so weiter und so fort. Worauf ich erwiderte, daß eine sozialistische DDR, nachdem sie vom Kreml fallengelassen und das ganze sozialistische Hinterland zerstört worden war, mit der Bundesrepublik vor sich, nicht hätte existieren können. Was man jedoch bei besseren Bedingungen hätte erreichen können, wäre ein klügerer, geschickterer und sozialpolitisch besserer Übergang. Der, der stattgefunden hat, war nur möglich, weil Gorbatschow die DDR fallengelassen hat. Von da an lief nichts mehr.

Das zu der Fragestellung, ob Sozialismus in einem Land verwirklicht werden kann. In einem isolierten Lande in dieser kapitalistischen Umgebung, geht es nicht, es sei denn, es handelt sich um ein Land, welches nicht einfach nur ein Land, sondern fast ein Kontinent ist. Du ahnst, wovon ich rede: China. China geht diesen Weg. Es gibt viel Streit darüber unter den Linken, ob das ein sozialistischer Weg oder doch nur ein kaschierter kapitalistischer Weg ist. Ich habe dazu meine feste Meinung, bin dort gewesen, kenne das Land und habe mich auch mit den Statistiken darüber befaßt. In einem solchen Land diesen Weg zu gehen, mit dieser Macht im Hintergrund und dieser Bevölkerung - unter diesen Bedingungen ist es eben möglich. Wie weit das gelingt, wird die Zukunft zeigen.

SB: Wie bewertest du die Entwicklungen in Südamerika?

HM: In Südamerika geht es auch nur deshalb, weil es mehrere Länder gleichzeitig sind. Kuba hat sich lange durch sein Hinterland, die Sowjetunion und das sozialistische Weltsystem, gehalten. Und danach aufgrund seiner stabilen Bevölkerung und seines stabilen Systems. Nebenbei gesagt: Ich finde es interessant, daß Obama inzwischen anerkannt hat, wie unerhört wichtig die medizinische Hilfe war, die Kuba in Afrika geleistet hat. Und das geht ja schon lange so, Kuba hat auch Hilfe für andere Entwicklungsländer geleistet. Das kann man nicht wegwischen.

Wenn jetzt die Ländergruppe Bolivien, Ecuador und Venezuela dazukommt, dann ist der Sozialismus auch dort möglich, aber ein Land allein hätte wahrscheinlich dem amerikanischen Druck nicht standgehalten. Peter Scholl-Latour, den ich sehr gerne lese, der aber leider verstorben ist - meiner Meinung nach einer der klügsten Kenner der heutigen Geschichte -, hat einmal gesagt: "Ob sich diese Länder auf dem sozialistischen Wege halten können oder nicht, wird nicht in Washington entschieden. Das wird in Brasilia entschieden." Eine sehr kluge Schlußfolgerung, finde ich.

SB: Du bist Mitglied der Leibniz-Sozietät. Was bedeutet das für dich?

HM: Das bedeutet für mich, daß die wissenschaftlichen Arbeiten und Leistungen, die DDR-Wissenschaftler in der Akademie der Wissenschaften der DDR, die ja die lange Tradition der Deutschen Akademie der Wissenschaften fortgesetzt hat, weitergeführt werden. Es gibt viele Akademien in Deutschland - das aber war die zentrale Wissenschaftsakademie in Deutschland, und die ist abgewickelt worden. Ich war Mitglied der Akademie und habe diesen Prozeß selber erlebt. Die Leibniz Sozietät führt diese Tradition auf eigener Grundlage, selbständig, von keinem Staat gestützt, fort. [8]

Wir kämpfen da allein, aber die Sozietät spielt in den letzten rund 25 Jahren eine zunehmend wichtigere Rolle. Sowohl in den Bereichen Sozial- und Geisteswissenschaften als auch Naturwissenschaften wird eine Menge geleistet. Die Sozietät veröffentlicht Schriften, gibt Schriftenreihen heraus und hält Vortragsveranstaltungen ab. Jeden Monat haben wir eine unserer wissenschaftlichen Sitzungen in beiden Abteilungen mit Vorträgen und Diskussionen zu aktuellen wissenschaftlichen Fragen des jeweiligen Fachgebietes. Das ist eine ganz wichtige Möglichkeit, wissenschaftliche Traditionen, wissenschaftliche Erkenntnisse und auch wissenschaftliche Persönlichkeiten fortzuführen und zu erhalten. Was ja von der anderen Seite eigentlich gar nicht gewollt war.

SB: Ein passendes Schlußwort, vielen Dank, daß du dir die Zeit genommen hast.

Hauptsaal der Literaturmesse mit Büchertischen, Publikum und Linksliteraten - Foto: © 2014 by Schattenblick

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Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Julia Timoschenko von der Allukrainischen Vereinigung "Vaterland", auch Vaterlandspartei genannt, war von Januar bis September 2005 und von Dezember 2007 bis März 2010 Ministerpräsidentin der Ukraine.

[2] Luiz Inácio Lula da Silva, meist kurz "Lula" genannt, ist Gründungsmitglied der brasilianischen Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores und war vom 1. Januar 2003 bis zum 1. Januar 2011 Präsident Brasiliens.

[3] Dilma Rousseff, Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores, ist seit dem 1. Januar 2011 Präsidentin Brasiliens. Sie wurde am 26. Oktober 2014 für weitere vier Jahre wiedergewählt.

[4] Hugo Chávez war von 1999 bis zu seinem Tod 2013 Staatspräsident Venezuelas.

[5] Evo Morales ist seit dem 22. Januar 2006 Präsident Boliviens.

[6] "Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute", Wiljo Heinen Verlag, September 2011.

[7] GPU - übliche Abkürzung von OGPU: Objedinjonnoje gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije - Vereinigte staatliche politische Verwaltung. Seit 1922 die Bezeichnung der Geheimpolizei der Sowjetunion.

[8] Näheres zu Aufbau und Aufgaben der Leibniz-Sozietät erfahren Sie im SB-Interview mit ihrem Präsidenten:
INTERVIEW/017: Leibniz-Sozietät - Über den Tellerrand ... Prof. Dr. Gerhard Banse im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/bildkult/report/bkri0017.html

Die Abwicklung der Akademie der Wissenschaften der DDR schildert ausführlich ihr langjähriger Pressesprecher:
INTERVIEW/020: Leibniz-Sozietät - der Wissenschaft geschuldet ... Dr. Herbert Wöltge im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/bildkult/report/bkri0020.html


Zur "19. Linken Literaturmesse in Nürnberg" sind bisher im Pool
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unter dem kategorischen Titel "Linksliteraten" erschienen:

BERICHT/017: Linksliteraten - Aufgefächert, diskutiert und präsentiert ... (SB)

INTERVIEW/009: Linksliteraten - Ukraine und das unfreie Spiel der Kräfte ...    Reinhard Lauterbach im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Linksliteraten - Schienenband in Bürgerhand ...    Dr. Winfried Wolf im Gespräch (SB)

14. November 2014


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