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INTERVIEW/014: Linksliteraten - Übersetzung, Brückenbau, linke Kulturen ...    Mario Pschera vom Dagyeli-Verlag im Gespräch (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Mario Pschera über den türkischen Dichter und Sozialrevolutionär Nazim Hikmet, seine Rezeption in Deutschland und der Türkei und die sprachlichen Besonderheiten des Übersetzens seiner Werke



Mario Pschera ist Geschäftsführer des Dagyeli-Verlags, der mit deutschen Übersetzungen türkischer und zentralasiatischer Literatur auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg vertreten war. Nach der Vorstellung eines Buches von Asim Bezirci über Leben, Werk und Kunst Nazim Hikmets und der Lesung einiger seiner Gedichte ging Mario Pschera im Gespräch mit dem Schattenblick noch etwas ausführlicher auf diesen epochalen Dichter und sein Werk ein.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Mario Pschera
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Mario, könntest du unseren Lesern etwas über den Dagyeli-Verlag berichten?

Mario Pschera (MP): Dagyeli ist türkisch und bedeutet Bergwind. Der Verlag ist Mitte der 80er Jahre von dem linken Journalisten Yildirim Dagyeli gegründet worden, hat aber 1993 pleite gemacht, denn die Zeit nach der sogenannten Wiedervereinigung war insbesondere für nichtdeutsche Literatur ziemlich hart. Wir haben den Verlag im Jahr 2000 dann wiedergegründet und von Frankfurt/Main, wo er ursprünglich beheimatet war, nach Berlin verlegt. Wir, das sind die Tochter des Verlegers Yildirim Dagyeli, Dr. Jeanine Elif Dagyeli, und meine Wenigkeit. Wir beide kannten uns seit vielen Jahren aus der politischen Arbeit, sei es an der Uni oder im Stadtbereich. Aus der politischen Arbeit wurde erst Freundschaft und dann Liebe. So jung und unerfahren, wie wir damals waren, haben wir den Sprung ins kalte Wasser gewagt und sind ins Verlagswesen eingestiegen. Der Verlag beschäftigt sich hauptsächlich mit dem geographischen Raum von der Türkei bis Zentralasien, das heißt, es werden vorwiegend Literaturübersetzungen aus der Türkei, Kasachstan, Usbekistan und der Region des Kaukasus verlegt.

SB: Hattest du vorher schon eine besondere Beziehung zur Literatur?

MP: Ich habe schon sehr früh mit dem Lesen begonnen und mich als Kind vor allem mit der Literatur der Sowjetunion, inklusive der sogenannten kleinen Brudervölker, beschäftigt. Wenngleich nicht in dem Maße hat mich doch auch die türkische Literatur interessiert. Meine Frau hat Mittelasien- und Islamwissenschaften in Berlin studiert, und so war es fast unausweichlich, daß wir auch viel über diese Themen gesprochen und schließlich den Entschluß gefaßt haben, neben unserem eigentlichen Broterwerb einen Verlag aufzubauen, was sehr viel Mühe gekostet hat.

Cover des Buches 'Nazim Hikmet: Leben. Werk. Kunst - Eine kritische Studie' von Asim Bezirci - Grafik: © J&D Dagyeli Verlag Berlin 2014

Grafik: © J&D Dagyeli Verlag Berlin 2014

SB: In deinem Vortrag hast du ein Buch über den türkischen Dichter Nazim Hikmet vorgestellt. Könntest du etwas über den Autor und den Weg, den das Buch von der Übersetzung bis zur Veröffentlichung genommen hat, erzählen?

SB: Das Buch "Nazim Hikmet: Leben. Werk. Kunst - Eine kritische Studie" von Asim Bezirci ist bereits in den 80er Jahren in der Türkei erschienen. Asim Bezirci war in der Türkei ein sehr bekannter Literaturkritiker, Journalist und auch marxistischer Literaturwissenschaftler und hatte viele Werke türkischer Dichter und Schriftsteller herausgegeben. Er ist 1993 während eines Pogroms gegen ein alevitisches Kulturfestival in Sivas ums Leben gekommen, als das Hotel, in dem sich viele Teilnehmer des Festivals aufgehalten hatten, von einem islamistisch-nationalistischen Mob in Brand gesteckt wurde. Ein älterer literatur-affiner deutscher Herr kam eines Tages mit der Rohübersetzung dieses Textes zu uns und fragte, ob wir es nicht herausgeben wollten, weil es im Lebenswerk von Nazim Hikmet noch weiße Flecken geben würde, zumal das deutsche Publikum hauptsächlich die Gedichte von Nazim Hikmet kannte. Wir haben sofort zugesagt und das Buch im März 2014 herausgegeben und bei dieser Gelegenheit auch gleich drei Bände zu Nazim Hikmet, die erstmals 1988/89 erschienen sind, in überarbeiteter Form als gebundene Ausgabe hinterhergeschoben.

SB: Habt ihr dabei Orginalübersetzungen überarbeitet oder selber ins Deutsche übersetzt?

MP: Die Gedichte selber sind frühe Übersetzungen meiner Schwiegereltern Helga und Yildirim Dagyeli. Zur jetzigen Ausgabe hat Helga Dagyeli einige Gedichte vor allem hinsichtlich des Versmaßes und der inhaltlichen Struktur nochmals überarbeitet. Für die Hikmet-Biographie von Asim Bezirci wurden zudem Auszüge aus Gedichten, die bislang noch nicht veröffentlicht worden waren, neu übersetzt.

SB: Wie umfassend ist das Gesamtwerk Nazim Hikmets bisher veröffentlicht worden?

MP: Es gibt sehr viele bekannte Gedichte von Nazim Hikmet, die übersetzt worden sind. Die dreibändige Ausgabe beruht auf einer ersten Zusammenstellung einer Werkausgabe, die Ende der 50er Jahre in Bulgarien von einem aserbaidschanischen Turkologen begonnen worden ist, die dann auch die Vorlage darstellte für die Erstausgabe seines Werks in türkischer Sprache. Denn in seiner Heimat durfte Nazim Hikmet nicht gedruckt werden, auch wenn viele Einzelausgaben existierten. In dieser türkischen Erstausgabe sind dann auch unveröffentlichte Gedichte von ihm zusammengefaßt worden.

Es gibt einige Gedichtbände, mit denen ich sehr liebäugele, um sie nochmal herauszubringen, weil sie unter anderem das sehr schöne Poem "Briefe an Taranta Babu" enthalten, das sich mit dem italienischen Faschismus in den 30er Jahren beschäftigt, und "Gioconda", das den Kampf gegen die Kolonialherrschaft oder das Protektorat in China zum Thema hat, enthalten. Das letztere hat Nazim Hikmet einem Freund von der kommunistischen Universität des Ostens in Moskau gewidmet, der in Schanghai während der Niederschlagung eines kommunistischen Streiks durch die Kuomintang ums Leben gekommen ist. Dabei sind etwa 30.000 Kommunisten regelrecht abgeschlachtet worden.

SB: Existieren davon schon deutsche Ausgaben?

MP: Nein, das wären tatsächlich Neuübersetzungen. Eine Schwierigkeit ist natürlich darin zu sehen, daß die Rechte an Nazim Hikmets Werk teilweise sehr verstreut sind, es ist also sehr schwierig, auch da ranzukommen. Es wäre schade, wenn man diese Gedichte machen würde, und dann käme jemand und sagte, nein, ihr dürft nicht, und wir müssen das makulieren. Ich denke, es wäre auch im Sinne von Nazim Hikmet, das vorab zu klären, um diese Werke tatsächlich dem deutschem Publikum zugänglich machen zu können.

SB: Wie steht der türkische Staat heute zu Nazim Hikmet, ist das über seine Werke verhängte Verbot irgendwann aufgehoben worden?

MP: Die Zensurpolitik der Türkei kann man teilweise mit der österreichischen Schlampigkeit vergleichen. Zwar sind Dinge verboten, aber sie werden trotzdem gemacht. Das heißt, obwohl Nazim Hikmet offiziell verboten war, wurden seine Bücher in der Türkei immer wieder gedruckt und auch verkauft. So konnte es passieren, daß Polizisten an einem Schaufenster mit Werken von Nazim Hikmet vorbeigegangen sind und es ignoriert haben. Aber dennoch sind Leute ins Gefängnis gekommen, weil sie Gedichte von Nazim Hikmet gelesen haben. Das war eine sehr widersprüchliche Geschichte. Nazim Hikmet ist eigentlich erst in den 90er Jahren nach und nach rehabilitiert worden. Zunächst hat man es geduldet, daß seine Gedichte neu aufgelegt wurden. Erst im Jahr 2009 wurde seine Ausbürgerung offiziell rückgängig gemacht.

So gibt es jetzt seit einigen Jahren sogar ein Nazim Hikmet-Denkmal in der Türkei. Die Kulturpolitik Ankaras hat sich lange Zeit dagegen gesträubt, Nazim Hikmet als türkischen Dichter anzuerkennen, obwohl sich viele seiner Schriftstellerkollegen wie Orhan Veli oder Yasar Kemal viele Jahre für ihn einsetzten, weil Nazim Hikmet wie kein Zweiter das Bild der Türkei geprägt hat. Wenn man von Literatur in der Türkei spricht, kommt man an Nazim Hikmet nicht vorbei. Das haben inzwischen auch Konservative erkannt. Deswegen ist es wohl auch kein Zufall, daß die Nazim Hikmet-Biographie vom türkischen Kulturministerium zumindest teilweise gefördert worden ist.

SB: Nazim Hikmet hat sich immer als Internationalist verstanden. So gab es schon frühzeitig viele Übersetzungen seiner Gedichte in andere Sprachen. War das Interesse an seinen Werken überwiegend politisch begründet oder hat man eher literarisches Schaffen dabei im Auge gehabt?

MP: Seine Gedichte sind schon sehr bald im Moskauer Exil ins Russische übersetzt worden. Natürlich lag dem zuallererst ein politisches Interesse zugrunde. Nazim Hikmet war sehr aktiv in der Friedensbewegung und auch im internationalen Friedensrat tätig, er hat viele Lesereisen unternommen, auf denen er sich immer auch politisch geäußert hat. Aber natürlich gab es auch ein formales, literarisches Interesse an seinen Werken. So hat Nazim Hikmet die Traditionen des russischen beziehungsweise sowjetischen Futurismus weitergeführt, obwohl er sich im strengsten Sinne nicht als Futurist begriffen hat.

Der russische Futurismus war nach dem Freitod Wladimir Majakowskis in den 30er Jahren de facto tot gewesen. Kurioserweise hat Nazim Hikmet den russischen Futurismus in der Sowjetunion praktisch am Leben gehalten. So gab es eine Menge junger sowjetischer Dichter von Andrej Wosnessenskij, einem Schüler von Boris Pasternak, bis hin zu Oljas Süleymenov, die über Nazim Hikmet in Moskau sozusagen den russischen Futurismus wiederentdeckt und auch in formaler Hinsicht sehr stark auf ihn zurückgegriffen haben.

Es ist faszinierend, daß Nazim Hikmet aufgrund seiner formalen Struktur, dieser eigenartigen Kombination von klarer politischer Aussage mit bestimmten dichterischen Formen, ungemein prägend für seine Zeit in der Sowjetunion war und selbst Dichter im arabischen Raum noch beeinflußt hat. Faraj Bayrakdar, ein syrisch-kurdischer Dichter, der von Nazim Hikmet inspiriert eine Literaturzeitschrift in Syrien geleitet und veröffentlicht hat, aber aufgrund seiner politischen Betätigung in der kommunistischen Partei ins Gefängnis kam, sagte einmal, ohne die Gedichte von Nazim Hikmet hätte er diese Tortur weder geistig noch physisch überlebt. Wie Nazim Hikmet hat auch er im Gefängnis geschrieben. Von Oljas Süleymenov, der 1995 Präsident Kasachstans werden wollte und als populärer Gegenkandidat zum damaligen und heutigen Amtsinhaber Nursultan Nazarbayev auf einen Botschafterposten nach Rom abgeschoben wurde, um seit 2002 sein Land bei der UNESCO in Paris zu vertreten, wird berichtet, daß ihm Nazim Hikmet etwas sehr Wichtiges mit auf den Lebensweg gegeben habe: Gehe deinen Weg auch als politischer Dichter und laß dich nicht verbiegen, mache Kompromisse, wo Kompromisse dir das Leben retten, aber denk dran, daß du als Dichter eine Aufgabe hast.

Schwarzweißfoto - Foto: Bundesarchiv, Bild 183-14809-0004 / Sturm, Horst / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Nazim Hikmet auf dem Flugplatz Schönefeld am 21. Mai 1952, wo er zum Besuch des 3. Deutschen Schriftstellerkongresses in Ost-Berlin eintraf
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-14809-0004 / Sturm, Horst / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

SB: Wurde Nazim Hikmet auch in der DDR veröffentlicht, und wie wurde er in der Kulturpolitik eingestuft?

MP: Die ersten Veröffentlichungen von Nazim Hikmet waren Übersetzungen aus dem Russischen, die bereits Anfang der 50er Jahre erschienen sind. Man hat natürlich vor allen Dingen den politischen Nazim Hikmet, den Friedenskämpfer mit seinem Engagement gegen den Atomkrieg und die Wiederaufrüstung herausgehoben, und tatsächlich hat sich Nazim Hikmet ähnlich wie Pablo Neruda vor allem in den frühen Zeiten des Kalten Krieges politisch stark engagiert. In diesem Sinne hat man Nazim Hikmet natürlich auch als eine Stimme des Kommunismus angeführt, und Nazim Hikmet hatte auch nichts dagegen, zumal es für ihn Überzeugungen waren, hinter denen er stand. So tauchte Nazim Hikmet als Dichter durchaus auch in den Schulbüchern der 50er, 60er und selbst noch 70er Jahre auf.

Aber als ich mit Literatur in der Schule konfrontiert war - ich bin Jahrgang 1968 -, habe ich Nazim Hikmet nicht mehr in den Büchern entdeckt. Zu dieser Zeit schwand auch die Kenntnis von Nazim Hikmet und seinen Gedichten. Tatsächlich habe ich Nazim Hikmet erst wieder auf Umwegen während meines verflucht langweiligen Armeedienstes in der DDR über kasachische und sowjetische Dichter, die sich explizit auf Nazim Hikmet bezogen und ihn als ihren künstlerischen Mentor rühmten, kennengelernt. Ich habe dann angefangen, nach westdeutschen Ausgaben zu suchen. Es gibt allerdings auch aus den 70er und 80er Jahren einige gute Veröffentlichungen, die in DDR-Verlagen direkt aus dem Türkischen übersetzt worden sind. Hier hat Gisela Kraft sehr gute Arbeit geleistet und sozusagen auf ostdeutscher Seite Nazim Hikmet wieder ins Bewußtsein gerückt. Aber die große Popularität, die er in den 50er und 60er Jahren hatte, konnte in der DDR nicht mehr erreicht werden.

SB: Nazim Hikmet ist überzeugter Kommunist gewesen. Wie erlebst du den Umgang mit ihm im heutigen Literaturbetrieb?

MP: Wir haben im Literaturbetrieb immer diese faszinierende Tendenz, daß Politik pfui ist und man sich als Dichter möglichst seiner eigenen Innerlichkeit widmen soll, um Erfolg zu haben. Diese Tendenz hat, muß ich gestehen, mittlerweile zu einer ungeheuren Langeweile gerade in der deutschen Literatur geführt, weil Dichter und Prosaschriftsteller sozusagen fortwährend um sich selbst, ihre Befindlichkeiten und Wehwehchen kreisen. Offengestanden macht es mir keinen Spaß, und so geht es vielen Verlegern und Lesern aus der Literaturszene. Allerdings bemerke ich seit einigen Jahren wieder eine gewisse Tendenz hin zu politisch engagierter Literatur, sei es, daß man sich mit der westdeutschen, aber auch ostdeutschen Vergangenheit stärker auseinandersetzt. Klar, bestimmte Wenderomane sind natürlich jetzt 25 Jahre nach dem Mauerfall up to date, aber es gibt auch ernsthafte Versuche, explizit linke Literatur zu schreiben. Das könnte nochmal spannend werden, zumal viele Schriftsteller und Autoren keine Angst mehr haben, sich von ihrem Anspruch her als kommunistisch oder sozialistisch zu bezeichnen.

Und mittlerweile gibt es für solche Literatur auch ein Publikum, auch wenn das große Feuilleton versucht, solche Sachen zu entpolitisieren. Ich muß immer noch lachen, wenn ich an diverse Artikel, etwa aus der FAZ, anläßlich des 100. Geburtstags von Nazim Hikmet denke, wo sich Stefan Weidner in einem langen Artikel darum bemüht hat, den politischen Nazim Hikmet vergessen zu machen und statt dessen eher seine ästhetischen Qualitäten, die er zweifelsohne hat, herauszustellen mit dem Vermerk, daß man von der Politik auch abstrahieren müsse. Oder daß die NZZ in einer Besprechung zur Nazim Hikmet-Veröffentlichung die Meinung vertrat, wenn die politischen Aspekte in seinem Werk nicht wären, könnte man ihn durchaus als Dichter ernst nehmen. Aber es ist schwierig, einen Dichter von seinem Werk und seinen politischen Anschauungen zu trennen.

Ich erinnere mich auch noch gut an eine Besprechung in der NZZ zu einem Gedichtband, der damals im Ammann-Verlag in Zürich erschienen ist, wo der Rezensent ganz erbost war, daß man diese altkommunistischen Ansichten in gedruckter Form dem Publikum zumutet. Die Reflexe funktionieren also immer noch. Da ist es für mich immer wieder spannend, wenn gerade die junge Generation, die mit dem Namen Nazim Hikmet überhaupt nichts anfangen kann, fragt, wer ist dieser Kerl, was er schreibt, klingt ganz interessant. Daran erkenne ich, daß Literatur mit einer explizit politischen Aussage tatsächlich wirkt. Gerade Nazim Hikmets berühmtes Gedicht Orient-Okzident aus dem Jahr 1921 oder was er zur Befreiungsbewegung in der Reportage aus Havanna geschrieben hat, kommen heute noch gut an. Diese Sachen können ohne Not neben jedem Artikel zu den Geschehnissen in Syrien oder in der Ukraine bestehen, ohne an Aktualität etwas zu verlieren. Es ist für mich immer wieder faszinierend, daß Lyrik über ihre Zeit hinaus, obwohl sie zu konkreten historischen Anlässen geschrieben wurde, noch etwas zu sagen hat. Eigentlich ist es altbekannt, daß Lyrik gerade in ihrer Verdichtung von Zusammenhängen, der Konkretisierung von Gedankengängen und assoziativen Sprüngen etwas dazu beitragen kann, bestimmte komplexe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen und auf klare Aussagen herunterzubrechen.

SB: Haben Übersetzungen aus dem Türkischen ins Deutsche und umgekehrt etwas Spezifisches? Schließlich hat das Türkische eine ganz andere Klangfarbe und grundverschiedene Grammatik, vom Satzbau ganz zu schweigen.

MP: Die Knackpunkte liegen zum einen darin, daß das Türkische eine grammatikalisch aufgebaute Sprache ist, das heißt, es gibt den Wortstamm, an dem die Zeitform, das Personalpronomen, eine Möglichkeitsform und so weiter herangehängt werden. Das Türkische entwickelt sich auf diese Weise von diesem kleinen Verbstamm hin zu einer Endlosschlangenform. Das hat den Vorteil, daß man im Türkischen gut dichten kann, weil man immer einen vokalischen Gleichklang hat. Das Türkische hat eine große und eine kleine Vokalharmonie mit dunklen und hellen Vokalen. Für mich hat das Türkische bereits als Alltagssprache eine faszinierende Poesie, was bei Gedicht-Rezitationen sehr gut herauskommt.

Es gibt eine wunderbare Einspielung von Nazim Hikmet-Gedichten durch den Hamburger Schauspieler Demir Gökgöl, der einer der Lieblingsschauspieler von Fatih Akin war. Da merkt man, was für eine lyrische Kraft im Türkischen drinsteckt. Leider ist Demir Gökgöl vor zwei Jahren gestorben. Das Deutsche klingt dagegen relativ hölzern, was für einen Übersetzer eine richtige Herausforderung darstellt, um einen Reim dort hereinzubringen, wo in der Ein-zu-eins-Übersetzung kein Reim zu finden ist, ganz zu schweigen von der vokalischen oder Konsonanten-Harmonie. Beim Lektorat haben wir bei vielen Gedichten regelrecht Blut und Wasser geschwitzt, wenn wir versuchten, den Rhythmus und das Lautbild Nazim Hikmets beizubehalten, ohne am Inhalt Abstriche zu machen.

SB: Wie ist das mit dem Reim, der im Original keinen Reim hat, zu verstehen?

MP: Nazim Hikmet hat vieles gereimt, aber auch frei-rhythmisch, ohne Endreim gearbeitet, aber manchmal finden sich Zwischenreime mitten in der Verszeile, wo ein Wort steht, das sich nachfolgend auf den Endreim oder wieder auf einen Zwischenreim bezieht. Es gibt eine sehr lange persische, arabische und türkische Tradition der Dichtkunst, und Nazim Hikmet hat aus all diesen Quellen geschöpft. Man darf nicht vergessen, daß er sozusagen eine mindestens 2000 Jahre alte poetische Tradition in sein Werk aufgenommen hat. Da gibt es viele Formen, die im Deutschen oft gar nicht bekannt beziehungsweise erst durch Friedrich Rückert oder auch Goethe und weniger bekannte Leute für den europäischen Raum entdeckt worden sind. So hat Goethe die Hafis- oder Rumi-Übersetzung in seinen West-östlichen Divan übernommen. Oder es gibt literarische Formen, wo das Schlußwort der Verszeile im Anfang der nächsten Verszeile wieder aufgegriffen wird.

All diese Formen stehen bei Nazim Hikmet neben einer sehr harten futuristischen Form, die nicht unbedingt schön oder gereimt sein will. Aber das sind Dinge, die über das gesprochene Wort, über die Vokale funktionieren, wie bei Wosnessenskij, wo man auf das erste Schriftbild hin sagt, der Kerl kann nicht reimen. Doch wenn man das spricht, spürt man das Feuer und die innere Harmonie. Das ist wirklich eine spannende Herausforderung. Bei Nazim Hikmet wie auch bei Leuten, die sich in ihrer Dichtkunst explizit auf ihn beziehen und das fortführen wie die sowjetischen Dichter aus den 60er und 70er Jahren, bis hin zu Leuten, die heute Gedichte oder auch Songtexte aus dem postsowjetischen Underground schreiben wie zum Beispiel Ermen Anti von der kasachischen Punkband Adaptatsija, merkt man, daß es da einen direkten Bezug gibt, bis dahin daß man es in eine punkmusikalische Struktur einbringen kann.

SB: Haben Nazim Hikmets Gedichte auch beim Juni-Aufstand im letzten Jahr im Gezi-Park eine Rolle gespielt?

MP: Das ist eine schwierige Frage. Nazim Hikmet ist tatsächlich zu einem Volksdichter im wahrsten Sinne des Wortes geworden. Viele seiner Gedichte sind in der Türkei von Pop- und Rockbands vertont worden und können auch von älteren Leuten, die über einen langen Zeitraum politisch sozialisiert sind, mitgesungen werden. Das trifft jedoch auch auf Schüler zu, die Nazim Hikmets Gefängnis-Gedichte aus Bursa wirklich Wort für Wort ohne Textvorlage mitsingen können. Ich habe einmal erlebt, wie ein Taxifahrer in Berlin Gedichte von Nazim Hikmet und Orhan Veli frei rezitiert hat. Diese Sachen sind tatsächlich in das popkulturelle Gedächtnis eingedrungen. Das wirkt immer noch nach.

SB: Mario, vielen Dank für das Gespräch.

Grabstein mit schwarzer Silhouette - Foto: von tr:Kullanici:Salih.melikoglu on tr.wikipedia (tr:Kullanici:Salih.melikoglu on tr.wikipedia) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Das Grab Nazim Hikmets auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau
Foto: von tr:Kullanici:Salih.melikoglu on tr.wikipedia (tr:Kullanici:Salih.melikoglu on tr.wikipedia) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons


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5. Dezember 2014


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