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INTERVIEW/066: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ...    Ingar Solty im Gespräch (2) (SB)


Widerstand als Klassenkampf neuformieren

Interview am 19. Mai 2016 im Brecht-Haus in Berlin Mitte (2. Teil)



I. Solty in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ingar Solty
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im ersten Teil eines Gesprächs, das der Schattenblick mit Ingar Solty, einem der beiden Organisatoren der Tagung "Richtige Literatur im Falschen?", die vom 19. bis 21. Mai im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin stattfand, führen konnte [1], standen die Entstehung dieser Veranstaltung und ihrer Vorläuferin im vergangenen Jahr, aber auch einige der Fragen, die an diesen drei Tagen von Autoren und Autorinnen, Literatur- und Kulturwissenschaftlern unter Mitwirkung weiterer Interessierter diskutiert wurden. Im zweiten Teil geht es nun, noch etwas allgemeiner gefaßt, um die auf der Tagung aufeinandertreffenden verschiedenen Theorieansätze, den Sicherheitsdiskurs der Linken, die Transformationsdebatte sowie die gegenwärtige Renaissance des Revolutionsbegriffs.


Schattenblick (SB): Hier auf der Tagung haben verschiedene Generationen zusammengefunden. Wie verträglich oder unverträglich sind denn beispielsweise klassische Werkkreis-Autoren, die eine dezidierte Vorstellung davon haben, was Literatur in der Arbeitswelt bedeutet, und neuere Literaten, die in dieser Tradition nicht so verankert sind?

Ingar Solty (InS): Das Spektrum reicht von Erasmus Schöfer, der ist Jahrgang 1931, bis hin zu Ann Cotten, die mit Jahrgang 1982 die Jüngste ist; ich selbst bin Jahrgang 1979. Da gibt es natürlich ganz unterschiedliche, auch erkenntnistheoretisch unterschiedliche bis verschiedene Erfahrungshorizonte. Meinem Eindruck nach war sehr viel Übersetzungsarbeit nötig für diejenigen, die eher durch marxistisch orientierte Theorieansätze geprägt wurden, was vor allem die ältere Generation, aber auch mich betrifft. Viele haben dagegen eher poststrukturalistische, postmoderne Theorieansätze wahrgenommen. Daraus ergeben sich auch ganz einfach andere Herangehensweisen, etwa wenn es darum geht, sich selbst als historisch anzuerkennen und die eigene Verhandlung der Gegenwart anhand historischer Ansätze, Politik und Literatur zu diskutieren, aufzuarbeiten.

Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Als wir die erste Tagung konzipierten, orientierten wir uns etwa an dem historischen Diskurs über Literatur und Gesellschaft, also der Formalismusdebatte, der Expressionismusdebatte. Bei einigen der eher poststrukturalistisch beeinflußten Teilnehmenden gab es da Brüche, sie konnten - so war mein Eindruck - mit dieser Herangehensweise nicht so viel anfangen. Da ist die Methode eher sich in der Geschichte zu bedienen, um vielleicht etwas ganz Neues zu schaffen, wobei ich sagen würde: Man würde sich wundern, wenn man tiefer in die Geschichte guckt, denn das ist oft gar nicht neu, sondern das gab es schon einmal und wurde verworfen. Das war das eine und da ist zwischen den verschiedenen Ausgangspunkten sicherlich Vermittlungsarbeit zu leisten: Worüber reden wir? Mit anderen Worten: Uns war klar, daß wir nicht nur zwischen Wissenschaftlern und Schriftstellern würden Brücken schlagen müssen, sondern auch wegen der teilweise durchaus disparaten politischen theoretischen Erfahrungen. Aber auch das kann ja befruchtend wirken. Außerdem ist es deshalb jetzt sehr interessant zu sehen, inwieweit im letzten Jahr eine Basis für ein besseres Verständnis der theoretischen Herkunftsorte und Diskurse geschaffen werden konnte für die Diskussion, die wir über Literatur, Gesellschaft und Zukunft führen wollen.

SB: Was die Referentinnen und Referenten betrifft, habt ihr eine relativ hohe Überschneidung mit denen der ersten Tagung, es sind aber auch noch neue Leute dazugekommen. Habt ihr schon daran gedacht, euch sozusagen offiziell als Kreis zu konstituieren, um eure Zusammenarbeit auf festere Füße zu stellen?

InS: Diese Frage müßte man wahrscheinlich zwischen den einzelnen Beteiligten, die an dieser wie auch der vorigen Diskussion teilnehmen, diskutieren. Es hat zwischen vielen schon vorher gemeinsame Projekte und eine gewisse Zusammenarbeit gegeben. Um für mich zu sprechen: Ich habe mit David Salomon schon relativ viel im Wissenschaftsbereich zusammengearbeitet, mit Thomas Wagner hatte ich durch verschiedenste politische und Wissenschaftskonferenzen viel zu tun, auch mit dem Literaturwissenschaftler Helmut Peitsch, der häufig für "Das Argument" schreibt, und mit dem Germanisten und Kulturwissenschaftler Jan Loheit, der zugleich auch Redakteur beim Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus ist, an dem ich auch mitarbeite.

Ob sich die gemeinsamen Projekte, die schon vorher existierten, durch die Diskussion ästhetischer Fragestellungen intensiviert haben, ist nicht so einfach zu beantworten. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, daß daraus noch kein über die Symposien hinausgehender, dauerhafter Arbeitszusammenhang entstanden wäre. Aber vielleicht kommt das noch. Sicherlich hat sich zwischen einigen der Kontakt intensiviert, und sei es auch nur über die sozialen Medien, wo man einfach mehr Anteil genommen hat an der Arbeit der anderen. Vielleicht hätte ich mich zum Beispiel andernfalls nicht dazu entschieden, Katrin Rögglas Saarbrücker Poesievorlesungen zu rezensieren - also ohne das besonders verstärkte Interesse an ihrer Arbeit als Ergebnis der ersten Tagung. Es hat auch Diskussionen beispielsweise in Tageszeitungen wie der jungen Welt mit mehreren Beiträgen gegeben, die dann auch Bezug aufeinander genommen haben.

SB: Eine Frage noch zum Titel der Tagung "Richtige Literatur im Falschen?". Ist das nicht auch erklärungsbedürftig? Wie ist das angekommen bei Interessierten, die vielleicht nicht ganz so tief im Literaturbetrieb zu Hause sind?

InS: Es ist eine Referenz zu dem berühmten Satz von Theodor W. Adorno "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", der in gewisser Weise invertiert ist, denn für Adorno hätte es da eigentlich kein Fragezeichen gegeben und er hätte sicherlich auch in der Realismusdiskussion immer gern mal wieder Einspruch erhoben. Adorno hatte natürlich auch seine Lieblinge wie zum Beispiel Samuel Beckett, weil der für ihn seiner Vorstellung nahekam, dass "die Aufgabe von Kunst heute ist, Chaos in die Ordnung zu bringen". Wir wollten die Frage nach der Möglichkeit, ob es politische Literatur auch unter den gegebenen Verhältnissen geben kann, dagegen vom Ergebnis her offen stellen. Interessant waren die Reaktionen bei manchen, die sehr wohl wußten, daß sich dieser Titel auf Adorno bezieht. Wolfgang Fritz Haug zum Beispiel sagte, das sei doch grammatikalisch falsch, weil es eigentlich "richtige Literatur in der falschen Literatur" heißen müßte. Wir haben uns dann darauf zurückgezogen, daß es "das Falsche" doch geben kann. Für mich ist es am Ende aber eher eine Witzelei, denn natürlich gibt es auch im Falschen - und der Kapitalismus ist und bleibt das Falsche - richtige Literatur.


I. Solty in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Falsch und richtig - klare Fronten
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Läßt sich denn aus dieser Referenz schlußfolgern, daß sich die Initiatoren der Tagung im weitesten Sinne als Adorno-Schüler verstehen?

InS: Enno Stahl ist mehr noch als ich durch die Kritische Theorie beeinflußt. Als ich angefangen habe zu studieren und schon in der Schulzeit war ich auch sehr an ihr interessiert und durch sie geprägt. Aber das hat sich dann über die Jahre hinweg etwas gelegt durch den Versuch, die Frankfurter Schule, d.h. die Kritische Theorie nach 1945, selber zu historisieren als eine Form des Marxismus unter den Bedingungen der Niederlage nach 1945 und den Bedingungen dieser besonderen Sonderepoche des Fordismus mit gleichzeitig wachsenden Profitraten und Reallöhnen, die aber von dieser Theorie mit ihrem Fokus auf die Reproduktion des Kapitalismus, den sie "Spätkapitalismus" nannten, selber nicht als Sonderepoche reflektiert wurde, ja wohl auch nicht reflektiert werden konnte. Denn das gleiche Problem der Wahrnehmung dieses "Goldenen Zeitalters des Kapitalismus" prägt ja auch alle anderen neo- oder postmarxistischen Theorien der Zeit: Stuart Halls Cultural Studies, der französische Strukturalismus mit Althusser, Foucault etc. Das änderte sich ja erst mit der Epiphanie von 1968 und der Hinwendung zu akteursorientierten Theorien, die dann aber wiederum die Analyse der gesellschaftlichen Strukturen des Kapitalismus über Bord kippten - bis hin zum radikalen Subjektivismus der Postmoderne. Ich glaube, es wäre deshalb wichtig, diese Art des historischen Denkens nicht so weiterzutreiben, als sei es nicht selbst Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche marxistischen Denkens nach oder in der Niederlage gewesen, die sich dann immer weiter vom Marx'schen Projekt entfernte, das mit seinen vielfältigen Weiterentwicklungen - Luxemburg, Gramsci bis heute David Harvey, Ellen Wood oder Leo Panitch - für mich weiter der Ausgangspunkt jeder Diskussion um Alternativen zur bestehenden Gesellschaft ist.

SB: Beim Hamburger Institut für Sozialforschung ist 2010 eine Dissertation über die Zeit, die Herbert Marcuse und andere Beteiligte der Frankfurter Schule in den USA verbrachten, veröffentlicht worden. [2] Darin wird unter anderem Marcuses Zusammenarbeit mit den dortigen Geheimdiensten im sogenannten Ost-West-Konflikt thematisiert. Müßte da nicht in der hiesigen Linken das Ansehen der Frankfurter Schule neu überdacht oder zumindest in Frage gestellt werden?

InS: Wahrscheinlich hängt das davon ab, mit wem man spricht und wie kritisch derjenige Marcuse sieht. Ich persönlich rechne es ihm hoch an, daß er seine Theorie vom "Eindimensionalen Menschen", die selbst ja Ausdruck dieses konservativ-pessimistischen Reproduktionsmarxismus ist, wie ich ihn eben geschildert habe, mit der aus dieser Analyse folgenden Randgruppenstrategie - Aussteiger, Arbeitslose, psychisch Kranke etc. als plötzliche neue revolutionäre Subjekte, weil scheinbar die Arbeiterklasse durch die Konsumgesellschaft integriert schien - daß er diese Analyse zurücknahm - angesichts der wiedererstarkten Klassenkämpfe und der wilden Streiks von 1967/68, die er im Gegensatz zu Adorno eben noch so erlebte, daß er sie theoretisch reflektieren konnte. In Schriften wie "Konterrevolution und Revolte" etc. Da revidiert er eben diese einseitig auf die Reproduktion des Systems fokussierte strukturalistische und deterministische Art mit Marx zu denken. Zugleich gibt es Dinge, eher noch in seinen Schriften zum Liberalismus wie "Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung", die ich heute noch sehr interessant finde, gerade vor dem Hintergrund des Aufstiegs der populistischen Rechten, und zum Teil natürlich auch - allerdings kritisch - das, was er über die Kultur, die affirmative Kultur geschrieben hat.

Es hat ja Versuche gegeben, anläßlich des 50jährigen Jubiläums des "Eindimensionalen Menschen" das Interesse an Marcuse wieder zu wecken. Allerdings ist er trotz allem meiner Meinung nach doch sehr stark von der Geschichte geprägt und durch den Entstehungskontext bedingt. Interessanter finde ich, daß das ganze Projekt der Kritischen Theorie später auf die Frankfurter Schule reduziert wurde. Franz Neumann beispielsweise ist für mich im Hinblick sowohl auf den Aufstieg der Rechten als auch auf die neue europäische Wirtschaftsregierung ein hochaktueller Denker aus diesem Kreis - wie auch Otto Kirchheimer in der politischen Soziologie, obwohl beide aus heutiger Sicht eher am Rande des Frankfurter Instituts standen.

SB: Du hast unter anderem auch zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion publiziert. Welche Stoßrichtung sollte dieser Diskurs deiner Meinung nach nehmen?

InS: Darüber habe ich analytisch geschrieben im Rahmen einer Studie über die neue deutsche Außenpolitik, die im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden ist und die das Ziel hatte zu erklären, wie es zu dieser Zäsur in der Außenpolitik, d.h. einer neuen imperial-realistischen Offensivausrichtung gekommen ist. [3] Die Flüchtlingskrise wurde dabei vor allem in Hinblick auf die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Globalisierung diskutiert. In einem Aufsatz in der Zeitschrift Luxemburg [4] habe ich die Flüchtlingsfrage dann aus einer stärker unmittelbar politisch-strategischen Perspektive behandelt und gefragt, wie verhindert werden kann, dass die Kombination aus Krise, Austeritätspolitik, neoliberaler Flüchtlingspolitik und islamfundamentalistischem Terrorismus zum Konjukturprogramm der nationalistischen Rechten zwischen Pegida und AfD wird.

Ich habe mir die Frage gestellt, wie die Linke in diesen für sie doch sehr ungünstigen, finsteren Zeiten handlungsfähig werden kann. Die Linke war ja ein Anhängsel - und ist es in Teilen immer noch - von Merkel und ihrem Satz "Wir schaffen das", indem sie erklärte, daß die Integration geschafft werden muß. Die Linke kann aber kaum Einfluß nehmen auf die Rahmenbedingungen, die Integration möglich werden lassen. Das ist eine sehr heikle Debatte, denn wenn eine Million Flüchtlinge integriert werden müssen, übt das einen erheblichen Druck auf den Arbeits- und Wohnungsmarkt aus, solange an der schwarzen Null und der Austeritätspolitik festgehalten wird. Die Verhältnisse sind eigentlich so ins Arge geraten, daß sie die Machtfrage stellen müßte, es aber realistisch gesehen nicht kann.

Meine Position dazu ist, daß die Linke auch das Sicherheitsthema besetzen sollte, was allerdings in der Regel, wenn Linke aus populistischen Gründen glauben, das tun zu müssen, so wie Rot-Grün und die Dritte-Weg-Sozialdemokraten mit ihrer Null-Toleranzpolitik das gemacht haben, dazu führt, daß sie sich eher den Rechten anbiedern und deren Politik verfolgen, das politische Spektrum also nach rechts verschieben. Das kann natürlich nicht der Ansatz sein. Ich bin auch gegen Obergrenzen, die gibt es beim verfassungsmäßigen Recht auf Asyl nicht. In der Linken ist aber die Tendenz auszumachen, die Sicherheitsfrage als per se rechts anzusehen, was sie meines Erachtens nicht ist.

Ich habe dafür plädiert, die Sicherheitsproblematik als eine anti-neoliberale Stoßrichtung aufzulösen, weil es ein Problem ist, wenn Kapitalismus zu Kriminalität führt - was er ja tut - und die Linke darauf keine Antwort hat. Mein Vorschlag lautet, die Sicherheitsfrage nicht auf die innere Sicherheit zu reduzieren, sondern anzukoppeln an Fragen der sozialen Absicherung und des Gemeinwesens, also danach, wie wir eigentlich leben wollen und wie sich zum Beispiel Sicherheit mit der Planbarkeit von Familie und Beruf, mit nicht-prekären Arbeitsverhältnissen und armutsfesten Renten vereinbaren läßt. Vor der Bundestagswahl 2017 wird es wieder eine Rentendebatte geben. Die SPD schwenkt ja mittlerweile auf diesen Kurs ein, wenngleich sie selber für die grassierende Altersarmut verantwortlich ist. In der Rosa-Luxemburg-Stiftung, für die ich auch arbeite, sprechen wir von der Notwendigkeit der Sichtbarmachung eines "dritten Pols", wie Tom Strohschneider das genannt hat, also ein dritter Pol gruppiert um ein "Lager der Solidarität", das ein kollektiv-solidarisches, antineoliberales Projekt der Wiedergewinnung der Demokratie und sozialen Gerechtigkeit formuliert, das sich sowohl gegen den ersten Pol des autoritären Neoliberalismus des Establishments richtet und auch eine Alternative ist zum zweiten Pol des autoritären nationalistischen Populismus von rechts, den die Politik des Establishments hervorgebracht hat. Mein Vorschlag zur Stellung der Sicherheitsfrage von links ist in diesem Kontext zu sehen, d.h. der Frage, wie man den "dritten Pol", der wie Umfragen zeigen ja längst schon existiert, sichtbar und erfahrbar machen kann, wie Mario Candeias das beschrieben hat.

SB: Wie würdest du Neoliberalismus überhaupt definieren? Bei den Protesten gegen TTIP werden häufig die Auswüchse des Kapitalismus und bestimmte Zuspitzungen des Freihandels kritisiert auf der Basis eines kapitalistischen Verwertungssystems, das durchaus für erhaltenswert gehalten wird. Unter den Gegnern der umstrittenen Freihandelsabkommen ist viel vom Neoliberalismus die Rede, wo vielleicht grundsätzlichere Fragen gestellt werden sollten. Wie siehst du das?

InS: Viele verstehen unter Neoliberalismus einfach eine Ideologie des Marktes, häufig in Verbindung mit Colin Crouch, der vom "merkwürdigen Überleben des Neoliberalismus" gesprochen hat. Da gibt es die Vorstellung, es könne eine Rückkehr zum Vor-Neoliberalismus, also zum Fordismus geben, dem historischen Klassenkompromiß zwischen Kapital und Arbeit, vermittelt über korporatistische Strukturen und eine keynesianische nachfrageorientierte Vollbeschäftigungspolitik als materieller Grundlage der Demokratie etc. Ich verstehe Neoliberalismus hingegen als ein historisches Klassenprojekt der Bourgeoisie, als das Projekt Globalisierung des Kapitalismus, um die Krise der 70er Jahre, in der ich eine Profit-Klemmkrise sehe und die aus Sicht der Herrschenden als eine "Krise von zuviel Demokratie" erschien, wie das die Trilaterale Kommission seinerzeit nannte, zu lösen. Die Globalisierung wurde erfolgreich als Vehikel genutzt, um die Klassenmacht des Kapitals wiederherzustellen durch die Mobilität des Kapitals sowie dessen Fähigkeit, Unterschiede zwischen den Nationalstaaten bis hinein in die Regionen auszunutzen, um Subventionen vom Staat und Konzessionen von den Lohnabhängigen zu bekommen. Das ist ein Klassenprojekt, das die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit auf globaler Ebene dramatisch verschoben hat. Weil aber Klassenkampf uns hierhin gebracht hat, ein Klassenkampf, der das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit dramatisch zuungunsten der Lohnabhängigen verschoben hat, gibt es auch kein einfaches Zurück zum keynesianischen Wohlfahrtsstaat, so wie sich Crouch und andere das erhoffen. Denn der keynesianische Wohlfahrtsstaat war eben lediglich ein Ausdruck einer Situation, in der die Lohnabhängigen bedeutend stärker waren als heute.

Die historische Lehre der neoliberalen Wende ist meines Erachtens, dass ein großes Denkparadigma zuende gegangen ist, das in der Nachkriegszeit und bis in die 1970er Jahre sowohl im Westen als auch im Osten auf seine Weise populär war und das auch dem Frankfurter-Schule-Denken, wie ich es zuvor skizzierte, zugrunde lag. Das war die Vorstellung, dass der Kapitalismus sich dauerhaft zivilisieren, eindämmen und von seinen mutmaßlichen Geburtswehen - ganz am Anfang gab es den 16 Stunden-Arbeitstag, Kinderarbeit, die totale Marktabhängigkeit in Sachen Arbeitslosigkeit, Krankheit etc. - befreien ließe, die Vorstellung, dass sich die Widersprüche des Kapitalismus in einer Mischwirtschaft aufheben lassen würden, so wie man sich das in dieser Zeit dachte: der Westen wird planwirtschaftlicher, der Osten wird marktwirtschaftlicher und die "Ostpolitik" sei lediglich Ausdruck dieser quasi-natürlichen Entwicklung. Verkannt wurde meines Erachtens, dass diese Entwicklung ein Ergebnis von Klassenkämpfen war. Und der Neoliberalismus lehrt uns auf eine sehr schmerzhafte Weise, dass keine Errungenschaft, die wir gelernt haben, mit dem "Westen" und seinem Kapitalismus zu assoziieren, Demokratie, Sozialstaat etc. nicht von Seiten des Kapitals infrage gestellt werden kann.

Die Vorstellung, den Kapitalismus ins Gleichgewicht bringen zu können, die - bei allen Rückschritten, bei allen Krisen - zwischen 1875 und 1975 plausibel erscheinen mochte, ist mit dem Neoliberalismus meines Erachtens gescheitert. Die Idee, sichere, gute Arbeitsplätze und hohe Löhne, weniger Arbeiten, mehr Freizeit etc. seien unter den Bedingungen der privaten Profitproduktion, also des Privateigentums an den Produktionsmitteln, zu schaffen, was ohnehin nur regional gelang, hat sich ebenfalls als Illusion erwiesen. Wir können daraus lernen, daß es dahin kein Zurück geben wird. In der Krise der 70er Jahre gab es nur die Alternative zwischen dem, was wir jetzt haben, also Neoliberalismus oder Wirtschaftsdemokratie, Sozialismus, also einem Voranschreiten in antikapitalistischer Richtung. In der Beschreibung ist man sich da mit Crouch wohl auch einig, auch mit Wolfgang Streeck und seiner These vom "postdemokratischen Kapitalismus". Aber vor den politischen Konsequenzen schrecken viele, glaube ich, noch zurück. Denn daraus folgt, daß nichts daran vorbei führt, die Kräfteverhältnisse, die sich global so dramatisch zuungunsten der Arbeit verschoben haben, wieder zurück zu verschieben. Und dann reden wir über Praxis. Die mühsame Arbeit in den Ebenen des Organisierens, Reorganisierens, der Neuformierung des Widerstands als Klassenwiderstand. Eine Arbeit, die keine abstrakte Diskussion über Sinn oder Sinnlosigkeit des Kapitalismus ersetzt.

Nun, und wenn man mit diesem praktischen Ziel davon ausgeht, daß der Kapitalismus nicht die letzte Antwort der Geschichte ist, kann man natürlich mit klassischen Sozialdemokraten zusammenarbeiten, gemeinsam Übergangsforderungen verwirklichen etc. Aber diese klassischen Sozialdemokraten, die dem notwendigen Konflikt, der notwendigen Herausforderung der ökonomisch Mächtigen, nicht aus dem Weg gehen wollen, existieren hierzulande und in Kontinentaleuropa mit seinen Proporzwahlsystemen insgesamt mittlerweile außerhalb der etablierten Sozialdemokratien. Anders sieht das in Großbritannien mit Jeremy Corbyn und den USA mit Bernie Sanders aus, wo man diskutieren könnte, ob es vielleicht möglich wäre, diese Parteien mit einem solchen konfliktorientierten klassischen Sozialdemokratismus wiederzugewinnen. So oder so: Wenn man den Neoliberalismus als den Hauptgegner erkannt hat, würde ich sagen, ist die wichtigste Frage, wie man den Übergang einleiten und wieder in eine Offensivposition der Arbeiterbewegung kommen kann, denn die Überwindung des Neoliberalismus ist eine Voraussetzung dafür, um den Kapitalismus langfristig zu überwinden.

SB: Daran schließt sich die Frage nach der Zukunft, einem der zentralen Begriffe der Tagung, fast schon von selbst an, genauer gesagt nach Reform oder Revolution, um die klassischen Begriffe zu verwenden, oder eben nach der sogenannten Transformation. Könntest du dazu etwas sagen?

InS: Manche Leute würden sagen, daß man da, wo man früher von Revolution gesprochen hätte, heute von Transformation spricht. Vor dem Hintergrund der verschobenen Kräfteverhältnisse, die ich eben geschildert habe, ist es natürlich schwierig, von Revolution zu sprechen. Der Neoliberalismus muß als Konterrevolution gegen die Errungenschaften der Arbeiterbewegung verstanden werden. Hinzu kommt, daß der Transformationsbegriff aus der Tradition vor allem des westlichen oder auch gramscianischen Marxismus kommt. Gramsci ist der Theoretiker des Scheiterns der Revolution im Westen, d.h. in entwickelten kapitalistischen Staaten. Er war ein glühender Anhänger Lenins, kein postmoderner Zivilgesellschaftstheoretiker, zu dem er heute gerne gemacht wird. Aber Gramsci erkannte, daß das, was in Rußland, einem unterentwickelten Land in der Peripherie des Kapitalismus, an Bewegungskrieg möglich war, im entwickelten Kapitalismus, wo die Herrschaft des Kapitals in die Zivilgesellschaft überwechselt, ganz anders aussieht und daß man nicht einfach den Staat übernehmen und dann glauben kann, mit der politischen Macht hätte man auch gleich die gesellschaftliche und ökonomische Macht inne.

Der Transformationsbegriff ist der Versuch, eine radikale antikapitalistische Strategie unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus zu denken. Dieser Begriff unterscheidet sich vom Reformbegriff insofern, als er davon ausgeht, daß es Grenzen der Reformierbarkeit des Kapitalismus gibt und daß es auch nicht wünschenswert ist, sich auf eine reine Reformillusion des Kapitalismus zu kaprizieren. Aber zugleich geht er auch von dem Wissen aus, daß eben die alten Revolutionskonzepte nicht mehr funktionieren, jedenfalls hier nicht. Interessant ist natürlich, daß der Revolutionsbegriff gerade jetzt eine Renaissance feiert und zwar nicht nur in der Werbung, sondern wirklich im Politischen, wenn man jetzt einmal an Bernie Sanders denkt, der von einer politischen Revolution spricht.

Diese politische Terminologie hat mittlerweile auch wieder Eingang gefunden in die Diskussionen der hiesigen Linken. In dem neuesten Strategiepapier, das Bernd Riexinger und Katja Kipping als Vorsitzende der Linkspartei geschrieben haben [5], fordern sie etwa eine "Revolution für Demokratie und soziale Gerechtigkeit". Es ist interessant zu sehen, wie der Revolutionsbegriff in nicht-revolutionären Zeiten so eine gewisse Zugkraft entfaltet vor dem Hintergrund der tiefen Legitimitäts- und Repräsentationskrise, die es im Kapitalismus des Westens gibt. Ich finde den Revolutionsbegriff weiterhin sympathisch, bin aber insgesamt vielleicht doch eklektisch. Ob man das nun Transformation oder Revolution nennt, ist mir am Ende relativ egal, solange es um die Fragestellung geht, wie man heute unter den Bedingungen der Defensive der Linken und des entwickelten Kapitalismus eine antikapitalistische Strategie denken kann.

SB: Vielen Dank, Ingar, für dieses lange Gespräch.


Fußnoten:

[1] Erster Teil des Interviews mit Ingar Solty im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:
INTERVIEW/065: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ...    Ingar Solty im Gespräch (1) (SB)

[2] Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Von Tim B. Müller. Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH. Siehe die Rezension im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH
REZENSION/573: Tim B. Müller - Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg (SB)

[3] Exportweltmeister in Fluchtursachen: Die neue deutsche Außenpolitik, die Krise und linke Alternativen, von Ingar Solty
https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studie_05-2016_Exportweltmeister.pd

[4] Sicherheit: Ein heißes Eisen für die Linke? April 2016, von Ingar Solty
http://www.zeitschrift-luxemburg.de/sicherheit-ein-heisses-eisen-fuer-die-linke

[5] Die kommende Demokratie: Sozialismus 2.0. Zu den Aufgaben und Möglichkeiten einer Partei der Zukunft im Europa von morgen. Manifest von Katja Kipping und Bernd Riexinger, 2015. Broschüre, S. 5


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/044: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Lesen, schreiben, stören ... (SB)
INTERVIEW/063: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Mangel an Sozialkritik ...    Enno Stahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/064: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Die Krise als Chance ...    Erasmus Schöfer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/065: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ...    Ingar Solty im Gespräch (1) (SB)

17. Juni 2016


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