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INTERVIEW/070: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Brüche in Kritik und Fortschritt ...    Bernd Stegemann im Gespräch (SB)


Position beziehen, anstatt die Wirklichkeit schönzureden

Interview am 20. Mai 2016 im Brecht-Haus in Berlin Mitte


Der Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann war bis Sommer 2016 Dramaturg an der Schaubühne in Berlin und wechselt im nächsten Jahr an das neue Berliner Ensemble. Zudem hat der Kulturtheoretiker eine Professur für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" inne. Sein jüngstes Buch "Lob des Realismus" [1] wurde kontrovers diskutiert. Diese Debatte soll in einer weiteren Publikation, die im November 2016 im Verlag Theater der Zeit erscheint, fortgesetzt und vertieft werden. Auf der Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen? II" faßte Bernd Stegemann "Die Zukunft der Literatur" und die "Chancen des Realismus" ins Auge [2]. Am 22. Juli wird er auf einem Symposium über "Theater - Realität - Realismus" [3] einen Vortrag über "Brechts 'eingreifendes Denken' und die Chancen eines Linkspopulismus" halten.


Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Herr Stegemann, in Ihrem Vortrag kamen Sie auf die Strategie zu sprechen, eigene Aussagen etwa mit dem Mittel der Selbstironisierung zu relativieren. So wird im Bereich der deutschen Popmusik häufig mit einem Auge gezwinkert, als ob die eigene Message nicht ganz ernst zu nehmen wäre. Wie erklären Sie sich, daß Künstlerinnen und Künstler meinen, sich von ihren eigenen Aussagen distanzieren zu müssen?

Bernd Stegemann (BS): Das ist schwer zu erklären und stellt auf jeden Fall erst einmal ein Symptom für eine große Unsicherheit dar, wenn man in dem Moment, wo man eine Aussage tätigt, fürchtet, daß man dafür anschließend verhaftet werden kann. Eigentlich verhalten sich die Menschen heute so, wie es Brecht in einem Gedicht über Stadtbewohner sagt: Verwisch die Spuren! Das ist ein ganz interessanter Widerspruch, denn auf der einen Seite surfen alle im Internet und hinterlassen permanent Spuren auf Amazon, Facebook und sonstigen Seiten, machen sich also komplett erkennbar und vermarktbar. Aber wenn es auf der anderen Seite darum geht, seine eigene Sicht auf die Welt zu zeigen, muß man sich ständig absichern und so tun, als hätte man es nicht ganz ernst gemeint oder wüßte es nicht so genau. Diesen Widerspruch kann man erst einmal nur beobachten.

Wenn man in der Kunst oder Theorie unterwegs ist, wirkt diese Haltung häufig ein bißchen kokett, weil man einen Unterhaltungseffekt dadurch herstellt, daß man das, was man gerade gesagt hat, mit einer kleinen Geste wieder verschwinden läßt. Robert Misik hat das einmal sinngemäß so beschrieben: Wenn man heute etwas total ernst meint, macht man sich sofort lächerlich. Es gibt eine große Angst davor, unintelligent zu wirken, und darum produziert man ständig einen double bind, wie es in der Kommunikationswissenschaft heißt: Ich sage etwas, aber signalisiere eigentlich das Gegenteil. Mit dieser Immunisierungsstrategie macht man sich natürlich unangreifbar, aber gleichzeitig verkehrt man die eigene Aussage ins Unsinnige. Dieses Spiel wurde in der Postmoderne so perfektioniert, daß daraus ein unendliches Spiegelkabinett entstanden ist, wo schließlich keiner mehr so genau weiß, worüber eigentlich geredet wird. Das ist so beklagenswert, daß es eigentlich an der Zeit wäre, damit aufzuhören.

SB: In der postmodernen und poststrukturalistischen Theorie wird in diesem Zusammenhang von Kontingenz gesprochen. Damit ist zwar keine Beliebigkeit gemeint, aber es bedeutet dennoch, daß an der Stelle einer Aussage auch eine andere stehen könnte. Hat das nicht möglicherweise zur Folge, daß der Anspruch, sich nicht auf vorgefertigte Strukturen zu stützen, in sich selbst aufgehoben wird?

BS: Der Poststrukturalismus arbeitet mit der Dekonstruktion, durch die jedes Wort, jeder Begriff, jede Benennung so weit hinterfragt wird, daß sie ab einem bestimmten Punkt der Hinterfragung ihre Benennungskraft verliert. Innerhalb eines emanzipatorischen Prozesses hat das einmal eine große Relevanz gehabt. So hat man im universitären Diskurs in den 70er und 80er Jahren durchaus versucht, Macht, die sich in Sprache kristallisiert, auf diese Weise zu dekonstruieren. Das ist natürlich ein richtiger Ansatz. Das Problem ist nur, daß dies in der Postmoderne nicht mehr eine emanzipatorische, sondern mittlerweile eine lähmende Kraft hat, weil man damit das eigene Werkzeug, um überhaupt noch Widerstand und Kritik formulieren zu können, aus der Hand gegeben hat.

Mit dem Kontingenzbegriff wurden permanent Optionen aufgemacht. Option kommt aus dem ökonomischen Denken und meint, zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen zu müssen. Diejenige mit der größten Effizienz wird sich demzufolge am Ende auf dem Markt durchsetzen. Das heißt, nicht mehr der Mensch entscheidet über die Wahl oder die Möglichkeit der Realisierung, sondern der Markt. Darum ist Kontingenz eigentlich ein Umbau aller Lebenspraxen in Marktförmigkeit. Wenn man dann sogar die eigene Sprache immer nur in Optionen, also in Ambivalenzen denkt, wobei wiederum irgendein seltsamer Markt des Gegenübers darüber entscheidet, was sich davon realisiert und was nicht, hat man sich in seinem eigenen Kommunikationsverhalten komplett marktförmig gemacht.

SB: Heutzutage wird, wie von Ihnen am Beispiel des bürgerlichen Realismus geschildert, aus der reinen Abbildung häufig die Schlußfolgerung der Kritik gezogen, was wiederum dazu führt, daß der Begriff der Kritik als solcher entwertet wird. Könnten Sie dazu ein Beispiel aus Ihrer Theaterpraxis nennen?

BS: Wir haben jetzt in der Schaubühne die dänische Politserie Borgen aufgeführt, die auf eine bestimmte Art tatsächlich den Politikbetrieb abbildet. Der Erfolg dieser Serie besteht gerade darin, daß er das Menschelnde am Politikbetrieb extrem stark betont. Alle können sich mit der sympathischen Ministerpräsidentin Brigitte Nyborg identifizieren, weil sie denken, wenn Politiker so sympathisch sind wie diese Frau, dann ist das, was sie tun, irgendwie auch in Ordnung. Das heißt, diese Serie stellt einen riesigen Verblendungszusammenhang hinsichtlich der realpolitischen Interessen und Konsequenzen der Entscheidungen, die dort getroffen werden, dar.

Denn wenn man sich jede einzelne Folge wie ein Brechtsches Modell anschaut, funktioniert eigentlich immer das gleiche. Frau Nyborg löst einen gesellschaftlichen Widerspruch, indem sie eine individuell-authentische Ansprache hält, so daß der Eindruck entsteht, daß es eine emotional richtige Lösung gibt. In Wirklichkeit macht sie Geschäfte mit Lobbyisten, schränkt die Freiheit der Presse ein, ist kolonialistisch unterwegs, geht in Kriege hinein und so weiter. Nur daß diese ganzen realpolitischen Folgen im Glorienschein der individuellen Güte von Frau Nyborg aufgehoben sind. Das heißt, es ist eine Staatsmacht in seiner Problematik absolut verharmlosende, bis ins lügenhafte Gegenteil verkehrende Art der Propaganda für die Schönheit der mitteleuropäischen Demokratien.

Das Witzige daran ist, daß die Drehbuchautoren es in vorherigen Treatments genauso beschrieben haben. Sie wollten eine Propagandasendung für die Demokratie drehen. Immerhin ist es die erfolgreichste Serie, die je in Europa gedreht und jetzt in den USA aufgekauft wurde. Sie wird dort noch einmal auf amerikanisch gedreht, was auch bei House of Cards, einer englischen Serie, der Fall war. Kurioserweise wird der Propagandaaspekt von den Zuschauern gar nicht wahrgenommen, sondern einfach ausgeblendet. Sie denken, das ist endlich einmal ein gelungenes realistisches Abbild von funktionierender Politik. Tatsächlich ist es aber eine Propagandasendung, was ein mündiger Zuschauer durchaus erkennen müßte.

Wir in der Schaubühne haben in Brechtscher Perspektive genau diesen Punkt daran inszeniert. Witzigerweise hat dies zu zwei sehr unterschiedlichen Reaktionen geführt. Diejenigen, die die Serie nicht kennen und vermutlich nicht mögen, sahen darin eine extrem intelligente Aufführung über Politik und waren davon angetan, wie man Widersprüche aufzeigen kann. Die anderen, die die Serie lieben und immer ein wohliges Gefühl haben, wenn sie sie abends anschauen, waren hochgradig verärgert darüber, daß wir ihr Spielzeug kaputtgemacht und es im Theater gewagt haben, eine Fernsehserie zu kritisieren. Das ist doch interessant. Früher hieß es immer, Schiller oder Shakespeare darf man nicht kritisieren. Heute hat man sich daran gewöhnt, aber eine Fernsehserie ist nach wie vor eine heilige Kuh.

SB: TV-Serien haben eine ungeheure Karriere zum Massenmedium vollzogen, während das Theater eher am Rande stattfindet. Wie verhält sich das aus Ihrer Sicht zueinander, zumal Sie offenbar nicht darum herumkommen, sich mit dieser Art von Medialität auseinanderzusetzen?

BS: Die Medialität war für uns nicht das wichtige, sondern daß es offensichtlich einen Ansatz gibt, unsere Demokratie in einer falsch verschönernden Art darzustellen, was durch das Medium Serie so gut kaschiert ist, daß es kein Mensch mehr erkennt. Als Theater haben wir einen Aufklärungsanspruch, den wir bei klassischen Texten ebenso verfolgen wie bei einem modernen Stoff, und das bedeutet, daß wir dann genau den lügenhaften Zusammenhang, sprich propagandistischen Punkt zeigen. Weder wollten wir der Serie eins auswischen noch beweisen, daß wir auch eine Serie auf die Bühne bringen können. Das wäre zudem eine falsche Rivalität, weil man eine Serie nicht mit dem Theater vergleichen kann. Kein Mensch hat Lust, jeden Abend ins selbe Theater zu rennen.

SB: Der dialektische Realismus will Wirklichkeit nicht eins zu eins widerspiegeln, aber könnte es nicht auch darum gehen, daß man mit der Wirklichkeit im Sinne einer weiterführenden Kritik sowohl formal als auch ästhetisch bricht?

BS: Klar, in diesem Sinne hat Brecht auch Verfremdung als Mittel eingesetzt, um einer Sehgewohnheit zu widersprechen bzw. mit ihr zu brechen. Durch diese Irritationen der Sehgewohnheit wird ein staunendes Publikum erzeugt, was Brecht ja wollte. Er wollte kein gerührtes Publikum wie im bürgerlichen Theater, sondern ein Publikum, das sich wundert und denkt, so habe ich das noch nie gesehen. Das ist der eigentliche realistische Punkt. Die kapitalistische Wirklichkeit will, daß bestimmte Bilder von ihr geglaubt werden. Auch Google will in einer ganz bestimmten Art als Firma glaubhaft werden. Wenn ich Google aber so präsentiere, daß das Publikum stutzt und sich fragt: Moment mal, das soll Google sein?, dann hätte ich ein realistisches Bild von Google gezeigt. Das ist der Unterschied.

SB: Herr Stegemann, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10982:debatte-zeitgenoessische-aesthetik-autor-und-regisseur-kevin-rittberger-kritisiert-die-realismus-diskussion-in-der-berliner-akademie-der-kuenste-zur-buchvorstellung-lob-des-realismus-von-bernd-stegemann&catid=101:debatte&Itemid=84
und
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10998:debatte-zeitgenoessische-aesthetik-ii-kathrin-roeggla-antwortet-auf-kevin-rittbergers-kritik-der-buchvorstellung-lob-des-realismus-in-der-berliner-akademie-der-kuenste-und-plaediert-fuer-eine-diskussion-ueber-aesthetik-und-herrschaftsstrukturen&catid=101:debatte&Itemid=84

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0050.html
und
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0051.html

[3] http://realitaet-realismus.net/


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14. Juli 2016


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