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INTERVIEW/072: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - falsch und richtig abgehängt ...    David Salomon im Gespräch (SB)


Die Krise bedarf kritischer Einmischung

Interview am 20. Mai 2016 im Brecht-Haus in Berlin-Mitte


Der Politikwissenschaftler Dr. David Salomon lehrt am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Hildesheim und ist Mitglied der Redaktion der Vierteljahresschrift Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung. Darin fragte er 2013 nach einer "Repolitisierung der Kunst?" und untersuchte 2015, was "Krise, Kunst und Politische Ästhetik" [1] auf literarischem Gebiet hervorbringen. Am Rande der zweiten Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen?" beantwortete David Salomon dem Schattenblick einige Fragen unter anderem zum politischen Gehalt der titelgebenden Sentenz Theodor W. Adornos.


Auf der Literaturtagung - Foto: © 2016 by Schattenblick

David Salomon
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Der Titel der Tagung "Richtige Literatur im falschen" bezieht sich auf Adornos Diktum "Es gibt kein richtiges Leben im falschen". Ist man nicht, wenn man mit absoluten Kategorien arbeitet und damit das Leben in einer kapitalistischen Gesellschaft insgesamt als falsch disqualifiziert, geradezu zur Ohnmacht verurteilt oder läßt sich der Ausspruch Ihrer Ansicht nach nutzbringend relativieren?

David Salomon (DS): Ich habe den Tagungstitel in Anlehnung an das Adorno-Zitat durchaus mit einem Augenzwinkern verstanden. Adorno macht natürlich eine ganz grundsätzliche Aussage über das Ganze als dem Unwahren. Indem er von einem Begriff der Totalität von Gesellschaft ausgeht, weist er einen problematischen Zusammenhang aus und stellt dann auf paradoxe Weise die Frage nach dem Richtigen im Falschen. In gewisser Weise hat das schon etwas mit der Tagung zu tun, weil in der Frage nach dem richtigen Leben im falschen nicht nur eine kritische Aussage gegenüber dem Gegenwärtigen, sondern auch so etwas wie die Hoffnung auf ein Zukünftiges steckt, das zu erreichen wäre, wenn es dem falschen Bestehenden abgetrotzt würde. Bei Adorno steckt somit auch ein utopisches Moment drin. Das Spiel mit paradoxen Formulierungen macht Adorno ja ohnehin sehr gerne, wenn er beispielsweise von der "Erziehung zur Mündigkeit" spricht. Ich habe den Satz vom richtigen Leben im falschen immer in diesem Sinne gelesen; weniger als eine Frage nach einem gelingenden individuellen Leben im unüberwindlichen falschen, sondern vielmehr, danach, wie ein Leben im falschen bestehen kann, das seine Würde aus der Kritik am Falschen zieht und damit auch ein utopisches Moment seiner Überwindung freilegt.

SB: Damit wäre die Frage, wie das Falsche bzw. Richtige überhaupt bestimmt wird, noch nicht geklärt.

DS: Was die Bestimmung des Falschen betrifft, ist Adorno sehr vorsichtig, da hat die Kritische Theorie Frankfurter Provenienz im Grunde immer von Lukács und dem Verdinglichungskapitel in seinem Werk "Geschichte und Klassenbewußtsein" gezehrt. Eine positive Totalität als Möglichkeit zu sehen, wie es Lukács getan hat, hat sie allerdings nicht mehr mitgemacht. Dies spiegelt sich auch in den Konflikten zwischen den Frankfurtern und Lukács wider, weswegen Lukács zur "Dialektik der Aufklärung" gesagt hat: Das ist "Grand Hotel Abgrund". Wenn man so allgemein vom Falschen spricht, steckt ein Sicheinrichten und im Grunde eine Betrachtung dahinter, die gar keine Praxis mehr zuläßt. Adorno gibt dem durchaus Nahrung, wenn er polemisch sagt, daß die einzige Möglichkeit, sich dem Verblendungszusammenhang zu entziehen, darin besteht, sich eine Beckett-Aufführung anzuschauen oder Zwölftonmusik zu spielen.

SB: Schließt der Begriff des Verblendungszusammenhangs, der im wesentlichen auf eine kognitive Sphäre abhebt, nicht im Grunde die Frage der materiellen Widersprüche aus?

DS: Das hat wiederum mit der spezifischen Art und Weise der Rezeption des Verdinglichungskapitels zu tun, die im Kontext der Frankfurter Schule oder jedenfalls bei Adorno zunehmend zu einer bloßen Frage von Ideologie wird, während bei Lukács die materielle Basis noch eine viel größere Rolle spielt. Das Ganze wird noch insbesondere dadurch verstärkt, daß dies in der Tat zunehmend weniger in Verbindung mit einem historisches Klassensubjekt gesehen wird, das in der Lage wäre, die bestehenden Verhältnisse zu überwinden. Der Verblendungszusammenhang, der gewissermaßen universal gesehen wird, verstellt dann den Weg zu einer Klassenpolitik. Das war auch der Grund, daß Brecht Adorno immer eher spöttisch betrachtet hat.

Die Nachwirkungen dieser Debatte berühren teilweise noch Diskussionen von heute und sind vor allem in einer bestimmten Form von Medienkritik sehr lebendig geblieben, wo aus der Kritik der Kulturindustrie resultierend im Grunde als einzig möglichen Umgang mit massenkulturellen Phänomenen eine bestimmte Form von Ideologiekritik gesehen wird. Tatsächlich hat sich eine Lesart, die an Adornos Kulturbegriff andockt, bis heute in starkem Maße durchgesetzt, während es in der Tradition der Kritischen Theorie durchaus andere Ansatzpunkte gab, etwa den von Walter Benjamin, der auch eine produktive Aneignung dieser neuen medialen Vermittlungsformen thematisiert hat.

SB: In der heutigen Diskussion klang auch an, daß die Wirksamkeit von informationstechnischen Systemen oder sozialen Netzwerken schwer bestimmbar ist, weil keiner genau weiß, wer etwas macht und an wen letztlich adressiert wird. Anspruchsvolle Literatur scheint durch diese Entwicklung in eine noch randläufigere Rolle manövriert zu werden als zu früheren Zeiten. Hinzu kommt, daß viele Menschen im Internet wieder anfangen zu schreiben, wenngleich häufig auf einer oberflächlichen Ebene und ohne sich einen Begriff davon zu machen, daß sie mit Sprache umgehen. Wie verhält sich dieser gesellschaftliche Kontext Ihrer Ansicht nach zur Weiterentwicklung von Literatur?

DS: Zunächst einmal müßte man am Anfang dieses Komplexes die Frage aufwerfen, was daran wirklich neu ist. Interessanterweise kehrt nämlich mit dem Aufkommen der E-Mails etwas wieder, was im 19. Jahrhundert normal war. Marx und Engels schrieben sich in London manchmal mehrmals am Tag Briefe, obwohl sie nur ein paar Kilometer voneinander entfernt wohnten. Das war möglich, weil die Post mehrere Male am Tag kam. Der Brief hatte seinerzeit nicht ausschließlich die Bedeutung, die er bekommen hat, als er trotz Telefon fortexistierte, aber stark einbrach und wo die schriftliche Äußerung plötzlich etwas Besonderes wird. Natürlich hat das auch etwas mit dem Fortschritt von Kommunikationsmedien zu tun, als neben der schriftlichen Kommunikationsmöglichkeit noch andere Formen zur Verfügung standen.

Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit die schriftliche Äußerung, die vor dem Einzug der modernen Telekommunikationsmedien zumindest dort, wo man lesen und schreiben konnte, üblich gewesen ist, in ihrer Selbstverständlichkeit wieder restauriert wird. Ein großer Unterschied besteht sicherlich in der Echtzeit der schriftlichen Kommunikation und dem völligen Verschwimmen der Grenze zwischen privater Kommunikation und Veröffentlichung. Welche Bedeutung dies für die Sprachentwicklung hat, müßte man eher Linguisten fragen. Ob es bei der Literatur tatsächlich eine direkte Verbindung gibt zwischen einer bestimmten Form von Internetnutzung und dem Rückgang des Lesens, müßte erst einmal empirisch überprüft werden.

SB: Heute kam auch die Frage auf, wie der Autor sein Leben bestreitet und welche Auswirkungen dies auf seine Arbeit hat. Rein theoretisch könnte man diese Frage zu allen Zeitepochen stellen. Auch Marx hat im wesentlichen durch Geldspenden von Engels gelebt.

DS: Zum Teil aber auch von Honoraren als Korrespondent der New York Daily Tribune. Natürlich ist das kein neues Phänomen. Schon in der klassischen Moderne im 19. Jahrhundert war es geradezu ein Dauerbrenner. Daher kommt auch die Figur des Bohémien, des armen Dichters, der mal idealisiert und mal bedauert wird. Doch seitdem haben sich die Strukturen von Öffentlichkeit mehrfach verändert. So hatte sich in einer bestimmten Zeit des 20. Jahrhunderts eine Öffentlichkeitsstruktur herausgebildet, in der zwei Dinge zusammenkamen: nämlich Zeitungen, die sich selbst getragen haben, und Verlage mit großen Auflagen. Daher konnte man seinerzeit von dem, was man geschrieben hat, zum Teil ganz gut leben, auch wenn man nicht zu den Topverdienern in dem Bereich gehört hat. Heutzutage ist das ganz anders. Michael Wildenhain hat heute eine erschreckende Zahl genannt: Wenn man die Buchverkäufe als Grundlage nimmt, hat ein Autor einen Stundenlohn von 1 Euro 44.

Das verdeutlicht, wie sich die Öffentlichkeitsstruktur verändert hat, und zwar nicht nur im Bereich der belletristischen Literatur. Wir haben auch eine große Zeitungskrise, die stark mit dem Einbrechen des Anzeigenmarkts und dem Aufkommen anderer Formen von Anzeigen zusammenhängt. Auch das Wissenschaftsverlagswesen hat sich in einer Weise entwickelt, daß die Bücher, die dort erscheinen, zum Teil kaum noch bezahlbar sind. So sind die Verlage, aber insbesondere die reinen Wissenschaftsverlage, in hohem Maße von Bibliotheken abhängig, aber inzwischen läuft immer mehr über Lizenzverkäufe auf bestimmte E-Book-Pakete und dergleichen. Stark abgenommen hat dagegen die wissenschaftliche Literatur in Publikumsverlagen, auch wenn einige Buchreihen weiter veröffentlicht werden und im Suhrkamp Verlag noch relativ viel erscheint. Das ist jedoch fast nichts im Vergleich zu den 70er Jahren, als literarische und theoretische Texte in Taschenbuchformat zuhauf und zu günstigen Preisen auf den Markt geworfen wurden. Hier auf der Tagung gehöre ich zu den Wissenschaftlern, zu den Schwierigkeiten im Literaturbetrieb können die Schriftsteller sicherlich mehr sagen, aber unbestritten gibt es ein zunehmendes Prekarität auch unter Autoren. Ob und wie sich dies auf die Literatur auswirkt, ist natürlich eine spannende Frage.

SB: Sind nicht auch Wissenschaftler in einem vergleichbaren Maße von prekären Existenzformen betroffen, zumal an den Universitäten durch Drittmittelabhängigkeit und Einjahresverträge kaum noch Gestaltungsraum für freie Forschung und Projektplanung vorhanden ist?

DS: Das ist eine etwas andere Form von Prekarität. Wissenschaftler sind in der Regel, wenn sie Universitätsanbindung haben, keine Freiberufler. Das heißt, hier ist das Problem der wissenschaftlichen Existenz jedenfalls im prekären Mittelbausegment der Universitäten anders gelagert. Natürlich gibt es auch Freiberufler unter den Wissenschaftlern, die sich von Projekt zu Projekt hangeln und von daher tatsächlich vom permanenten Damoklesschwert, aus dem Betrieb herauszufallen, bedroht sind. Das Hauptproblem besteht aber in den Befristungen und der daraus resultierenden Unfähigkeit, langfristig zu planen.

SB: Ist es aus Ihrer persönlichen Sicht angesichts der zunehmenden repressiven Verhältnisse nicht erforderlich, daß sich in der Literatur, in den Wissenschaften wie überhaupt in den geistig reflektierten Berufen, in denen Menschen sich mit gesellschaftlichen Widerspruchslagen auseinandersetzen, eine Gegenbewegung etabliert, die herrschaftskritische Fragen stellt?

DS: Ich glaube, daß intellektuelle Felder immer Konfliktfelder sind, wo unterschiedliche Positionen um Deutungsmuster bzw. -hoheiten ringen. Daß sich das in entsprechenden gesellschaftlichen Apparaten in der einen oder anderen Weise wiederfindet, hat sicherlich damit zu tun, daß explizit politische Literatur und Wissenschaft im Moment eher eine subalterne Position im Betrieb haben. Dennoch finden Debatten statt. Die Tagung heute ist ja ein Beweis dafür.

SB: Herr Salomon, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:


[1] http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/1313.krise-kunst-und-politische-aesthetik.html


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
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23. Juli 2016


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