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INTERVIEW/099: Richtige Literatur im Falschen - keine Partei und keine Versprechen ...    Udo Achten im Gespräch (SB)


Gespräch am 8. Juni 2018 in Dortmund


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Udo Achten
Foto: © 2018 by Schattenblick

Udo Achten war lange Jahre in verschiedenen Funktionen in der IG-Metall aktiv. Seit 1974 arbeitet er als freier Journalist zu gewerkschaftlichen, pädagogischen und kulturellen Themen. Er veröffentlichte Bücher, konzipierte Austellungen und drehte Filme. Der Schattenblick traf ihn auf dem Symposium "Richtige Literatur im Falschen", das vom 7. - 9. Juni 2018 in der Dortmunder Zeche Zollern zum Thema "Literatur in der neuen Klassengesellschaft" stattfand. Es wurde veranstaltet vom Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, dem LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, der Kooperationsstelle Wissenschaft-Arbeitswelt TU Dortmund und der Fritz-Hüser-Gesellschaft. Udo Achten beantwortete dem Schattenblick einige Fragen zu seinem persönlichen Werdegang wie dem Themenkreis Arbeit, Kultur und Gesellschaft.

Schattenblick (SB): Udo, könntest du etwas zu deiner politischen Sozialisation sagen?

Udo Achten (UA): Ich komme aus Düsseldorf und habe mit 14 Jahren als Hilfsarbeiter bei der Feldmühle angefangen, dann Papiermacher gelernt und bin schließlich über den zweiten Bildungsweg Sozialklempner, also Sozialarbeiter geworden. Da ich kein Abitur und keine Mittlere Reife hatte, wurde das durch eine Sonderprüfung ermöglicht, quasi mit Unterstützung der DDR. Durch den Bau der Mauer waren plötzlich Facharbeiter rar. So bin ich durch die Maschen geschlüpft, sonst hätte ich das nie gekonnt. Danach habe ich als Hauptamtlicher an den IG Metall-Schulen Lohr am Main und Schliersee und schließlich am Bildungszentrum Sprockhövel gearbeitet, wo ich seit 1971 angestellt war, bis ich dann leider nicht mehr laufen konnte und in Rente gehen mußte. Nebenbei hatte ich einen Lehrauftrag an der Fachhochschule für Sozialarbeit.

Weil ich unter starkem Rheuma leide, kann ich schlecht laufen, habe also viel Zeit am Schreibtisch verbracht und verstehe mich als Bildungsarbeiter. Das hat den Vorteil, daß man immer auch darauf achten muß, Ideen und Analysen rüberzubringen und verständlich zu machen. Das habe ich heute hier manchmal vermißt. Ich habe bestimmte Sachen nicht nur akustisch, sondern auch inhaltlich nicht verstanden. Das ist in der Bildungsarbeit anders, denn die Kollegen, die da sitzen, bezahlen durch ihren Beitrag meinen Lohn. Das habe ich nie vergessen. Ich wollte ihnen zwar nicht nach dem Mund reden, aber es ist wichtig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, auch immer in dem Bewußtsein, daß sie meine Arbeit letztlich bezahlen.

Ich habe es immer als Privileg verstanden, daß ich das Lesen und die Auseinandersetzung mit den Themen bezahlt kriege. Wie Biermann schon sagte, nicht alle Beulen am Helm der Genossen stammen vom Klassengegner. Natürlich habe ich meine Schwierigkeiten in der Organisation gehabt. Ich bin oft angeeckt und gehörte mit allen persönlichen Fehlern vorübergehend zur Minderheit. Ich habe für die friedliche Nutzung der Kernenergie demonstriert, weil ich nicht wußte, wie gefährlich sie war. Als das feststand, haben wir gesagt, nein, so nicht. Es war nicht so, daß man immer auf der richtigen Seite war und alles gewußt hat, sondern es war auch ein eigenständiger Lernprozeß.

SB: Du hast mehrere Bücher verfaßt und dabei viel historisches Bildmaterial verwendet. Wie kam es dazu?

UA: Im Lehrgang kommt der 1. Mai immer wieder an die Reihe. Du gehst ins Staatsarchiv zum Recherchieren, legst dir einen Ordner an, sammelst Illustrationen und bist plötzlich Spezialist für den 1. Mai, was du eigentlich nie werden wolltest, nie so geplant hattest. Dann kommt der NDR und fragt, ob ich nicht bei einem Film über den 1. Mai helfen könnte. Ich habe es gemacht und dabei auch viel gelernt, zum Beispiel, daß man beim Fernsehen mit Querformat und nicht mit Hochformat arbeitet. Solche Sachen sind immer aus der Lehrgangsarbeit und Streikeinsätzen entstanden und eigentlich nicht am Schreibtisch. Die Anregung kam immer aus der Arbeit selber und dem Anspruch, damit auch ein Stück Bildungsarbeit zu leisten.

Bei den Büchern ging es mir nicht darum, die Bleiwüste mit Bildern aufzulockern, sondern für mich sind Bilder auch historische Dokumente, die allerdings nicht für sich alleine stehen, sondern immer der Erklärung bedürfen. Natürlich sind Bilder auch verfälschbar und interpretierbar, aber das gilt für alles andere auch. Jeder Text ohne Quellenangabe ist manipulierbar. Von daher spricht nichts gegen ein Bild, aber ich finde, als Mittel der Darstellung ist das Bild bei uns unterbewertet. Jeder Mediziner, der eine Hautkrankheit darstellt, illustriert das mit einem Bild. Unter Historikern gilt das aber als anrüchig, als wären Bilder nur dazu da, Bleiwüsten lebendig zu machen. Dazu habe ich eine andere Einschätzung.

Als Quelle nutze ich auch juristische Texte, zusammen mit Schilderungen vom Werkkreis Literatur in der Arbeitswelt. Manchmal wollten Lehrgangsteilnehmer Bildungsurlaub beantragen, obwohl sie schon zuvor krankgeschrieben waren, dann habe ich sie anhand derartiger Texte beraten, wie sie einen Unternehmer anschreiben und ähnliches. Wie kann die Vielfältigkeit der Materialien eingesetzt werden? Beispielsweise gibt es im Staatsarchiv München aus der Zeit des Ersten Weltkriegs ein Verbotsurteil gegen die frauenbewegte Lida Gustava Heymann. Das politische Engagement wurde ihr untersagt, aber im letzten Satz des Verbotsurteils heißt es: ebenso die Veröffentlichung dieses Verbotes. Daran kann man viel klarmachen. Machtverhältnisse, aber auch die Angst der Macht.

Ich will noch ein anderes Beispiel geben: Im Süddeutschen Postillon, dem Organ der bayerischen Sozialdemokratie, gibt es ein Bild mit der Überschrift: Das Aristokratenkind. Man sieht eine gut gekleidete Frau mit einem Mädchen an der Hand. Im Hintergrund steht eine schlecht gekleidete Frau. Das Mädchen fragt: Mama, haben die armen Leute auch Ahnen? Wie ist das mit unserer Geschichte? Ich habe mich immer als jemand verstanden, der ein Stück verdrängte, vernachlässigte Geschichte darstellt, ohne die Gegenwart aus den Augen zu verlieren. Der Kuczynski hat einmal sinngemäß gesagt, wir gucken über die Schlachtfelder, da liegen die eigenen Geschlagenen, war da nicht auch noch ein Gegner? Den nicht aus den Augen verlieren. In das Lager des Feindes zu gehen, ohne überzulaufen, das ist mein Bestreben bei solchen Büchern.


Bücher auf Tisch ausgelegt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Veröffentlichungen von Udo Achten auf dem Büchertisch
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Wir befinden uns in der Zeche Zollern, einem Vorzeigestück der Industriekultur. In der postindustriellen Ära des Ruhrgebietes wird die Geschichte der Arbeit im Bergwerk und am Hochofen bisweilen idealisiert und glorifiziert. Dennoch handelte es sich um Lohnarbeit unter sehr beengenden und gesundheitsschädlichen Bedingungen. Wie bewertest du diese Art der Musealisierung von Arbeit und Industrie? Ist das nicht von Anfang an kritikwürdig?

UA: Wir haben uns die Verhältnisse, in denen wir geboren wurden, nicht ausgesucht, wir müssen sie aber auch nicht so akzeptieren. Das hat mich vorhin auch an der Diskussion geärgert. Gewerkschaften hängen ja von den Verhältnissen ab, die sie ändern wollen. Das ist ihre Aufgabe, aber das sind auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten. In der Maifeierdebatte sagt August Bebel an einer Stelle, ihr habt die Macht in den Händen, wenn ihr nur einig seid. Jetzt sagen einige, wir könnten besser kämpfen, wenn wir einig sind. Dazu sage ich, du willst bei der Siegerehrung dabei sein und nicht bei den Kämpfen. Einigkeit herzustellen ist die Voraussetzung unserer Aufgaben.

Zu deiner Frage: Ich finde es toll, daß wir im Ruhrgebiet mittlerweile eine ganze Reihe von Industriemuseen haben. Aber sie stehen immer noch in der Tradition, wie auch das Deutsche Museum in München, daß sie zu sehr technikbetont sind und zu wenig die Arbeitsbedingungen und die Kämpfe dokumentieren. Hier müßte beispielsweise unbedingt eine Lore hin mit zwei Nullen drauf. Was das war? Wenn zu viel Steine und zu wenig Kohle drin war, wurde das nicht berechnet, dann hat der Steiger zwei Nullen draufgeschrieben. Es sei denn, du hast ihm vorher ein Stück Speck zugeschoben, ihn also bestochen, und das führte zur Ungerechtigkeit und zur Empörung. Die wollten nicht die Gesellschaft verändern, sie haben sich erst einmal gegen die Ungerechtigkeit gewendet. Schikanieren, provozieren, sagte Heinrich Kämpchen in einem Gedicht dazu.

Es gibt zum Teil schon gute Ansätze. Beispielsweise wurden in einem Museum die alten Toiletten so gelassen, wie sie waren, mit abgesägten Türen, damit der Meister gucken konnte, wie lange die Arbeiter auf Toilette sind. Das ist ungeheuer plastisch und sagt viel über die Arbeitsbedingungen aus. Es gibt sicherlich noch eine Menge zu tun, aber gerade hier sind wir mit einer Kritik an der falschen Stelle, weil das Fritz-Hüser-Institut durchaus versucht, die Lücke zu füllen.

Man kann ersteinmal eine Sensibilität für die Arbeitsbedingungen herstellen, aber das allein langt noch nicht. Daß die Leute eine Staublunge gekriegt oder Asbest eingeatmet haben, gehört dazu. Insofern sollte man Museen weder pauschal kritisieren noch über den grünen Klee loben. Sie haben ihre Grenzen, und genau da muß man ansetzen. Natürlich ist das nicht einfach, weil diese Technik dreidimensional ist und sich viel besser museographisch umsetzen läßt als das, was man nicht auf den ersten Blick sieht.

SB: Du warst schon in den frühen 1960er Jahren an Demonstrationen beteiligt. Könntest du aus deiner Erinnerung einige markante Ereignisse erzählen?

UA: Wir haben den ersten Ostermarsch in Düsseldorf veranstaltet und bekamen Unterstützung aus England. Aber man hat die Leute nicht einreisen lassen, sie saßen im Flugzeug und konnten nicht raus. Das Flugzeug konnte aber auch nicht starten, um zurückzufliegen, weil sie alle kollektiv immer von links nach rechts gelaufen sind. Wir hatten auf der Königsallee eine Demonstration gemacht, wo die Polizei Wasserwerfer eingesetzt hat. Dann sind wir zum Flughafen marschiert, um genau diese Solidarität für den Ostermarsch herzustellen. Ich sage es mal so, wir waren keine Massenbewegung. Ich kenne die Hinterhöfe Düsseldorfs am besten von den Demonstrationen damals. Ich war auch einer der Initiatoren des Krefelder Appells. Aber ich hätte damals nie gedacht, daß das so eine große Bewegung wird. Mit der Friedensbewegung geht es immer auf und ab, im Moment fehlt sie mir.

SB: Gab es nicht bereits in den 1950er Jahren eine große Bewegung gegen die Wiederbewaffnung?

UA: Ja, das war die Ohne-mich-Bewegung, aber die ist, als die Bundeswehr eingeführt war, wieder schnell verebbt. Die Friedensbewegung war dagegen sehr stark und hat viele gesellschaftliche Gruppierungen umfaßt, bis auch sie von der Bühne verschwand. Dann kamen die Demonstrationen gegen den Golfkrieg. Im Moment vermisse ich solche Proteste, vor allem in Anbetracht dessen, was gerade in der Rüstungsindustrie der Bundesrepublik heimlich passiert und abgesegnet wird mit Aussagen wie: Wir haben eine andere Aufgabe in der Welt und müssen bei der UNO eine andere Stellung einnehmen. Als Morgengabe winkt die Politik die Erhöhung der Rüstungsausgaben durch. Verteidigungsministerin von der Leyen schaut dabei so lieb und nett drein, daß man denkt, sie kann ja nichts schlechtes wollen, aber sie sorgt dafür, daß die Profite der Rüstungsindustrie steigen.

Der alte Feind ist uns abhanden gekommen, jetzt müssen wir neue Feinde haben, und plötzlich sind wir in der ganzen Welt zuständig. Das ist ja die US-amerikanische Theorie, wir machen die Welt dabei glücklich. Wenn die Hälfte der globalen Rüstungsetats für Hilfsgüter verwendet würde, dann sähe die Welt anders aus. Natürlich haben wir immer das Problem, daß die Kollegen in der Rüstungsindustrie auch bei uns organisiert sind. Was ist denn die Rüstungsindustrie? Ist das der Bäcker, der der Bundeswehr die Brötchen bringt?

Es gibt diese schöne Stelle bei Bertolt Brecht: Einer von uns hat vor der pazifistischen Jugend Vorträge über den Wahnsinn des Krieges gehalten, aber beruflich hat er Giftgas hergestellt. Wie habt ihr ihn reden lassen können? Ja, weil er genau wie wir etwas dagegen gehabt hat, daß er mit dem, was er macht, nichts zu tun hat. Der Militarismus ist ein gesellschaftliches Problem, das in der gesamten Bevölkerung verankert ist. Es geht nicht nur um Rüstung. In der Rüstung muß man alternative Arbeitsplätze schaffen.

SB: Jetzt im 50. Jahr der 1968er-Bewegung werden ihre Folgen und Versäumnisse breit diskutiert. Du warst damals im SDS. Wie ist deine Sicht auf die Ereignisse?

UA: Ich war Asta-Vorsitzender und Studentenverbandsvorsitzender der Sozialarbeiter in der Bundesrepublik. Die Schule gehörte damals der Arbeiterwohlfahrt. Wir waren nur 80 Studenten insgesamt, davon waren aber 20 im SDS. Wir hatten, auch weil ich aus der Ecke kam, engen Kontakt zur Gewerkschaft. Ich war 41 Jahre in der SPD, aber ich bin gut durchgekommen, weil ich nichts getan habe. Ich habe immer Angst gehabt in der SPD, weil ich befürchtete, ich verändere nicht die, sondern die verändern mich.

SB: Wieso bist du nicht mehr in der SPD?

UA: Man macht in jeder großen Organisation Kompromisse, aber als Schröder Basta! gesagt hat, was auf gut deutsch bedeutet, mach mit, aber halt die Schnauze, bin ich ausgetreten. Jetzt sind das nicht meine Feinde, es kippt ja nicht von heute auf morgen. Ich habe beides, meine Solidarität und Distanz. Bodo Hombach hat bei mir ein Seminar besucht. Er ist eigentlich für mich kein Problem gewesen, sondern das Problem war, daß jemand wie er Karriere in der SPD machen konnte.


Blaue Loren für den Personentransport unter Tage - Foto: © 2018 by Schattenblick Blaue Loren für den Personentransport unter Tage - Foto: © 2018 by Schattenblick

"Hinauslehnen lebensgefährlich" - Exponat auf dem Gelände des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Wo du Bodo Hombach erwähnst - er war ja Medienmanager und hat unter anderem in der Regierung Schröder die jugoslawischen Zeitungen und Sender nach dem NATO-Überfall reorganisiert.

UA: Bei mir waren die beiden Frauen, die nach dem Bombardement auf die Brücke in Varvarin Splitter im Körper hatten, 14 Tage zu Besuch. Bodo Hombach hat ja oft schöngeklungen, weil er im Inneren hohl ist. Er hat seine Politik gemacht und ist übrigens der einzige Student an unserer Fachhochschule gewesen, der den Direktor zum Essen eingeladen hat. Ich habe ihn bei der Prüfung durchfallen lassen, weil er abgeschrieben hat. Normalerweise dürfte ich das nicht sagen, aber es war allgemein bekannt, daß ich dagegengestimmt hatte. Sie haben ihn trotzdem durchgelassen, was eigentlich nicht geht, weil wir einstimmig die Feststellung bestätigt hatte, daß er abgeschrieben hat.

Aber Bodo Hombach ist gar nicht das Problem. Das Problem in der SPD war immer, daß solche Leute etwas werden konnten. Wenn einer etwas weiter links stand, wurde sofort die Kanone rausgeholt und gegen ihn polemisiert und was nicht alles. Opportunisten hat man dagegen durchgewunken. Georg Herwegh hat einmal gesagt, die Wetterfahne war sehr verlegen, denn es war windstill. Bodo Hombach wußte, woher der Wind weht und hat notfalls noch ein bißchen mitgeblasen.

Im SDS lautete zumindest die Losung, wir laufen nicht einfach mit, wir haben andere Vorstellungen. Dennoch wurden SDSler ausgeschlossen, sie sind ja nicht aus der SPD ausgetreten. Das betraf auch den Kreis der Professoren, die das unterstützt haben wie Wolfgang Abendroth. Er ist ja nicht ausgetreten, er ist ausgeschlossen worden. Die damalige Studentenbewegung wird mir im Moment zu sehr glorifiziert. Sicherlich hat sie einiges bewirkt, aber sie hat den Schwerpunkt nie auf die Veränderung der Arbeitsverhältnisse gelegt, wobei das auch nicht ganz stimmt, weil der Vorsitzende des SDS, Helmut Schauer, später Gewerkschaftssekretär war.

Der SDS hat in bestimmten verkrusteten Verhältnissen und in den Umgangsformen etwas bewirkt, aber die Vorstellung, die Arbeitswelt zu beeinflussen, lag ihm fern. Natürlich hat jemand wie Ulrike Meinhof am Anfang sogar Reportagen über den Arbeitsschutz gemacht. Bei ihrem Film Bambule wird immer so getan, als hätte man all das vorher nicht gewußt. Meine Mutter hat immer gedroht - mein Vater war gestorben -, wenn ihr nicht pariert, kommt ihr ins Heim. Meinhof hat das ganze Ausmaß des Mißbrauchs aufgedeckt, aber das wollte niemand wissen, da hat man lieber weggeschaut, darüber lag ein Mantel. Das ist natürlich schade, weil dadurch eine Kraft verlorengegangen ist. Der Frust und die Einschätzung, wie schnell sich mit welchen Mitteln gesellschaftliche Veränderungen erwirken lassen, waren nachher kontraproduktiv.

SB: Kann man heute aus der Position einer insgesamt guten Versorgung in der Bundesrepublik, die zu einem Gutteil zu Lasten anderer Bevölkerungen insbesondere im Globalen Süden erwirtschaftet wird, überhaupt ein Urteil über die Zeit von 1968 fällen?

UA: Nun gut, unser Bestreben damals war doch eingeengter. Ich war seinerzeit mit der Hilfsgesellschaft Deutschland-Vietnam in Saigon und Hanoi. Wir hatten Hilfsgüter hingeschafft. Wir waren zu zehnt und jeder hatte einen Zentner Gepäck mit. Mit der Fluggesellschaft hatten wir Sonderbedingungen ausgehandelt. Das war erstmal der Schwerpunkt, den wir immer hatten. Wenn du etwas praktisch machen willst, das würde ich auch heute sagen, bist du überfordert. Später kamen Nicaragua und Chile. Wir haben 22 Familien aus Chile rausgeholt, den Flug bezahlt, ihnen hier Arbeitsplätze, Unterkunft und Möbel besorgt. Man darf die Gewerkschaften nicht überschätzen. Sie sind keine Herzpartei. Ich sage es mal so, und das trifft auch auf Betriebsräte zu: Wer den Mund zu voll nimmt, wird undeutlich. Dann ist es besser zu sagen, tut mir leid, eigentlich müßten wir viel mehr machen. Wenn ich abends den Fernseher anmache, frage ich mich, kann ich jetzt überhaupt ruhig bei meinem Bier sitzen und etwas knabbern, müßte ich nicht entsagsam sein? Aber ich weiß auch, daß diejenigen, die am meisten Entsagsamkeit predigen, die dicksten Bäuche haben.

Bei Brecht gibt es die schöne Stelle mit Me-ti. Ein Schüler sagt zu ihm: Meister, ich will kämpfen. Er erwidert darauf: Sitzt du gut? Der Schüler beharrt: Ich bin nicht gekommen, sitzen zu lernen, ich will kämpfen. Wie sollte man kämpfen, wenn man nach Genuß strebt? Me-ti entgegnet: Wenn man nicht nach Genuß strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will, wie sollte man da kämpfen? Auch das gehört dazu.

Jammern ist der Gruß des Kaufmanns. Wer immer nur jammert und sagt, folge mir, ich weiß auch nicht, wo es lang geht, der kann keine Massen begeistern. Wer aber immer nur Optimismus ausstrahlt, für den gilt, was A. Paul Weber mit dem Totenkopf, der aus dem Wasser kommt, gemacht hat, indem er darunter schrieb: Optimismus ist Feigheit. Das war auch bei der Friedensbewegung so, daß wir immer gedacht haben, Krieg ist wahrscheinlich möglich, aber verhinderbar. Wenn du eines von dreien wegnimmst, brauchst du nichts zu tun. Ist er unmöglich, brauchst du nichts zu tun, ist er nicht verhinderbar, brauchst du auch nichts zu tun. Wir können etwas machen. Bei der Friedensarbeit war immer ein Stück Optimismus und Angst mit dabei, was passieren könnte.

SB: Udo, vielen Dank für das Gespräch.


Förderturm auf Zeche Zollern - Foto: © 2018 by Schattenblick

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11. August 2018


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