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INTERVIEW/134: 24. Linke Literaturmesse - Widerspruchstheoreme ...    Lisa Riedner im Gespräch (SB)


Interview am 2. November 2019 in Nürnberg


Prof. Dr. Lisa Riedner ist Sozialwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Rassismus, Prekarisierung und städtische Migrationsregime. Derzeit ist sie Vertretungsprofessorin an der Universität Eichstätt. Ihre kulturanthropologische Promotion behandelte die Frage, wie EU-interne Migration in München regiert wird. Die Promotionsforschung war eng mit Aufbau und Tätigkeiten der Initiative Zivilcourage in München verbunden und führte zur Gründung eines temporären Workers' Center. Dort werden obdachlose EU-migrantische ArbeiterInnen in Konflikten mit Arbeitgebern, Ämtern und Sicherheitsbehörden unterstützt.

Bei der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte sie ihr Buch "Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration - Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus" [1] vor, das 2018 in der edition assemblage erschienen ist. Im Anschluß an die Buchvorstellung [2] beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.


Im Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Lisa Riedner
Foto: © 2019 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Du engagierst dich in sozialen Auseinandersetzungen, die gesellschaftlich weitgehend ausgeblendet werden. Wie ist es dazu gekommen, daß du in diesem Bereich forschst und aktiv geworden bist?

Lisa Riedner (LR): Meine Begegnung mit den sozialen Bewegungen und meine Politisierung begann in den ersten Jahren des Studiums. Mir war die soziale Ungleichheit bewußt und ich bekam in München und Manchester Kontakt zur antirassistischen Bewegung, bei der ich mich engagiert habe. Bald folgte die Mitarbeit bei einem Forschungsprojekt, so daß meine politische und meine wissenschaftliche Arbeit im Grunde von Anfang an ganz eng miteinander verknüpft waren. Bei diesem Forschungsprojekt ging es um die Ausstellung zum Thema Crossing Munich - Migration in München, und darüber begann ich, mich intensiver mit derartigen Arbeitsverhältnissen und dem Thema Migration und Arbeit zu befassen, das mich sehr interessierte.

In der Folge bin ich zu einer Initiative gestoßen, die Werkvertragsarbeiter aus der Türkei in ihren Arbeitskämpfen unterstützt hat. Diese Arbeiter waren auf dem Bau beschäftigt und haben ihren Lohn nicht gezahlt bekommen. Als sie ihn einforderten, wurden sie rausgeschmissen und man drohte ihnen an, daß sie ihre Aufenthaltserlaubnis verlieren würden und das Land verlassen müßten. Das war für mich eine Art Ausgangspunkt, weil mich diese Auseinandersetzung sehr beschäftigt und auch begeistert hat, zumal sich dabei die Möglichkeit eröffnete, durch konkrete Unterstützung tatsächlich etwas zu bewirken. Wir sind mit den Arbeitern vor Gericht gegangen und haben auch erwirkt, daß sie nicht abgeschoben wurden. Wirklich etwas erreichen und die Arbeitsverhältnisse mit den sozialen Auseinandersetzungen vor Ort in der Stadt verknüpfen zu können, mich da zu engagieren und ein Teil davon zu sein, fand ich so gut, daß ich auf jeden Fall weitermachen wollte. Wir haben dann einen Infostand im Münchner Bahnhofsviertel gemacht, bei dem es darum ging, Werkvertragsarbeiter aus der Türkei über ihre Rechte zu informieren, wofür wir auch Flyer in mehreren Sprachen mitgebracht hatten. Dabei sind wir ganz zufällig auf den sogenannten Tagelöhnermarkt gestoßen und gleich mit den Arbeitssuchenden in Kontakt gekommen. So fing dieser Organisierungsprozeß an, aus dem sich dann alles weitere ergeben hat.

SB: Du bist Wissenschaftlerin und Aktivistin - wie hat sich die Verbindung dieser beiden Sphären für dich über die Jahre weiterentwickelt?

LR: In meiner persönlichen wissenschaftlichen Arbeit hat sich das so entwickelt, daß ich zunächst über dieses studentische Forschungsprojekt mit den Werkvertragsarbeitern und die dabei geführten Auseinandersetzungen etwas geschrieben habe. Daraus ist dann auch ein Comic hervorgegangen, ein Projekt im Rahmen der Ausstellung Crossing Munich. Wir sind damals sogar nach Istanbul gereist und haben dort mit den Subunternehmern und mit türkischen ParlamentarierInnen gesprochen, das war alles total spannend. Als dieses Projekt abgeschlossen war, habe ich aus einem politischen Interesse heraus weiter in dieser Gruppe mitgearbeitet. Ich bin dann nach Manchester gegangen, um dort meinen Master in Social Anthropology zu machen, und habe danach beschlossen, mit dem PhD weiterzumachen. Mich hat die Art und Weise dieses engagierten oder aktivistischen Forschens ebenso theoretisch wie praktisch sehr interessiert. Die Wissenschaft und den politischen Aktivismus zusammenzubringen führt zum einen zu einer gegenseitigen Unterstützung aus beiden Richtungen, bringt aber zugleich auch Widersprüche und Reibungen hervor, die ich wiederum spannend und produktiv finde.

Da wissenschaftliche Arbeit im Bereich der Kulturanthropologie meistens damit verbunden ist, teilnehmend zu beobachten, also an sozialen Prozessen vor Ort präsent zu sein, habe ich mich aus Manchester für meine Doktorarbeit wieder zurück nach München begeben. Dort hat mir ein Stipendium den Freiraum und die Möglichkeit gegeben, ein Jahr zu forschen und mich zugleich auf den politischen Aktivismus zu fokussieren. Im Verlauf von eineinhalb Jahren habe ich gemeinsam mit FreundInnen - vor allem einer anderen Person, die damals erwerbslos war und daher viel Zeit hatte - eine Initiative aufgebaut. In dem wöchentlichen Workers` Center der Initiative Zivilcourage geht es um Unterstützung in alltäglichen Konflikten mit Arbeitgebern, Jobcentern, Polizei, Ausländerbehörde, Inkasso-Unternehmen etc. Außerdem organisieren wir gemeinsam Proteste und Kampagnen gegen Polizeirepression, Ausschluss von Notunterkünften bei Obdachlosigkeit und weitere Themen. Aktiv dabei zu sein hat mir auch auf der wissenschaftlichen Seite viele Erkenntnisse ermöglicht, die mir bei einem entfernteren Verhältnis zu den Auseinandersetzungen wohl nicht zugänglich gewesen wären. Ich habe dann in Göttingen meine Doktorarbeit weitergeführt, aber durchgehend wieder in München gewohnt. Gleichzeitig war ich in dem Workers' Center aktiv, wenn auch in den letzten Jahren etwas weniger, weil diese Schreibarbeit und das Fertigstellen des Buches natürlich Kapazitäten von der aktivistischen Arbeit abgezogen hat.

SB: Bist du nach wie vor in München präsent oder hast du deine Aktivitäten an einen anderen Ort verlagert?

LR: Ich lebe jetzt seit mehr als einem Jahr nicht mehr ständig in München, auch wenn ich noch häufiger dort bin. Ich war vier Monate in Berlin, danach vier Monate in Los Angeles, und bin jetzt als Vertretungsprofessorin an der Uni in Eichstätt. Zugleich bin ich weiterhin Teil der Initiative Workers' Center, die nach wie vor jeden Dienstag im Infocenter für Migration und Arbeit direkte Unterstützungsarbeit leistet und einen Treffpunkt anbietet. Zum anderen bin auch immer wieder an Kampagnen beteiligt, wie etwa der bundesweiten und transnationalen Kampagne "Europa in Bewegung". Mit dieser Initiative haben wir im Rahmen dieser Kampagne in diesem Jahr gegen das neue Gesetz protestiert, das Tagelöhnermärkte verboten und die sozialen Leistungen für EU-BürgerInnen weiter eingeschränkt hat, vor allem das Kindergeld.

SB: Bei der Buchvorstellung kam zur Sprache, daß Frauen auf vielfache Weise unterdrückt und ausgebeutet werden. Zugleich hast du aber auch die Stärke unter Frauen und deren gegenseitige Unterstützung hervorgehoben. Warum ist das aus deiner Sicht so wichtig?

LR: Es ist sehr wichtig zu sehen, daß Menschen, die viel Care-Arbeit machen, was meistens Frauen sind, noch einmal auf eine spezielle Weise von den leistungsideologischen Ausschlüssen betroffen sind. Wenn der Anspruch auf soziale Leistungen an die Erwerbstätigkeit und auch der Aufenthaltsstatus daran gebunden ist, dann ist es für Frauen, die nicht arbeiten können, weil sie in Care-Tätigkeiten eingebunden sind, schwierig, soziale Leistungen und auch den Aufenthaltsstatus und Freizügigkeitsanspruch zu erlangen. Da findet auf jeden Fall ein besonderer Ausschluß statt, auch in der Hinsicht, daß Frauen, die keinen Anspruch auf soziale Leistungen haben, vielfach von Frauenhäusern ausgeschlossen sind, auch werden teilweise Kinder aufgrund von Obdachlosigkeit in Obhut genommen. Zu nennen sind auch die beiden Rechtssachen vor dem Europäischen Gerichtshof, bei denen der Ausschluß von nicht erwerbstätigen und nicht erwerbsfähigen EU- BürgerInnen von sozialen Leistungen EU-rechtlich legitimiert wurde. In beiden Fälle waren das alleinerziehende Frauen.

Gleichzeitig habe ich in meiner Arbeit mit EU-BürgerInnen, vor allem mit Menschen aus Bulgarien, erlebt, daß es eine ganz starke Solidarität und gegenseitige Unterstützung gerade zwischen Frauen gibt, die selbständig nach München migrieren, schon lange ein transnationales Leben führen und einander zur Seite stehen. Das habe ich als Stärke erlebt, auch mit queeren Frauen, mit Trans-Frauen, die ebenfalls solidarische Strukturen entwickeln. Wenn ich es auch nicht romantisieren möchte, habe ich doch erfahren, daß in diesen extrem prekären Verhältnissen eine ganz starke gegenseitige Unterstützung unter Frauen anzutreffen ist.

SB: Du hast anhand einer Preisverleihung in München dargestellt, daß sich ungeachtet deines Engagements die beiderseitigen Lebensverhältnisse unterscheiden und dies nicht ignoriert werden darf. Wie gehst du mit diesem Widerspruch um?

LR: Wir haben als "Initiative Zivilcourage" den Lichtblickepreis 2010 von der Stadt München bekommen. Damals sind Pembe und Nadka mitgekommen, um diesen Preis zusammen mit mir und Oguz, der ebenfalls in der Initiative aktiv ist, entgegenzunehmen. Die beiden mußten jedoch früher gehen, um rechtzeitig noch einen Schlafplatz zu suchen. Wir standen dann zu zweit als doppelt Privilegierte auf der Bühne, weil wir bleiben und auch noch den Preis in Empfang nehmen konnten. Ich habe dann bei dieser Preisverleihung vor dem Bürgermeister angesprochen, daß es schön ist, daß wir den Preis bekommen, aber wenig bringt, solange die Betroffenen nicht teilhaben können, sondern weiter ausgeschlossen bleiben. Daraufhin sind wir bei der Stadt ein bißchen in Ungnade gefallen.

Aber in diesen Widersprüchen bewegt man sich als politisch aktive Person, die privilegiert ist, weil sie nicht von Rassismus oder Armut in dieser Form betroffen ist. Man muß sich das bewußt machen, aktiv damit umgehen und darf nicht so tun, als seien diese Ungleichheiten nicht vorhanden. Das bedeutet, sich ein bißchen zurückzunehmen und eher zuzuhören, vor allem die tatsächlich Betroffenen definieren zu lassen, worum es in diesen Kämpfen geht. Ich glaube dennoch, daß man an solchen Kämpfen teilhaben und politisch aktiv sein kann. Als Wissenschaftlerin, die dann auch noch die eigene Karriere auf diesen Kämpfen mit aufbaut, ist mir bewußt, daß dadurch immer auch ein Ausbeutungsaspekt enthalten bleibt. Das verbietet mir jedoch meines Erachtens nicht, in solchen Zusammenhängen politisch aktiv zu sein, sondern verlangt, sehr reflektiert und aktiv mit diesen Widersprüchen umzugehen.

SB: In der Diskussion nach deinem Vortrag hast du noch einmal hervorgehoben, daß der Tagelöhnermarkt zwar Ausbeutungsverhältnisse repräsentiert, aber zugleich für ein Feld widerständiger Kämpfe steht.

LR: Dabei ging es um die Frage, inwiefern dieser selbstorganisierte Arbeitsmarkt tatsächlich eine emanzipative oder widerständige Strategie sein kann, wo er doch so extrem in überausbeuterische und auch rassistische Ausschlußverhältnisse eingebunden ist. Gleichzeitig ist er aber auch sozialer Treffpunkt einer migrantischen Community, die sonst nicht viele Orte hat, wo sie sich treffen kann. Außerdem können Arbeitsuchende hier informelle Mindestlöhne vereinbaren und Informationen austauschen. Außerdem wehren sie sich seit Jahren gegen ihre Vertreibung aus dem öffentlichen Raum durch Geschäftsleute, Zoll, Polizei und dem neuen Kommunalen Außendienst. Ein anderes Beispiel im Buch ist eine Verhandlung vor dem Arbeitsgericht, wo die Frauen im Sitzungssaal lachen und sprechen, obwohl sie nicht sprechen und ruhig sein sollten. Es ist wichtig, nicht nur Forderungen an den Staat oder repräsentative Formen der Organisierung als politische Praktiken zu begreifen, sondern auch diese Momente der Solidarität, der konkreten Unterstützung im Alltag und des sich Entziehens von Machtstrukturen und widerständig zu sein.

SB: Du würdest also sagen, daß diese beiden Seiten zu berücksichtigen sind, aber das politisch-emanzipatorische Moment darin hervorheben?

LR: Genau. Ich argumentiere in einem operaistischen Sinn, daß sich Menschen nicht auf ihre Arbeitskraft reduzieren lassen, sondern darüber hinaus diese lebendige Arbeit zu würdigen ist, was sich in unterschiedlichen Weisen und Praktiken des Alltag ganz konkret ausdrückt, vielleicht auch auf unerwartete Weise.

SB: Lisa, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] Lisa Riedner: Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration - Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus, edition assemblage Münster 2018, 368 Seiten, 18,00 EUR, ISBN 978-3- 96042-039-2

[2] Bericht zur Buchvorstellung:
www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbbr0108.html


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

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23. November 2019


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