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INTERVIEW/143: 24. Linke Literaturmesse - Krieg mit anderen Mitteln ...    Detlef Hartmann im Gespräch (SB)



Dreieinhalb Jahre liegen zwischen der Veröffentlichung des ersten [1] und zweiten Bandes der als Trilogie angelegten Reihe "Krisen, Kämpfe, Kriege". Der Autor Detlef Hartmann hat das rund 700 Seiten starke Mittelstück seiner Untersuchung des kapitalistischen Angriffes mit "Innovative Barbarei gegen soziale Revolution - Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert" überschrieben. Auf der Linken Literaturmesse faßte er den Zusammenhang von innovativen gesellschaftlichen Entwicklungen und genozidaler Gewalt in der kriegerischen Konkurrenz zwischen Staaten so kurz zusammen, wie es im Rahmen einer knappen Stunde nur möglich ist.

Doch schon der in diesem engen Rahmen erklärte Zusammenhang von technologischer Innovation und gesellschaftlicher Organisation läßt eine den Menschen als bloßen Verbrauchs- und Verwertungsfaktor bilanzierende Ratio des sozialtechnokratischen Zugriffs von abgrundtiefer Gewalt erkennen. Nicht nur Fabrik und Verwaltung sollen Orte einer explosiven Produktivkraftentwicklung sein, die ganze Gesellschaft wird mit dem Ziel der Zurichtung auf Massenproduktion, Massenkonsum und Massenkultur einem Effizienzdruck sondergleichen ausgesetzt. Greift die Rationalisierungs- und Steigerungslogik kapitalistischer Produktion auf die allgemeine soziale Entwicklung über, dann ist die Zurichtung der Menschen auf neue Höhen sozialdarwinistischer Rohheit und gesellschaftlicher Isolation die empirisch erlittene und weiterhin absehbare Konsequenz.

Hartmann erklärt die genozidalen Katastrophen des 20. Jahrhunderts von einer sozialrevolutionären Position aus. Im Unterschied zur bürgerlichen Geschichtsauffassung, die gesellschaftlichen Fortschritt an der Durchsetzung des demokratischen und liberalen Rechtsstaates bemißt und Klassenantagonismen nicht nur unterschlägt, sondern zwecks betriebswirtschaftlicher Optimierung des Gesamtproduktes beschwichtigend moderiert, verortet er die Barbarei des Kriegs und der Massenvernichtung nicht in der ideologischen Rückständigkeit führender Exponenten staatlicher Herrschaft oder einer nur aus Nationalchauvinismus schöpfenden Staatenkonkurrenz. Einer historisch-materialistischen Geschichtsauffassung, die die technologische Zurichtung des Menschen nach Maßgabe vermeintlich notwendiger Produktivkraftentfaltung grundsätzlich positiv beurteilt, steht er kaum minder kritisch gegenüber. Wo immer die mechanische Formalisierung und normative Objektivierung der Maschinenlogik den Reichtum subjektiven Lebens einschränkt und sozialstrategisch gegen das ureigenste Interesse des Menschen an Freiheit von Zwang und Gewalt wendet, kann eine Abfolge destruktiver Eskalationen ihren Lauf nehmen, die im engen Horizont bürgerlicher Ordnung wie ein schicksalhafter Einbruch des Bösen erlebt wird.

Im Mittelpunkt seiner Kritik stehen innovative Management- und Rationalisierungskonzepte, die, wie beim Taylorismus und Fordismus, die wissenschaftliche Zurichtung der ArbeiterInnen auf die Belange der Maschine und des Fließbandes zum Gegenstand haben. Das mit kriegsökonomischen Mitteln vorangetriebene Expansionsstreben des NS-Regimes wie die Vorherrschaft einer elitären Revolutionsdoktrin, die sich schon kurz nach der Oktoberrevolution mit Gewalt gegen sozialrevolutionäre Basisbewegungen insbesondere aus den russischen Dörfern durchsetzte, als auch die in den USA und anderen kapitalistischen Staaten sozialstrategisch eingesetzten Innovationsoffensiven und Schockstrategien finden darin komplementäre Verstärkung. Für die zahlreichen Streitfälle linker Selbstvergewisserung könnte Hartmanns Kritik an der bolschewistischen Adaption dieser Fortschrittslogik erhellend sein. Ihm geht es keineswegs um eine Neuauflage staatstragender Totalitarismusdoktrin, sondern ganz im Gegenteil um den befreienden Ansatz, Historie nicht als statisches Moment krisenhafter und katastrophaler Verläufe zu begreifen, sondern als über den Horizont eigener Zukünfte hinausweisendes dynamisches Entwicklungskonzept zu antizipieren.

Wenn die zwei Weltkriege und die damit einhergehenden Massenvernichtungen mehr mit gesellschaftlichen Modernisierungsoffensiven als mit rückständigen Ideologien zu tun haben, dann gibt es wenig Grund, für die Zukunft Besseres zu erhoffen. Hartmann will, wie er in Nürnberg erklärte, mit seiner in wesentlichen Zügen neu erarbeiteten Geschichtsauffassung nichts Geringeres leisten als Fehlern auf den Grund zu gehen, die ansonsten in der Wiederholung fataler Entwicklungen resultierten. Wenn es gelänge, den herrschenden Verhältnissen ein radikal anderes Denken und Sprechen entgegenzusetzen, wäre vielleicht ein Anfang gemacht, der aus der Falle einander verstärkender Passivität und Ignoranz, Konkurrenz und Vernichtungsgewalt herausführte.

Im Anschluß an die Buchvorstellung hatte der Schattenblick die Möglichkeit, dem Autor einige Fragen auch zu seiner persönlichen Geschichte zu stellen.


Im Gespräch auf der 24. Linken Literaturmesse - Foto: © 2019 by Schattenblick

Detlef Hartmann
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Detlef, in deinem Vortrag bist du noch einmal ausführlich auf das Thema Taylorismus als ein Merkmal oder treibender Faktor gesellschaftlicher Innovation eingegangen. War das Thema bereits für dein 1981 veröffentlichtes Buch "Leben als Sabotage" wichtig?

Detlef Hartmann (DH): Ja, das Buch ist eigentlich die Grundlage für viele Sachen, die ich heute noch mache, weil ich dort die technologischen Prinzipien des Taylorismus ziemlich genau erläutert habe, nicht nur im Arbeitsprozeß, sondern als Prinzip der Vergewaltigung und Neuorganisation der gesamten Gesellschaft auch in der Stadtplanung und anderen Bereichen.

SB: Betrachtest du den Begriff Taylorismus und das damit gemeinte Instrumentarium nach so langer Zeit anders, hat sich etwas in deinem Umgang mit dem Thema verändert?

DH: Nein, eigentlich nicht. Das ist im Grunde genommen für mich noch immer einer der Gründe dieser enormen Dynamik eines ganzen Jahrhunderts gewesen, aber auch der Gewalttätigkeiten, die in diesem Jahrhundert entfesselt worden sind. Ich habe natürlich viele Erfahrungen dazugewonnen, darum hat sich auch etwas verändert. Ich habe den Zusammenhang zwischen Taylorismus und völkermörderischen Initiativen, wie ich ihn jetzt im zweiten Band beschrieben habe, erst nachträglich in dieser Form kennengelernt. Und viele andere Dinge auch. Ich habe in dem Buch einen Zusammenhang zwischen Nietzscheanischer Philosophie und Taylor behandelt. Das sind Facetten, die dazugekommen sind und die dem Ganzen doch schon einen anderen Charakter gegeben haben.

SB: Wo lassen sich bei dem im Rahmen der Digitalisierung unternommenen Versuch, den Menschen zu zwingen, auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu leben und zu produzieren, die Auswirkungen des tayloristischen Konzepts bestimmen?

DH: Der Taylorismus findet zum Beispiel statt bei Amazon. Bei Amazon wird eine genaue Beobachtungen und Zerlegung der Arbeitsprozesse betrieben, sozusagen eine Vergewaltigung der arbeitenden Personen in diesen Logistikbetrieben, und ein enormer Zwang und vor allen Dingen eine Gewalttätigkeit entfacht, mit der die Arbeit so verdichtet wird, daß die Leute nicht einmal mehr pissen gehen können. Es gibt überhaupt nicht die geringste Zeitlücke, aber angereichert durch ein ganz neues Prinzip, das die neuen Technologien begleitet, das ist das der Selbstoptimierung. Du kriegst schon genau beschrieben, was du zu machen hast, aber es werden auch Lücken gelassen, in denen du unter den Zwang gesetzt wirst, dein Verhalten selbst im Sinne des Unternehmens zu optimieren. Machst du das nicht, fliegst du. Das ist sozusagen eine Anreicherung des tayloristischen Prinzips durch neue Aspekte.

SB: Du hast im ersten Band von "Krisen, Kämpfe, Kriege" ausführlich über Verhaltensökonomie geschrieben. Das Thema scheint außerhalb der spezifischen Wissenschaften keine besonders große Beachtung zu erhalten. Hältst du das nach wie vor für ein einflußreiches Konzept, mit dem versucht wird, Leben zu regulieren?

DH: Absolut. Ich habe so ein bißchen das Gefühl, daß die deutsche bürgerliche politische Ökonomie noch nicht auf dem Stand ist. Sie hat diese behavioralen Aspekte bis auf wenige Wissenschaftler wie zum Beispiel Axel Ockenfels in Köln nicht mit berücksichtigt. Ich denke, da hinkt man hier Deutschland hinterher. Meiner Ansicht nach ist die politische Ökonomie der neuen Offensive wirklich behavioral.

SB: Gehören dazu auch Methoden wie etwa im Bereich der Krankenversicherung, wenn Verhaltensänderungen unter dem Anspruch der Prävention mit Hilfe von Boni durchgesetzt werden?

DH: Ja, das gehört dazu. Das hat das Ziel, ganz neue Menschen zu schaffen, die auf solche Sachen reagieren und dann bereit sind, für Boni ihr Verhalten völlig umzustellen und zu ändern. Im Gesundheitsbereich ist das ein ganz wichtiger Teil dieser Offensive.

SB: Dem liegt ja auch eine bestimmte Form der Bezichtigung zugrunde. Den Menschen wird angelastet, für ihre Misere in jeder Beziehung selbst verantwortlich zu sein.

DH: Ja, genauso ist das.

SB: Wenn die industriell produzierten Gifte, der Streß der Arbeit und alle anderen Faktoren, für die sie nichts können, herausgerechnet werden, könnte man das nicht auch der Neoliberalisierung der Gesellschaft zuordnen?

DH: Das könnte man. Es kommt natürlich darauf an, wie du neoliberal begreifst. Ich glaube, das Koordinierte und die Kohärenz dieser Offensive auf den verschiedenen Gebieten übersteigt auch das, was man als neoliberal bezeichnet. Insofern sollte man diesen Begriff immer cum grano salis benutzen.

SB: Im Vortrag hast du Peter Thiel erwähnt, der zur ersten Riege der großen IT-Unternehmer gehört. Er ist für eine politisch sehr konservative Einstellung bekannt und plädiert für eine Art von Menschenoptimierung mit stark eugenischer Komponente. Findet da eine Art neuer Elitenbildung statt oder ist das nur eine Variation üblicher Klassenherrschaft?

DH: Nein, es geht um völlig neue Eliten. Ich habe das auf der Veranstaltung gestern in Leipzig vor sehr interessierten und sehr jungen ZuhörerInnen ein bißchen genauer thematisiert. Du hast es mit völlig neuen Eliten zu tun. Im Taylorismus waren es ja Ingenieure, die im Grunde genommen versuchten, die alte Gesellschaft zu zerstören und neu zu gestalten. Jetzt hast du ganz neue Personen dabei, die zwar ähnlich gestrickt sind, indem sie sich im Grunde genommen zu Herren der Welt machen wollen, aber es sind völlig neue Typen.

SB: Heute geht es bei Herrschaftsstrategien häufig um Gesundheit und Körperlichkeit. So hat Jens Spahn einen neuen Gesetzesentwurf vorgelegt, mit dem die Bewirtschaftung der individuellen Gesundheitsdaten auch für die kommerzielle Forschung in einem weit höheren Ausmaß als bisher möglich sein soll. Wird da nicht, anders als der verbreitete Eindruck suggeriert, alles sei virtuell abgehoben, auf eine sehr materielle, stoffliche Weise auf die Physis des Menschen zugegriffen?

DH: Das schon, aber der Punkt ist der, so sehr diese neuen, auch transhumanistischen IT-Eliten uns glauben machen wollen, daß sie einen Zugang zur Leib-Seele-Einheit und zu mentalen Bereichen haben, so weit entfernt davon sind sie. Wir haben das einmal in einem Beitrag zu Capulcu an der Frage der KI versucht deutlich zu machen. Die Transhumanisten glauben ja, daß sie zwischen den IT-Komplexen und Menschen Brücken herstellen können, über die sozusagen die Seele rüberfließt usw. Diese Schnittstellen sind überhaupt nicht herstellbar. Und zwar schon deswegen nicht, weil sie überhaupt keine Ahnung von den Leib-Seele-Prozessen des Menschlichen haben. Sie sind noch nicht einmal so weit zu verstehen, wie ein Fadenwurm, der gerade einmal 200 Neuronen hat, funktioniert. Das weiß man nicht. Sie sind gezwungen, metaphorisch mit Begriffen wie Willen - "Was will denn der Wurm?" - zu operieren, weil sie die informationstechnischen Prinzipien gar nicht kennen, nach denen der Fadenwurm funktioniert. Man begreift es noch nicht. Das menschliche Zentralnervensystem mit etwa 100 Milliarden Neuronen überschreitet alles bei weitem. Insofern mache ich mir gar keine Sorgen. Diese Diskrepanz äußert sich allerdings als Gewaltsamkeit in den Zurichtungsprozessen, denen die Menschen unterworfen werden.


Detlef Hartmann im Vortrag auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Forschen und streiten mit gebotener sozialrevolutionärer Radikalität ...
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Zu dem Ums Ganze-Kongress reproduce (future) 2016 in Hamburg hast du dich mit einem Kommentar zu Wort gemeldet, in dem du die Auffassung, Technologie als solche sei neutral, kritisiert hast [2]. Könntest du noch einmal erklären, warum Technologie nicht neutral sein kann, warum ihr immer Ziele und Zwecke ihrer ErfinderInnen oder ihrer technischen Umgebung eingeschrieben sind?

DH: Das geht aus dem Entstehungszusammenhang und dem, worauf sie abzielt, hervor. Sie zielt darauf ab, Profite zu machen und Menschen dauerhaft zu unterwerfen, um das zu ermöglichen. Das ist schon mal nicht gerade neutral (lacht). Alle, die glauben, das hier etwas Neutrales vorliegt, sind schief gewickelt. Ich glaube, es ist auch eine bestimmte Neutralitätsideologie einer bestimmten Richtung. Das kann man sogar bis in die einzelnen Gruppierungen hinein verfolgen. Die linken Ums Ganze-Leute sind sehr skeptisch, die rechten Ums Ganze-Leute sind das nicht. Bei der IL verhält es sich ähnlich, und bei der Rosa Luxemburg Stiftung findest du eigentlich eher einen Glauben an die Technologie vor.

SB: Du hast vor 50 Jahren im kalifornischen Berkeley studiert. Es gibt Leute, die vertreten die These, daß die 60er, 70er Jahre einen so starken Impuls gesetzt haben, daß die andere Seite heute noch damit beschäftigt ist, ihn irgendwie niederzumachen. Wie siehst du das?

DH: Ja, das würde ich auf jeden Fall so sehen. So etwas Einfaches wie der Zusammenhang zwischen Kämpfen, Musik und Liebe - das mag jetzt ein bißchen trivial klingen, aber so war es damals -, ist so gefährlich für das System, daß sie unter allen Umständen danach trachten müssen, das zu neutralisieren. Die Musik wirkt bis heute fort, du hast ja noch immer Erinnerungen an Musik, die es damals gegeben hat, du hast die Erinnerung an die Hippies usw. Das ist ein Impuls gewesen, der überhaupt noch nicht erloschen ist und der möglicherweise wieder aufwallt, wenn neue Entwicklungsgefühle reinkommen.

SB: Bist du dort bei deinem Studium politisiert worden?

DH: Ich bin da politisiert worden. Ich war vorher in Deutschland natürlich auch schon politisiert, aber eher rudimentär. Doch die Zeit in Berkeley war ganz entscheidend. Da war der Krieg gegen Vietnam, alle Leute auf dem Universitätscampus haben sich mit einem Mut und einer Überzeugungskraft in den Widerstand eingebracht, die letzten Endes auch diesen Krieg gestoppt hat. Gleichzeitig bestand die Verbindung mit den AfroamerikanerInnen zwischen dem antirassistischen und dem gegen Ausbeutung gerichteten Kampf. Das war im Westen der USA sehr präsent und bei uns in Berkeley mit Oakland direkt daneben, wo viele Leute wohnten, die verschwunden sind und sich versteckt haben, damit sie nicht für Vietnam gezogen wurden, besonders. Auch die Black Panther-Bewegung war für mich und für die Leute, mit denen ich darüber redete, eine ganz wichtige Geschichte und ein explosiver Punkt, von dem so viele Sachen ausgegangen sind.

SB: Die Hippies werden heute eher belächelt und haben ein relativ negatives Image, wahrscheinlich auch durch die kulturindustrielle Reproduktion ihres Bildes bedingt. Für mich war das insofern hochinteressant und vorbildhaft, weil Hippies in ihrer Lebenspraxis die Eigentumsfrage gestellt haben. Es wurde tatsächlich kollektiv gedacht und auch kollektiv gelebt, wogegen die Idee des Kollektiven heute regelrecht negativ besetzt zu sein scheint.

DH: Wir haben auch gestern auf der Veranstaltung in Leipzig thematisiert, daß die Bereitschaft und die Fähigkeit, überhaupt kollektiv zu fühlen und kollektive Bindungen einzugehen, im Augenblick ganz schwach entwickelt ist und daß wir uns dringend bemühen müssen, das wieder aufleben zu lassen. Insofern sind die Hippies zwar keine Vorbilder, denn die Kids haben heute überhaupt kein Feeling mehr dafür, was damals gewesen ist, doch das war schon eine wichtige Erscheinung des Kollektiven über die engen Grenzen der Community hinaus, die tatsächlich das ganze Land in den USA ergriffen hatte. Das ist eine total wichtige Geschichte, und da gibt es im Augenblick wirklich enorme Defizite.

SB: Wenn man in der heutigen kapitalistischen, von imperialistischen Akteuren beherrschten Welt in irgendeiner Form so etwas wie ein Gesellschaftsexperiment, eine andere Form zu leben, entwickeln will, dann kann so etwas eigentlich nur im Schatten anderer Mächte geschehen. So sind zum Beispiel die KurdInnen im nordsyrischen Rojava ein befristetes Bündnis mit den USA eingegangen. Kannst du dir vorstellen, daß es unter verschärften Krisenbedingungen wie Mangel und so weiter, die mit der Veränderung des Klimas auf immer mehr Menschen zukommen, überhaupt noch Möglichkeiten geben wird, Gemeinschaft, Kollektivität und alternatives Leben zu realisieren?

DH: Das glaube ich auf jeden Fall. In Anbetracht dieser enormen Zerstörungen, die auch mit den neuen Technologien verbunden sind, Entautonomisierung und so weiter, wird es eine neue Artikulation des Bedürfnisses nach Gemeinschaft geben. Und nach einer kämpferischen Gemeinschaft gegen diesen Kapitalismus sowieso, weil die Menschen sind, wie sie sind. Das sind ursprüngliche Bedürfnisse, die sich in jeder Phase der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus neu artikulieren. Davon bin ich fest überzeugt, es geht gar nicht anders. Ich merke das auch an den Kids, die wollen das. Bei dieser Veranstaltung in Leipzig, wo hauptsächlich junge Leute waren, wurde sehr lange darüber diskutiert, wie sehr uns das gerade fehlt. Wir haben auch darüber geredet, wie man sich tatsächlich an Rojava orientieren kann, wo sich ja viele kollektiv orientierte Bedürfnisse artikuliert haben, die sich zum Teil - ich habe heute von der moralischen Ökonomie geredet - zurückführen lassen auf die moralisch-ökonomischen Beziehungen in den kurdischen Dörfern. Das ist ja etwas, was Öcalan inzwischen auch gemerkt hat, weshalb er eine leichte Drehung vollzogen hat. Gestern haben wir auch darüber diskutiert, wie notwendig es ist, sich von uns aus darauf zu beziehen und daraus zu lernen.

SB: Detlef, vielen Dank für das Gespräch.


Detlef Hartmann bei der Buchpräsentation - Foto: © 2019 by Schattenblick

Den herrschenden Zumutungen schonungslos auf den Grund gehen ...
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar654.html

[2] https://techno.umsganze.org/kritische-stellungnahmen/#hartmann


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:


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16. Dezember 2019


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