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MARKT/120: Eine Preiskrise - zwei Demos (ubs)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 392 - Oktober 2015
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Eine Preiskrise - zwei Demos
Die Vorstellungen von zukunftsfähiger Marktgestaltung weisen in verschiedene Richtungen

Von Christine Weißenberg


Es wurde deutlich in Brüssel: Die Milchbäuerinnen und -bauern haben Wut im Bauch, weil die aktuelle Milchpreiskrise auf den Höfen an die Substanz geht. Mehrere Tausend forderten Anfang September während der Marktkrisensitzung der europäischen Landwirtschaftsminister Unterstützung durch wirksame politische Maßnahmen. Bei der Frage, was als zukunftsfähige Agrarmarktpolitik angesehen wird, stehen sich jedoch ganz grundsätzlich zwei Richtungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegenüber: Weltmarkt- oder Bedarfsorientierung. Diese Spannung zeigte sich eindrücklich durch zwei verschiedene Demonstrationen vor den EU-Gebäuden. Aufgerufen hatten zum einen der Zusammenschluss COPA-COGECA der Bauern- und Genossenschaftsverbände und zum anderen die europäischen Milchbauernorganisationen unter dem Dach des European Milkboard, deren Aktion sich die meisten anschlossen. Auf der Seite der großen Bauernverbände, die eng mit den der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Bereichen der gesamten Ernährungsbranche verwoben sind, wird die Ausrichtung auf freien Markt und Wirtschaftswachstum auf Basis von weltweitem Handel angestrebt. Politische Vorgaben stören den Wettbewerb. Die Äußerungen des Deutschen Bauernverbands (DBV) legen nahe, der Markt sei etwas, woran man teilnehmen kann, was aber außerhalb der Gestaltungsreichweite liegt: In einem Interview mit dem Spiegel sagte der Präsident des DBV, Joachim Rukwied: "Im Moment sind die Preise bei allen landwirtschaftlichen Produkten zu tief. Aber das ist ein Ergebnis des Marktes und der ist global." Seine Rezepte: bei akuter Preiskrise Liquiditätshilfen und langfristig "die Erschließung neuer Exportmärkte und der Abbau von Handelshemmnissen". Eine Sichtweise, die weitgehend auch die Bundeslandwirtschaftspolitik bestimmt: Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt setzt voll auf Exportförderung und lehnte bis vor kurzem jede Idee von Mengensteuerung als "aufgehübschte Quote" ab. Sein Staatssekretär, Dr. Robert Kloos, bezeichnete auf einer Agrarwirtschaftstagung offene Märkte als eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen dauerhaften Erfolg der Branche und hob das geplante Freihandelsabkommen TTIP als Chance hervor. Zu all dem passt das von den EU-Agrarministern letztlich beschlossene Maßnahmenpaket mit einer Ausstattung von 500 Mio. Euro für finanzielle Soforthilfen und einer geplanten Exportoffensive.

Erzeugerebene braucht Handhabe

Auf der anderen Seite weisen Bauernorganisationen, die zum weltweiten Netzwerk Via Campesina gehören, wie die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), und die europaweit entstandenen Interessenverbände der Milchbauern, wie der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM), darauf hin, dass die Einflussmöglichkeiten der Milcherzeuger innerhalb der großen oder sogar globalen Wertschöpfungsketten sehr gering sind. "In der Strategie der Bauernverbände und der Milchindustrie verkommen die Milchbauern zu reinen Rohstofflieferanten, die den Molkereien die Milch zu möglichst niedrigen Preisen zu liefern haben", beschreibt Ottmar Ilchmann von der AbL die Notwendigkeit für Marktregeln, die auf Erzeugerebene ansetzen. Vom Ernst der Lage auch für Betriebe, die sich marktkonform aufgestellt haben, berichten Finanzierungsberater von Banken. Einer von ihnen erklärte in einem Fachgespräch, dass auf den Höfen noch Liquiditätslöcher aus den vorherigen Krisen bestünden. Die Überschuldung liege z. T. bei 23.000 EUR/ha und die Kapitaldienstbelastung teilweise höher als 6 Cent pro Liter Milch. Die Kosten geraten durch die weltweite Konkurrenz stark unter Druck, gleichzeitig bestehen jedoch in der EU ökologische und gesellschaftliche Anforderungen, die über die Rohstofferzeugung hinausgehen.

Bedarf im eigenen System

Die alternativen Bauernorganisationen fordern eine Orientierung der Lebensmittelerzeugung an der Nachfrage und den gemeinsamen Anforderungen innerhalb des Wirtschaftsraumes der EU. Anstatt letztere als Wettbewerbsnachteil auf dem Weltmarkt zu verteufeln, setzt sich die AbL dafür ein, besondere Leistungen als Qualitätsmerkmal zu vermarkten. BDM-Vorsitzender Romuald Schaber erklärt den Sinn von Mengensteuerung: "Setzt man die vorgesehenen Mittel gezielt für eine Marktbereinigung des Überangebots ein, wird das Geld der Milchviehhalter für den Steuerzahler kostenneutral reinvestiert. Wir wollen den Markt aktiv in Ordnung bringen, statt finanzielle Trostpflästerchen zu erhalten." Unterstützt werden die Anstrengungen der Bäuerinnen und Bauern für einen gemeinsamen europäischen Handlungsgahmen u. a. durch einen bemerkenswerten Solidaritätsaufruf, der von entwicklungspolitischen Organisationen wie Oxfam, FIAN und Tierärzte ohne Grenzen sowie von einer Reihe westafrikanischer Landwirtschafts- und Milchbauernverbänden unterzeichnet wurde: "Wir unterstützen die Forderungen der europäischen Milchbauern nach profitablen Preisen durch eine Produktion, die auf einem Niveau entsprechend der europäischen Bedürfnisse reguliert wird. (...) Die Volatilität und der Verfall der Milchpreise sind nicht zwangsläufig. Sie sind Ergebnisse von politischen Entscheidungen. (...) Wir brauchen Solidarität zwischen LandwirtInnen, zwischen Staaten sowie zwischen Erzeugern und Konsumenten genauso wie Produktionsregeln, die faire Preise ermöglichen. Wir müssen nachhaltige, bäuerliche, vielfältige Landwirtschaft erhalten, die es jeder Region der Welt ermöglicht, ihre eigenen Ernährungssysteme zu entwickeln, und damit das Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität respektieren."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- In Brüssel ließen sich die Agrarminister von der Polizei vor den demonstrierenden Milchbauern abschirmen

- Melken unter lokalen Bedingungen im Niger

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 392 - Oktober 2015, S. 14
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
Bahnhofstr. 31, 59065 Hamm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2015

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