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GRENZEN/023: Kein Ende der Flüchtlingstragödien (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56
Heft zum Tag des Flüchtlings 2011, PRO ASYL

Kein Ende der Flüchtlingstragödien
Zur Situation der Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen

Von Judith Kopp


Während der letzten zwanzig Jahre kamen nach Schätzungen annähernd 15.000 Menschen entlang der europäischen Grenze ums Leben. Seit 2009 waren die Zahlen der Bootsflüchtlinge stark rückläufig. Ein Trend, der mit den Revolutionen in Nordafrika zu Beginn des Jahres 2011 unterbrochen wurde. Die temporäre Aussetzung der Grenzkontrollen, insbesondere vor den Küsten Tunesiens, führte zu einem Anstieg der Bootsankünfte - über 20.000 Bootsflüchtlinge in Italien und 500 auf der Insel Malta wurden allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres registriert. Italien rief den »Notstand « aus und verlangte die Unterstützung von Frontex. Am 20. Februar 2011 lief die »Operation Hermes« unter Leitung Italiens an.


BLOCKADE DER SEEWEGE

Im Jahr 2009 war im Vergleich zum Vorjahr eine erhebliche Abnahme »illegaler Grenzübertritte« (Frontex) von Flüchtlingen und Migranten in die Europäische Union (EU) zu verzeichnen. Insgesamt konnte ein Rückgang um 33 % von 159.100 auf 106.200 Schutzsuchende festgestellt werden. Wichtigster Grund für den sinkenden Trend in den Jahren 2009 und 2010 sind die immer effektiveren Grenzkontrollen an der EU-Außengrenze, insbesondere zwischen Westafrika und den Kanarischen Inseln und zwischen Libyen und Italien bzw. Malta. Diese Blockade der Seewege wurde im Wesentlichen durch bilaterale Abkommen durchgesetzt und von Frontex-koordinierten Seeoperationen flankiert. Die wichtigsten Kooperationsabkommen unterzeichnete Italien mit Libyen (2008) und Spanien mit Senegal (2006) und Mauretanien (2003). Die Zusammenarbeit bei der Flucht- und Migrationskontrolle durch gemeinsame Patrouillen vor den Küsten Nordafrikas und Rückübernahmevereinbarungen ist Bestandteil aller drei Abkommen. Damit konnten Flüchtlinge bereits vor Erreichen des europäischen Territoriums aufgehalten werden.


NEUE HAUPTFLUCHTROUTE: TÜRKEI-GRIECHENLAND

Die Kontrollen im westlichen und zentralen Mittelmeer führten zu neuen Fluchtrouten. So wurden 2009 75 % aller nicht autorisierten Grenzübertritte von Schutzsuchenden in die EU in Griechenland registriert. Unter ihnen waren zu 80 % Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia und Palästina. Die sogenannte östliche Mittelmeerroute nimmt, wer über die Türkei in die EU gelangt. Von dort aus geht es weiter nach Griechenland, Südbulgarien oder Zypern. 2009 nahmen insgesamt 41.500 Flüchtlinge diese Route; die Türkei wurde zum wichtigsten Transitland von Schutzsuchenden auf ihrem Weg in die EU. Anfang 2010 verzeichneten die Behörden zum ersten Mal mehr Flüchtlinge an der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland, vor allem am Grenzfluss Evros, als auf See. Nach Angaben von Frontex wurden 2010 über 40.000 Personen an der griechisch-türkischen Grenze festgenommen.

Die EU reagierte im November 2010 auf diese Entwicklungen mit einer massiven Verstärkung der Grenzkontrollen im Evros-Gebiet: Zum ersten Mal kam es zu einem RABIT-Einsatz (Rapid Border Intervention Team) an der europäischen Außengrenze. Dies führte zu einem massiven Rückgang der täglich abgefangenen Flüchtlinge um 76 % zwischen Oktober 2010 und Februar 2011. Im Jahresprogramm von Frontex für das Jahr 2011 wird bereits ein neuer Grenzabschnitt ins Visier genommen: Im März 2011 wird der Schengenraum auf Bulgarien und Rumänien ausgeweitet; im Programm heißt es, die Erweiterung werde wahrscheinlich zu mehr irregulärer Migration an der Landgrenze zwischen Bulgarien und der Türkei führen.


DIE FLÜCHTLINGSTRAGÖDIEN GEHEN WEITER

Seit Mitte Februar 2011 wurde das zentrale Mittelmeer schlagartig erneut zur wichtigsten Fluchtroute aus Nordafrika: Der Ausfall der Grenzkontrollen durch die demokratischen Umbrüche im Maghreb hatte den Seeweg unerwartet geöffnet. Bis Ende März waren über 20.000 Bootsflüchtlinge auf der italienischen Insel Lampedusa angelandet. Italiens Innenminister Roberto Maroni sprach bereits nach den ersten Ankünften von Flüchtlingsbooten auf der Insel von einem »Exodus biblischen Ausmaßes« und forderte die Unterstützung von Frontex an. Die sogenannte Operation Hermes wurde kurz nach Beginn des Einsatzes auf fünf Monate verlängert und geographisch bis auf die griechische Insel Kreta ausgedehnt. Indessen verschlechtern sich die Bedingungen auf Lampedusa für die Flüchtlinge rapide. Viel zu spät fanden erste Transfers auf italienisches Festland statt. Die italienische Regierung ist immer noch nicht in der Lage, ein geregeltes und menschenwürdiges Verfahren zur Aufnahme von Flüchtlingen zu garantieren und in Brüssel scheint ein solidarischer Umgang mit der Situation in weiter Ferne.

Auch der demokratische Umbruch in Nordafrika vermag bisher keinen Politikwechsel Europas zu bewirken. Die Strategie, Transitstaaten in die Flüchtlingsabwehr einzubinden, wird fortgeführt. Bereits jetzt wird an der Wiederaufnahme alter Abkommen gearbeitet: Ende März 2011 verhandelte Italien in Tunis über eine Weiterführung der Zusammenarbeit. Der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments ließ Mitte März verlauten, die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit Libyen würden wieder aufgenommen, sobald eine neue Regierung im Amt sei.

Unterdessen meldete das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen Anfang April zwei Boote mit mehr als 400 Menschen an Bord als verschollen. 68 Leichen sollen in Libyen an die Küste gespült worden sein. Wenn Europa den demokratischen Wandel in Nordafrika tatsächlich unterstützen und die Tragödien im Mittelmeer beenden will, muss die Flüchtlings- und Migrationspolitik grundlegend überdacht werden.


ZENTRALE MITTELMEERROUTE

Flüchtlinge, die aus Nordafrika nach Italien oder Malta übersetzen, nehmen die sogenannte zentrale Mittelmeerroute. Libyen wurde in den letzten Jahren zum wichtigsten Transitland Nordafrikas. Das bilaterale Abkommen zwischen Italien und Libyen, das im Mai 2009 praktisch umgesetzt wurde, führte zu einem starken Rückgang der ankommenden Boote. Im gesamten Jahr 2008 kamen noch 40.000 Bootsflüchtlinge in Italien an. In den sieben Monaten nach den ersten gemeinsamen Patrouillenfahrten von Italien und Libyen (Juni bis Dezember 2009) wurden lediglich 3.200 Personen registriert. 2010 waren es bis September nur 2.907 Bootsflüchtlinge.


WESTAFRIKANISCHE ROUTE

Die westafrikanische Route führt von Westafrika über den Atlantik nach Spanien, meist über die Kanarischen Inseln. Die meisten Flüchtlinge treten die Überfahrt von Senegal und Mauretanien aus an. Der Großteil der Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten stammt aus Mali, Mauretanien, Guinea Conakry und Senegal. Die Route wird jedoch nur noch selten genutzt, da der Fluchtweg aufgrund der spanischen Kooperationsabkommen mit Senegal und Mauretanien weitgehend blockiert ist. Auch die Frontex-Operation Hera spielt hier eine wichtige Rolle bei der Flucht- und Migrationsverhinderung. Von 2008 bis 2009 nahm die Anzahl registrierter Bootsflüchtlinge um 76 % ab. In den ersten drei Monaten des Jahres 2010 kamen nur noch fünf Bootsflüchtlinge in Spanien an.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56, S. 24-25
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/Heft_TdF_2011_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für
Flüchtlinge
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E-Mail: proasyl@proasyl.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2011