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ITALIEN/173: Immer mehr Italiener müssen auswandern (Gerhard Feldbauer)


Immer mehr Italiener müssen auswandern

Die Wurzeln reichen weit zurück

von Gerhard Feldbauer, 8. April 2017


2016 mussten wieder 115.000 Italiener auswandern, weil sie darin die letzte Möglichkeit sehen, einem Leben ohne Zukunft, oft dem Versinken in der Armut, zu entgehen. Das sei, wie ein Bericht des Staatlichen Amtes für Statistik ISTAT, aus dem die römische La Repubblica am Dienstag Passagen wiedergab, gegenüber 107.529 im Vorjahr "ein neuer Rekord". Aber auch gegenüber 2014 waren das bereits 10.000 mehr gewesen. Die Fondazione Migrantes berichtete kürzlich, dass Ende 2015 4.811.163 Italiener im Ausland lebten, einer von zwölf Einwohnern.

2014 befanden sich unter den Auswanderern rund 40.000 Jugendliche, die meist noch nie eine reguläre Arbeit hatten und ein Leben in bitterster Armut fristeten. Weiter betrifft es Studenten, die abbrechen, weil sie danach keine berufliche Perspektive sehen, aber auch Universitätsabsolventen mit Doktorgrad, die laut ISTAT 2016 31 Prozent ausmachten. Als ein die Migration antreibender Faktor wirkte die unter Matteo Renzi, bis Dezember 2016 Premier vom sozialdemokratischen Partito Democratico (PD), durchgesetzte Jobs act genannte Arbeitsmarktreform. Sie beseitigte den Kündigungsschutz für Millionen Beschäftigte und trieb die Arbeitslosenquote Ende 2016 auf über 14 Prozent hoch, darunter bei Jugendlichen auf mehr als das Dreifache. Die Zahl der Ärmsten wuchs 2015 auf 4,6 Millionen an und verdoppelte sich seit 2007 um mehr als das Doppelte. Waren bisher die USA, Deutschland oder Frankreich Zielländer, so macht ISTAT jetzt auch China, Lateinamerika oder Länder des Golf aus, in die sich Experten, Unternehmer aber auch weniger qualifizierte Arbeiter begeben. Sie suchten Karrierechancen, um die Zukunft ihrer Familien zu sichern. La Repubblica schreibt, dass sie einer ungewissen Zukunft entgegen gehen, sie ihre Familien zurücklassen, eine Sprache erlernen müssen.

Wie die Fondazione Migrantes hervorhob, stammt die Hälfte der Menschen, die Italien verlassen, aus dem Süden. Dort gibt es Gemeinden wie Licate und Favara in Sizilien, wo 40 Prozent und mehr der Einwohner ausgewandert sind. Der Sozialarbeiter Armando Semanasanta in San Sebastiano al Vesuvio, einer Gemeinde in der Provinz Neapel, nennt die nie endende Armut den Faktor, der seit Generationen die Menschen in die Fremde treibt. Er meint, die jetzige Massenflucht habe schon vor anderthalb Jahrhunderten eingesetzt, als die bürgerliche Revolution 1870 die Agrarfrage nicht löste, was zu einer ungeheuren Verarmung der Landbevölkerung führte. Zwischen 1861 und 1881 verlor damals etwa ein Fünftel der italienischen Bauern (800.000) ihren Boden, den kapitalkräftige Bourgeois aufkauften. Zwischen 1901 bis 1913 wurden acht Millionen Italiener in die Fremde vertrieben, davon fünf nach Übersee. Während des Zweiten Weltkrieges unterbrochen setzte die Auswanderung schon bald wieder ein. Semanasanta verweist auf die Landfreform von 1950, in der von 4,5 Millionen Landarbeitern, Tagelöhnen und Pächtern (landlose Bauern) gerademal 109.425 Familien 749.210 Hektar Land davon zwei Drittel im Süden erhielte. Dafür hatten sie den Besitzern in 30 Jahren über die Staatskasse eine Entschädigung zum Marktpreis zu zahlen. Die verkauften Böden waren nur sieben Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Die Folge des ungestillten Landhungers war ein neuer Exodus. 1972 stieg die Zahl der Landbewohner, die seit 1946 auswanderten auf über drei Millionen an, davon kamen wiederum 2,5 Millionen aus dem Süden. Die EWG-Gründung 1957, des Vorläufers der heutigen EU, führte zum »Gesundschrumpfen« Hunderttausender Landwirtschaftsbetriebe und beförderte die Landflucht weiter.

Die Kämpfe um Land und damit für den Fortschritt haben zu allen Zeiten Künstler und Schriftsteller in aufrüttelnden Werken dargestellt. Giovanni Verga (der Begründer des Verismus), schilderte u. a. 1880 in "Sizilianische Dorfgeschichten" die erschütternde Armut der sizilianischen Landbevölkerung. Die Novelle "Sizilianische Bauernehre" (1884), nahm Pietro Mascagni als Stoff für seine weltweit bekannt gewordene Oper "Cavalleria rusticana". Der Kommunist Renato Guttuso schuf 1950/51 das monumentale Gemälde "Inbesitznahme des unbebauten Landes", mit dem er zu einem der großen Begründer des Realismus wurde. In "Worte sind Steine" gestaltete Carlo Levi das Wirken eines der großen Organisatoren der Landnahmebewegung, des von der Mafia ermordeten Sekretärs der Kammer der Arbeit in Palermo, Salvatore Carnevale.

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Quelle:
© 2017 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2017

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