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INNEN/444: Europa im Wandel (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 12 vom 6. Juli 2010

Europa im Wandel
Eine Tagung zum Strukturwandel blickt über deutsche Grenzen hinaus

Von Michael Ernst


Im Herbst 1989 wehte der Hauch der Geschichte stürmisch durchs Land. Das Ergebnis waren Mauerfall und völlig veränderte Lebensbedingungen für die Menschen im Osten Deutschlands. Sonst nichts?

Bei gründlichem Nachdenken wird deutlich, dass dieser Herbst vor gut zwanzig Jahren durchaus Konsequenzen von europäischem, ja von globalem Ausmaß nach sich zog. Eine internationale Tagung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden befasste sich nun zumindest mit den Auswirkungen in den Staaten des einstigen Ostblocks und untersuchte die dortige "Systemtransformation in den Jahren 1990-2010".

In den Räumen der Brücke/Most-Stiftung, ein zu diesem Anlass trefflich gewählter Ort, trafen sich Ende Juni Experten aus Ost und West und debattierten den Wandel "Vom Ostblock zur Europäischen Union" unter politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten. Insbesondere die 2004 neu in der EU aufgenommenen Mitgliedsländer wurden auf Gemeinsamkeiten wie Unterschiede hin überprüft. Wie anders liefen Prozesse etwa in den baltischen Staaten, in Polen, Tschechien, der Slowakei und in Ungarn, in Bulgarien, Rumänien und Slowenien ab? Sind die dortigen Umbrüche mit denen der DDR bzw. der noch immer so genannten neuen Bundesländer überhaupt vergleichbar?

Drei Tage lang ging es in den Debatten um die Folgen des Systemwechsels, wurden Verfassungsstrukturen analysiert, die jeweiligen Formen des Wahlrechts beleuchtet, sind Phasen von Demokratisierung und Parteiengründung besprochen und gegeneinander abgegrenzt worden. Unterschiedliche Ansichten gab es zum Stichwort Demokratiekonsolidierung. Durchaus nachvollziehbar, dass dies stets von Neuem zu erkämpfen und zu verteidigen sei, also kaum dauerhaft konsolidiert sein könne. Blicke in süd- und westeuropäische Richtungen sowie der Verweis auf Belgien und Italien bekräftigten diese These.

Ausführlich ging es um den Zusammenhang von gesellschaftspolitischen und Wirtschaftsfragen. Nicht überall gab es eine Einrichtung wie die Treuhand, die den Schritt von der Plan- zur Marktwirtschaft steuerte. Spannend war, welche Konsequenzen die derzeitigen Systemkrisen auslösten und wie differenziert die einzelnen Staaten dafür gewappnet schienen. Polen etwa, wo relativ rigide und mit einer zunächst gewaltigen sozialen Schieflage in die Marktwirtschaft gestartet wurde, komme nun wesentlich besser zurecht als ein Land wie Rumänien, wo der ökonomische Umbruch sanfter vonstatten ging, um möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten.

Interessant auch die Schilderungen, was aus den einstigen Machthabern geworden ist, wie sie sich gewandelt haben, teils zu Reformern avancierten, teils zu Oligarchen, und mitunter völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden sind.

So eine Tagung macht aber auch deutlich, dass Historiker und Politikwissenschaftler durchaus unterschiedliche Perspektiven haben und daher mitunter zu einander widersprüchlichen - oder zumindest zu sich ergänzenden - Resultaten kommen. Gewagt schien in diesem Zusammenhang die Meinung, dass in der Unterschiedlichkeit, wie mit der Auflösung des alten Systems und der Integration in die EU von heute umgegangen wird, noch Rudimente von byzantinischem und altrömischem Einfluss spürbar seien und nachwirkten. Nicht nur hier gab es Widerspruch; offen blieb auch die Frage, wie aus Bürgern, die sich mehr oder minder stark als Befehlsempfänger begriffen hätten, aktive Mitgestalter der Gesellschaft werden könnten.

Der Wandel von einer Ablehnung staatlicher Systeme hin zu einem positiven Identifikationsprozess wird gewiss noch künftig für Klärungsbedarf sorgen. So manches Thema mündete in Grundsatzfragen nach der politischen Kultur - generell stand da die Suche im Raum, wie die EU gerade in den neuen Mitgliedsstaaten stabilisierend wirken könne.

Prof. Günther Heydemann, Direktor am Hannah-Arendt-Institut und Initiator dieser Osteuropa-Tagung, brachte sein Anliegen so auf den Punkt: Endlich raus aus deutsch-deutscher Nabelschau! Auf Grundlage der gehörten Referate solle zudem eine Art Handbuch erarbeitet werden, ein wissenschaftliches Kompendium von einiger Gültigkeit, das nebst ausführlicher Einleitung und einem Schlusskapitel, in dem auch begründet wird, was warum in diesem Zusammenhang nicht vergleichbar ist, die hauptsächlichen Thesen des Treffens beinhaltet.

Das Spezialistenwissen soll etwa in einem Jahr gedruckt vorliegen, für eine englische Fassung sei man mit der Bundeszentrale für politische Bildung bereits im Gespräch.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 21. Jg., Nr. 12 vom 06.07.2010, S. 6
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2010