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INNEN/481: Herausforderungen für die Demokratie durch die Krise in der Eurozone (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012

Herausforderungen für die Demokratie durch die Krise in der Eurozone

Von Vivien A. Schmidt



Die Krise in der Eurozone hat die Bürger desillusioniert. Dadurch bekommt auch das "demokratische Europa" zunehmend Probleme. Es ist an der Zeit, sich von falschen "Patentrezepten" zu verabschieden. Unsere Autorin analysiert, was sich auf der Ebene der europäischen Politik, aber auch bei den Richtlinien und Prozessen ändern muss.


Obwohl die EU im Alltag der Menschen und bei ihrer täglichen Arbeit keine direkte Rolle spielt, sind pro-europäische Einstellungen nicht mehr weit verbreitet und ein allgemeiner Vertrauensverlust bei den Bürgern spürbar. Die Euroskeptiker sind auf dem Vormarsch und Parteien des extremen linken und rechten Flügels haben mit ihren Positionen gegen die EU und gegen Zuwanderung an Unterstützung gewonnen. Aber mittlerweile hat die Krise in der Eurozone auch die großen bürgerlichen Parteien gespalten. Die Vorstellung, zu einem vereinten Europa zu gehören, ist nicht mehr attraktiv, die allgemeine Solidarität schwindet, und parallel zur Verschlechterung der sozioökonomischen Lage nehmen Nationalismus und Populismus zu.


Falsche Patentrezepte

Zuallererst muss die EU Wege finden, um die Märkte zu beruhigen. Es muss Wachstum generiert und gleichzeitig eine integrierte und effektive Wirtschaftspolitik vorangetrieben werden. Es gab in den letzten Jahren eine Reihe brauchbarer Initiativen, um die Probleme zu lösen: Die EZB hätte man zum Geldgeber des "letzten Auswegs" machen können, Schulden hätte man durch Eurobonds zusammenfassen oder das Wachstum durch Projektbonds fördern können. Man hätte den Mechanismen der Kreditgarantien (EFSF, ESM) durch Umwandlung in einen Europäischen Währungsfonds Kraft verleihen können. Oder man hätte die Europäische Investment Bank mit erheblich mehr Mitteln zur Finanzierung von Europas Zukunft ausstatten können. Doch anstatt eine oder mehrere dieser Alternativen zu wählen, lautete das Patentrezept: Haushaltskonsolidierung durch einen schnellen Defizitabbau.

Viele der Probleme der EU sind das Resultat mangelnder Führung oder, genauer gesagt, falscher Führung. Die Haushaltskonsolidierung ist ein zentrales Ziel, aber warum in einem solch halsbrecherischen Tempo? Der radikale Schuldenabbau hat bereits angeschlagene Volkswirtschaften, vor allem in Südeuropa, zurück in die Rezession geführt. Warum sollte man Ländern während eines wirtschaftlichen Abschwungs nicht mehr Zeit zum Schuldenabbau einräumen? Und warum sollten die Schulden nicht auch anders berechnet werden, indem man beispielsweise wachstumsfördernde Investitionen in Ausbildung und Schulung, Forschung und Entwicklung, Infrastruktur und erneuerbare Energien nicht in die Rechnung einfließen ließe? Strukturelle Reformen allein können kein schnelles Wachstum fördern, da sich Wirkungen sicherlich nicht kurzfristig einstellen. Es wäre besser, einen langsameren Abbau des Haushaltsdefizits gegen strukturelle Reformen abzuwägen, die auch umgesetzt und akzeptiert würden.

Wenn die EU die Herzen und Köpfe in der Krise zurückgewinnen möchte, muss sie Unangenehmes mit Angenehmem verbinden. Dies bedeutet auch, dass die EU die Mittel erhalten muss, um nicht nur die Krise zu bewältigen, sondern auch um Umverteilungen vornehmen zu können. Sie benötigt daher ihre eigenen finanziellen Mittel - eine Finanztransaktionssteuer, eine Mehrwertsteuer auf länderübergreifende wirtschaftliche Transaktionen wären ein Anfang, vielleicht sogar auch eine Solidaritätssteuer. Das Schreckgespenst von der "Transferunion" wäre damit bekämpft, Identität und Solidarität könnten gestärkt werden. Wenn dies derzeit keine Optionen sind, würde zumindest die Verteilung der Gelder, welche die EU besitzt, helfen, etwa indem man die Strukturfonds tatsächlich an die Regionen auszahlt, bei denen der Bedarf am größten ist, und die derzeit weniger als 10% dessen erhalten, worauf sie eigentlich einen Anspruch haben.

Damit aber die EU ernsthafte Umverteilungsmöglichkeiten beziehungsweise reale Steuereinnahmen und Ausgabemöglichkeiten bekommt, bedarf es mehr Demokratie und Legitimierung. Aber auch dies steht derzeit auf dem Prüfstand.


Ausbalancierung institutioneller Prozesse

Die Krux des aktuellen Problems für die Demokratie in der EU liegt in den Entscheidungsfindungsprozessen, in denen zunehmend Technokratie mit einem extremen Intergouvernementalismus verbunden wurde. Einige Regierungschefs in der EU scheinen aber der Ansicht zu sein, dass diese Form der Regierung noch demokratischer sei als jede andere. Kanzlerin Merkel hat in Brügge im November 2010 diese "neue Unionsmethode" gepriesen - obwohl sie in letzter Zeit ein föderaleres Europa fordert - während Präsident Sarkozy in seiner Rede in Toulon im Dezember 2011 noch behauptete, dass die Regierung des Rates am demokratischsten sei. Die Tatsache, dass sich dieser Intergouvernementalismus bisher vor allem auf das Paar Frankreich-Deutschland zu beziehen scheint - oder gar nur auf Deutschland - macht diesen Prozess noch problematischer.

Dieser Intergouvernementalismus rückt das Europäische Parlament bei all dem völlig in den Hintergrund. Dies kam ganz deutlich während der Krise in der Eurozone zum Ausdruck, über die das EP noch nicht einmal diskutieren durfte. Und ohne politische Debatten, welche sich auf der rechten oder linken Seite dafür oder dagegen aussprechen, können Richtlinien weder geändert noch voll legitimiert werden.

Darüber hinaus ist die EU-Kommission mittlerweile nicht mehr als ein Sekretariat. Im Unterschied zu ihrer früheren Funktion als Initiator der Entscheidungsfindung der "Gemeinschaftsmethode", unterliegt die EU-Kommission zunehmend der Technokratie, indem sie automatische Richtlinien des Rates nur noch zu verwalten hat. Man nimmt wohl an, dass hierdurch Verantwortung, Effizienz und Vertrauenswürdigkeit der Prozesse sichergestellt würden. Aber die EU-Kommission riskiert den Verlust an Glaubwürdigkeit, wenn sie als repressiv (wie gegenüber Südeuropa), befangen (da ihre Richtlinien Nordeuropa zugutekommen) oder nicht ausgewogen wahrgenommen wird, weil sie Länder unterschiedlich behandelt, wie angemessen auch immer die Gründe sein mögen. Die EU-Kommission kann nicht effektiv oder gut regieren, wenn bestehende intergouvernementale Entscheidungen sowohl über die Vorschriften an sich als auch die Mechanismen ihrer Umsetzung getroffen werden. Die EU benötigt also dringend eine Ausbalancierung der institutionellen Prozesse, damit das Europäische Parlament und die Kommission als Institutionen, die mit dem Rat auf gleicher Stufe stehen, zu ihren traditionellen Funktionen im Entscheidungsfindungsprozess zurückfinden können.


"Politik ohne Richtlinien" - "Richtlinie ohne Politik"?

Schließlich stellt die Politik sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene ein großes Problem dar. Nationale Regierungen müssen Wege finden, um die Bürger am Entscheidungsfindungsprozess zu beteiligen. Derzeit bringen nationale Regierungen im Allgemeinen ihre Präferenzen in der EU zum Ausdruck, wobei es relativ wenig direkten Input der Bürger gibt, und - in einigen Fällen - auch wenig Input der nationalen Parlamente. Die einzige Möglichkeit, wie die Bürger ihre Unzufriedenheit mit der bestehenden Politik zum Ausdruck bringen können, ist durch Abwahl ihrer nationalen Regierungen - etwas, das in letzter Zeit häufiger vorkommt.

Wenn die Demokratie auf nationaler Ebene zunehmend als "Politik ohne Richtlinien" begriffen wird, da immer mehr Politikbereiche auf die EU-Ebene verschoben werden, dann kann die EU bezeichnet werden als "Richtlinie ohne Politik" - da EU-Entscheidungsträger im Rat behaupten, sich auf nationale Interessen zu berufen, die Kommission auf technokratische Entscheidungsfindung. Reine Maskerade, denn die Inhalte der EU-Richtlinien, insbesondere zur Eurozone, sind höchst politisch. Obwohl in eine technokratische Sprache verpackt, sind sie doch konservativ und neoliberal. Dennoch werden sie nicht öffentlich diskutiert, weder im EP noch im Rat.

Die EU benötigt also "Richtlinien mit Politik". Die Frage ist jedoch: Wie kann eine zunehmende Politisierung mit gleichzeitiger Legitimierung einhergehen? Hier gehen die Meinungen der Experten auseinander. Einige befürchten, dass Politisierung fehlschlägt, wenn nicht zuerst eine Richtlinienänderung erfolgt. Doch wie kann man die Richtlinien ändern ohne zu politisieren?

Der beste Weg, die Politisierung - im Sinne von mehr Bürgerbeteiligung - zu fördern, führt über die Wahl des Präsidenten der Kommission. Kandidaten würden von unterschiedlichen Parteigruppierungen im Europäischen Parlament in Absprache mit ihren nationalen Parteien gewählt, um sicherzustellen, dass der Parlamentswahl zum Europaparlament 2014 umfangreiche Debatten zwischen den Kandidaten in jedem Mitgliedsland vorausgehen. Die Anführer der mehrheitlich gewählten Parteien bei diesen Wahlen würden dann die sich natürlich ergebenden Kandidaten für die Wahl zum EU-Kommissionspräsidenten. Dies wäre ein erster Schritt, um zu gewährleisten, dass die Kommission eine Art demokratische Legitimität für ihre Entscheidungsfindungen zurückerlangte. Sie könnte dadurch auch ihren Anspruch erhöhen, sich auf legitime Weise an der "Wirtschaftsregierung" zu beteiligen, wodurch sich wiederum die Möglichkeit ergäbe, Richtlinien zu empfehlen, die besser an die unterschiedlichen Wachstumsmodelle der Mitgliedsstaaten angepasst wären.

Aber auch wenn die Politisierung nicht so weit ginge, würde dies zumindest zur Anregung von Debatten, zur Selbst-Information und zur Orientierung der Öffentlichkeit beitragen, und es würden alternative Ideen in den öffentlichen Dialog eingebracht. Dies hat in den letzten zwei Jahren gefehlt, da nur die Anführer der EU-Mitgliedsstaaten eine europäische Plattform hatten, über die sie ihre Meinungen mitteilen konnten, und alle sind Deutschland gefolgt, die Sparprogramme zu unterstützen. Gegenauffassungen, ob von der Opposition in den Mitgliedsstaaten oder den Meinungsführern in nationalen Medien, hatten es schwer, gehört zu werden. Erst seit November 2011 wird auf Anregung von Mario Monti auch über das Thema Wachstum gesprochen; das Thema ist daraufhin von François Hollande aufgegriffen worden und erfährt jetzt nach seiner Wahl zum französischen Präsidenten größere Unterstützung in den europäischen Hauptstädten und auch in Brüssel.


Es ist Zeit

Was Europa am meisten benötigt, ist eine bessere Führung, die die EU zu demokratischen Diskussionen zurückführt, Technokratie reduziert und für eine umfassendere Definition von Solidarität sorgt, die sich den Problemen der Armut und Ungleichheit widmet und die dazu dient, das Vertrauen der Bürger in die EU zurückzugewinnen, während sie die Krise in der Eurozone durch Wachstum löst - nicht durch endlose Sparprogramme und eine Minderung des Wirtschaftswachstums.

Es ist Zeit, dass die Regierungsführer in Europa zu der Erkenntnis gelangen, dass nicht alles, was in einem einzelnen Land funktioniert, auch notwendigerweise in der EU als Ganzes funktioniert. Das müssen sie der Öffentlichkeit in ihren Ländern erklären, während sie mit anderen institutionalisierten Akteuren auf EU-Ebene zusammenarbeiten - einschließlich einer stärker legitimierten Kommission und einem politisch definierten Europäischen Parlament - damit sie die Krise in der Eurozone ein für alle Mal beilegen und dazu beitragen können, die Probleme der Demokratie in Europa zu lösen.


Vivien A. Schmidt ist Jean-Monnet-Professorin für europäische Integration und Direktorin des Center for International Relations an der Universität Boston. Zuletzt erschien Democracy in Europe bei Oxford University Press.

(vschmidt@bu.edu)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012, S. 32-35
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2012