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INNEN/549: Die Solidarität der EU - Teil II (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 18. März 2019
german-foreign-policy.com

Die Solidarität der EU (II)

Experten rechnen mit schweren Erschütterungen der EU in der Coronakrise. Zentrifugale Kräfte werden schon jetzt stärker.


BERLIN - Experten rechnen mit ernsten Erschütterungen der EU durch die Coronakrise und spekulieren über einen möglichen Zerfall der Union. Die schweren menschlichen Kosten der Pandemie und das Gefühl, "dass die europäischen Institutionen nicht helfen", könnten gerade in den am härtesten betroffenen Ländern wie Italien und Spanien, die zugleich in hohem Maß verschuldet seien, zentrifugale Tendenzen hervorbringen, urteilt ein US-Experte. Bereits jetzt steigen die Spannungen etwa zwischen Deutschland auf der einen und Frankreich und Italien auf der anderen Seite, nachdem Berlin im Alleingang die deutschen Außengrenzen geschlossen und damit das Schengener Abkommen ausgehebelt hat. Während der Élysée-Palast "die unilateralen Maßnahmen an den Grenzen" verärgert moniert, heißt es in der EU-freundlichen italienischen Tageszeitung La Repubblica, Berlin sei, anstatt sich "mit den Partnern" detailliert abzustimmen, in einer der schwersten Krisen der Union einer "nationalen Logik" gefolgt. Faktisch habe damit das Covid-19-Virus die letzten "Illusionen" über die EU "hinweggefegt".

Die deutsch-französische Freundschaft

Heftigen Unmut hat die Bundesregierung mit der weitgehenden Schließung der deutschen Grenzen unter anderem in Frankreich hervorgerufen. Präsident Emmanuel Macron hatte sich bereits am Donnerstag in einer Fernsehansprache kritisch gegenüber einer Abriegelung der Grenzen innerhalb der Union gezeigt und bekräftigt, diese müsse, wenn sie denn vorgenommen werden solle, "auf EU-Ebene" beschlossen werden.[1] Nur einen Tag später wurde gemeldet, die Bundesrepublik habe einseitig ihre Kontrollen an der Grenze nach Frankreich verstärkt. Gleichfalls am Freitag forderte der Ministerpräsident des Saarlandes, Tobias Hans, Pendler aus Frankreich auf, ihrer Erwerbsarbeit in Deutschland nicht mehr nachzugehen; den Vorstoß unterstützten Berichten zufolge Konzerne mit Standorten im Saarland wie Ford oder ZF.[2] Zuständige Stellen in Frankreich wurden von den Grenzkontrollen überrascht: "Ich bin von meinen eigenen Polizeibeamten darüber informiert worden", protestierte etwa Josiane Chevalier, Präfektin der betroffenen französischen Region Grand Est; der Schritt sei gänzlich "ohne Absprache" unternommen worden.[3] Die fehlende Abstimmung mit dem Nachbarland glich die Regierung des Saarlandes durch das Hissen der französischen Flagge vor saarländischen Behördengebäuden aus. Der saarländische Europaminister, Peter Strobel, ließ sich am Sonntag mit dem Ausruf zitieren: "Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!"[4]

Risikogebiet

Auch die deutsche Grenzschließung von diesem Montag, von der neben Frankreich noch die Schweiz, Österreich, Luxemburg sowie Dänemark getroffen wurden, ist in Paris mit Verärgerung aufgenommen worden. Zwar gab Innenminister Christophe Castaner an, es habe diesmal zwischen beiden Seiten eine förmliche "Absprache" über den Schritt gegeben. Dennoch verlautete aus dem Élysée-Palast - mit Bezug darauf, dass die Schließung einseitig von Berlin vorgenommen wurde -, es gebe erheblichen Unmut über "die unilateralen Maßnahmen an den Grenzen".[5] Ausnahmen gelten dabei für Pendler, die - wie Ärzte oder Pflegepersonal - in Deutschland als "systemrelevant" eingestuft und deshalb weiterhin als Arbeitskräfte benötigt werden.[6] Der Unmut in Paris wird dadurch verstärkt, dass das Robert-Koch-Institut in Berlin kurzerhand die gesamte Region Grand Est als ein "Risikogebiet" eingestuft und damit die weitreichende Grenzschließung begründet hat. Tatsächlich sind mehr als 60 Prozent der Covid-19-Fälle in der Region im Département Haut-Rhin festgestellt worden; alle neun anderen Départements in Grand Est sind deutlich weniger stark betroffen. Das Robert-Koch-Institut steht auch anderweitig in der Kritik; unter anderem publiziert es seit Tagen veraltete, deutlich zu niedrige und damit geschönte Angaben über Infektions- und Todesfälle in Sachen Covid-19 in der Bundesrepublik.

Rückendeckung durch die EU

Rückendeckung erhält Berlin in Sachen Grenzschließung durch die EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen. Die Kommission spricht sich zwar pflichtgemäß prinzipiell gegen Grenzschließungen aus, da diese dem Schengener Abkommen zuwiderlaufen. Doch wird etwa von der Leyens Sprecher Eric Mamer mit der Aussage zitiert, Brüssel müsse in der Praxis wählen, ob es die Grenzschließungen anprangere oder doch lieber für die Verbesserung der Lage kämpfe - und vor diese Wahl gestellt, entscheide sich die Kommissionspräsidentin für die zweite Option.[7] Entsprechend heißt es in Leitlinien, die jetzt in Brüssel abgefasst wurden, in einer "außerordentlich kritischen Lage" seien Grenzkontrollen zulässig. Laut Auffassung von Beobachtern deckt die Formulierung der Leitlinien die deutschen Grenzschließungen ab, weil sie die Einreise aus besonderen Risikogebieten verhindern. Ob sich hingegen auch Tschechien und Dänemark bei ihren Grenzschließungen auf die aktuellen Leitlinien der EU-Kommission berufen könnten - beide haben gleichfalls ihre Grenzen geschlossen -, sei "zweifelhaft"; außerdem gelte: "Polen, Ungarn und Litauen können das nicht".[8]

Nur noch Rhetorik

Steigender Unmut ist nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus Italien zu vernehmen. Es sei "kein unbedeutendes Ereignis", dass in Berlin, in "der Hauptstadt der hegemonialen Nation in Europa", dem "Angelpunkt der ökonomischen und institutionellen Architektur, auf die die Union sich stützt", entschieden worden sei, mit der Grenzschließung das Schengener Abkommen zu sprengen, hieß es zu Wochenbeginn in der linksliberalen Tageszeitung La Repubblica, die - im Gegensatz etwa zur italienischen Rechten und zum Milieu der Cinque Stelle, die auch in der Coronakrise jeweils deutlich EU-kritische Positionen vertreten - als prinzipiell in hohem Maß EU-freundlich gilt. Berlin habe den Bruch mit Schengen im Alleingang beschlossen, in Verfolgung "einer nationalen Logik", anstatt den Schritt - so hatte es in der vergangenen Woche auch Macron gefordert - "mit den Partnern" zu diskutieren. Damit habe "das Virus in wenigen Wochen die Illusionen hinweggefegt", für die Schengen - als Symbol der Freizügigkeit - stehe, hieß es in La Repubblica. Ähnliches habe man schon beobachten können, als Griechenland "um den Preis eines untragbaren sozialen Leidens saniert" worden sei - als man "begriffen" habe, "dass in der Union eine starre Hierarchie existiert". All dies geschehe, während in Italien Hilfslieferungen aus dem "klugen China" einträfen, nicht aber von den "misstrauischen europäischen Freunden": "Das Virus hat die Heucheleien zertrümmert, es bleibt nur die Rhetorik."[9]

Mächtige Zentrifugalkraft

Zu den politischen Spannungen um die deutschen Grenzschließungen kommen die ökonomischen hinzu, die die Union spätestens seit der großen Krise der Jahre 2007 und 2008 begleiten und die nach wie vor ungelöst sind. Daran hat jetzt ein Experte des American Enterprise Institute aus Washington erinnert. Die drei Länder, die - außer Deutschland - am stärksten von der Pandemie betroffen seien, seien Italien, Spanien und Frankreich, also diejenigen, die über die geringsten finanziellen Spielräume verfügten, konstatiert der US-Spezialist: Italiens Verschuldung liege zur Zeit bei 134 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, diejenige Spaniens und Frankreichs nahe bei 100 Prozent. Die menschlichen Kosten der Pandemie, die Ängste, die daraus entstünden, sowie das Gefühl - sei es berechtigt oder nicht -, "dass die europäischen Institutionen nicht helfen", könnten sich durchaus "zu einer mächtigen Zentrifugalkraft aufsummieren".[10] "Die Anführer der EU" stünden vor der Wahl, "entweder mutig der Peripherie zu helfen, oder die Peripherie wird sich so helfen, wie sie kann - auch wenn das bedeutet, dass sich die Eurozone und die EU auflösen".

Hilfe aus Beijing

Wie gestern bekannt wurde, hat inzwischen mit Spanien ein zweites großes EU-Land China um Hilfe im Kampf gegen den Covid-19-Virus gebeten. Demnach erfolgte die Bitte schon vergangene Woche, nachdem Deutschland ein Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung verhängt hatte. War bereits am Donnerstag ein chinesisches Expertenteam mit 31 Tonnen Hilfsgütern in Rom eingetroffen, so bereitet Beijing mittlerweile laut Berichten eine Lieferung von Testkits, Atemschutzmasken und weiterer Schutzausrüstung vor. Außerdem ist die Entsendung chinesischer Ärzte nach Spanien im Gespräch; die Volksrepublik, heißt es, ziehe sie "positiv in Betracht".[11]


Mehr zum Thema:
Die Solidarität der EU
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8218/


Anmerkungen:

[1] Arthur Berdah, Loris Boichot: Coronavirus : ce qu'il faut retenir de l'allocution d'Emmanuel Macron. lefigaro.fr 12.03.2020.

[2] Michael Kipp: Warum Deutschland die Grenze zu Frankreich und Luxemburg schließt. saarbruecker-zeitung.de 15.03.2020.

[3] "Das Virus kennt keine Grenzen". Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.03.2020.

[4] Michael Kipp: Warum Deutschland die Grenze zu Frankreich und Luxemburg schließt. saarbruecker-zeitung.de 15.03.2020.

[5] An der Grenze. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.03.2020.

[6] Michael Kipp: Warum Deutschland die Grenze zu Frankreich und Luxemburg schließt. saarbruecker-zeitung.de 15.03.2020.

[7], [8] Thomas Gutschker: Vollendete Tatsachen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.03.2020.

[9] Stefano Folli: Coronavirus, c'era una volta l'Europa. rep.repubblica.it 15.03.2020.

[10] Dalibor Rohac: Coronavirus could break the EU. politico.eu 16.03.2020.

[11] The Latest. apnews.com 17.03.2020.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2020

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