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WIRTSCHAFT/107: Etikettenschwindel Euro-Krise (Blätter)


Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2011

Etikettenschwindel Euro-Krise

Von Michael R. Krätke


Die Lage ist ernst - und unübersichtlich. EU-Ratspräsident Herman van Rompuy spricht von einer 'Überlebenskrise' der Europäischen Währungsunion. Laut Angela Merkel geht es um Sein oder Nichtsein der Europäischen Union: 'Scheitert der Euro, scheitert Europa'.

Alles redet also von der Euro-Krise. Dabei handelt es sich jedoch um einen Etikettenschwindel erster Güte. Denn der Euro ist weit stärker und härter als es die D-Mark je war. Anders als die DM ist der Euro nämlich eine Weltreservewährung, ohne nennenswerte Inflation, ohne wilde Auf- und Abwertungen. Auch wenn viele Ökonomen das gerne anders sähen: Der Euro ist durchaus eine Erfolgsgeschichte, und er hat - vor allen anderen - Deutschland enorm genutzt. Ohne den Euro wären sämtliche Stärken der deutschen Exportindustrie, allen Staatshilfen zum Trotz, alsbald im Rauch von DM-Aufwertungen aufgegangen. Dank des Euro ist die wirtschaftliche Integration in der EU heute stärker als je zuvor.

Seit Anfang 2010 hat sich die Finanzkrise zur (Staats-)Schuldenkrise gewandelt. Niemand sollte sich von der gängigen Rhetorik täuschen lassen: Die Defizite und öffentlichen Schulden im Euroraum sind nämlich erst infolge der diversen Bankenrettungsaktionen und Konjunkturprogramme dramatisch gestiegen. Bis zum Ausbruch der Weltfinanzkrise hatten Länder wie Portugal, Irland, Griechenland und Spanien (PIGS), die heutigen Sorgenkinder, keine Finanzprobleme, im Gegenteil: Spanien und Irland verzeichneten gar Budgetüberschüsse. Erst in der Krise erfolgte die Kehrtwende: Der ganz große Krach wurde in Europa (wie in den USA) nur durch eine extreme Ausweitung des öffentlichen Kredits verhindert. Kaum waren die Banken und Finanzkonzerne gerettet, drohten Staatspleiten - kurioserweise vorläufig nicht in den USA oder in Japan, sondern in den vergleichsweise viel geringer verschuldeten Ländern der Eurozone.

Seit Anfang 2010 ist auch der unerklärte 'Währungskrieg' im Gang. Hinter dem Wert einer Währung steht seit dem Ende des Bretton-Woods-Regimes fester Wechselkurse nur noch der Staatskredit - folglich wird jede Krise der Staatsfinanzen automatisch zur Währungskrise. Was als 'Euro-Krise' firmiert - die Kombination von Spekulationen gegen die Anleihen der PIGS-Länder, Devisenspekulationen gegen den Euro und Rettungsaktionen der EU bzw. der Euroländer - stützt den US-Dollar in seinem Abstiegskampf, erleichtert die beispiellose Dollarschwemme, mit der die US-Regierung die Krise im eigenen Land bekämpft, befeuert den Währungskrieg zwischen den USA und dem Rest der Welt.

In dieser dritten Phase der großen Krise geht es schlicht und ergreifend um die künftige Position der EU in der kapitalistischen Weltwirtschaft, um ihre Rolle als Weltwirtschaftsmacht. Es geht nicht um Moral, es geht ums Geschäft. In Europa, dem am stärksten integrierten Wirtschaftsraum der Welt, nimmt Deutschland, ein kleines Land mit extrem hoher und enger außenwirtschaftlicher Verflechtung, eine besondere Position ein. Nur Ideologen und DM-Nostalgiker glauben, Deutschland könne sich von Europa abkoppeln.

Zwei Mal schon wurde das Ende der Euro-Krise verkündet: Zum ersten Mal im Mai 2010, als der 750 Mrd. Euro große Rettungsschirm für Pleitekandidaten in Euroland aufgespannt wurde. Zum zweiten Mal dann Mitte Dezember, als die Umwandlung des provisorischen Rettungsschirms in einen dauerhaften Krisenmechanismus beschlossen wurde. Beide Male kam die Entwarnung zu früh, die Finanzmärkte waren trotz Hilfskrediten und Schuldengarantien der gesamten EU nicht zufrieden.


Die Grenzen der Refinanzierung

Nach Irland kam Portugal an die Reihe, nach dem gleichen Muster des Krisenmanagements. Wie die irische wurde unter Führung von Merkel und Sarkozy die portugiesische Regierung unter Druck gesetzt: Sie sollte unter den Rettungsschirm. Irland gab dem Druck nach einigen Wochen nach, die portugiesische Regierung wehrt sich noch. Obwohl sie eine beinharte Sparpolitik verfolgt, will sie - das griechische und irische Beispiel vor Augen - sich deren Details doch lieber nicht von Merkel und Co. vorschreiben lassen. Der Zweck der Übung ist klar: 2011 stehen in den EU-Staaten enorme Beträge an Staatsschulden zur Refinanzierung an, insgesamt 920 bis 945 Mrd. Euro. Allein die Bundesrepublik muss 211 Mrd. refinanzieren, Frankreich 196, Italien 233, die Niederlande 50, Spanien 91, Griechenland 47, Belgien 39 und Irland 23 Mrd. Euro. Da gilt es, die Herren der Finanzmärkte bei Laune zu halten.

Der hektische Aktionismus der Regierenden zeigt, wie sehr sie von den Stimmungen bzw. Meinungen der Finanzmärkte getrieben, von der Angst vor dem Urteil der Ratingagenturen, Hedgefonds, Investmentfonds, Banken und Großspekulanten beherrscht werden. Das 'Vertrauen' der Anleger, das Wohlwollen der Spekulanten ist ihnen weit wichtiger als das Vertrauen der eigenen Staatsbürger. Deren Widerstand wird notfalls niedergeknüppelt - im Namen des ehernen Sachzwangs, der da heißt: Defizitreduzierung, Schuldenabbau um (fast) jeden Preis. Tatsächlich sind die Länder der Eurozone, obwohl weit weniger verschuldet als die USA, Japan oder Großbritannien, dank der Fehlkonstruktion der Währungsunion dennoch eine viel leichtere Beute für die Herren der Finanzmärkte. Und ein Umbau des Schiffs in schwerer See, noch dazu mit einer konfusen und abergläubischen Mannschaft, ist nicht leicht.

Weil die Herren der Finanzmärkte jedes Mal bekamen, was sie wollten, nämlich Spardiktate und Schuldengarantien, wurde fröhlich weiter spekuliert, ein angeblicher Pleitestaat nach dem anderen ins Visier genommen; Zinsen und Risikoaufschläge, Kreditausfallversicherungen stiegen rasant. Ein lukratives Geschäft: Bei jeder Refinanzierungsaktion der PIGS-Länder, wie im September und Oktober 2010 und wieder Anfang Januar 2011, rissen sich die Anleger um die Papiere, jede der Anleihen wurde mehrfach überzeichnet. Portugal konnte am 12. Januar d.J. 1,25 Mrd. Euro problemlos unterbringen, teilweise sogar zu niedrigeren Zinsen als im September. Die Anleihe wurde um das 2,6fache überzeichnet, Stützungskäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) halfen, die Zinsen unter das gefürchtete Niveau von sieben Prozent zu drücken. Tags darauf brachte die spanische Regierung eine fünfjährige Anleihe von fast drei Mrd. Euro sicher unter, sie wurde um mehr als das Doppelte überzeichnet. Spanien muss um fast einen Prozentpunkt höhere Zinsen zahlen als bei der letzten Anleihe im November, kam aber günstiger weg als erwartet. China und Brasilien stehen als potente Investoren bereit, das hat beiden iberischen Wackelkandidaten geholfen. Griechenland und Belgien brachten erfolgreich kleinere Anleihen unter, französische und deutsche Staatsanleihen waren in der gleichen Woche ein Renner. Selbst das hoch verschuldete Italien konnte eine vier- und eine fünfzehnjährige Anleihe von jeweils drei Mrd. Euro leicht an den Mann bringen, wenn auch zu deutlich höheren Zinsen - das Geschäft mit der Euro-Krise blüht.

Jedermann weiß, dass sich dies Spiel nicht endlos fortsetzen lässt. Die Grenzen der Refinanzierung zu steigenden Zinsen sind in Sicht. Mit oder ohne Rettungsschirm, die PIGS-Länder sparen auf Teufel komm raus und treiben damit ihre Volkswirtschaften immer tiefer in die Rezession. Wenn ein Land mehr als 30 Prozent seiner laufenden Steuereinnahmen für den Staatsschuldendienst (Zinsen und Tilgung) ausgeben muss, wird es gefährlich; jenseits dieser Schwelle kommt es aus der Schuldenfalle bei steigenden Zinsen nicht mehr heraus. Im Fall Griechenlands beträgt diese Quote bereits mehr als 53 Prozent, die Iren kostet der Schuldendienst fast 37 Prozent ihrer laufenden Steuereinnahmen. Spanien steht mit einer Quote von knapp 25 Prozent besser da, und die Portugiesen können mit Recht darauf verweisen, dass sie der Schuldendienst nur 15,9 Prozent der laufenden Steuereinnahmen kostet. Italien und Frankreich sind diesbezüglich in einer weit prekäreren Lage.


Die Notwendigkeit der Eurobonds

Den Rettungsschirm zu erweitern und über 2013 hinaus fortzuführen, wird nicht reichen. Es bleibt nur die Umschuldung, also der bewusst herbeigeführte 'Staatsbankrott' einzelner Länder, der zu Lasten der Gläubiger geht. Das heißt zu Lasten der überwiegend deutschen, britischen, französischen, belgischen, spanischen Banken, die sich bislang bei ihren Zentralbanken und der EZB zu Niedrigstzinsen die Gelder holen, die sie den Euroländern, PIGS oder nicht, zu immer höheren Zinsen weiter verleihen. Wer aber, wie Merkel und Co., Umschuldungen zu Lasten der privaten Staatsgläubiger und damit neue Bankenkrisen um jeden Preis vermeiden will, muss sich auf die Alternative einlassen: Die heißt Eurobonds. Die EU-Kommission hat Anfang Januar ihre erste Anleihe - zwecks Finanzierung der Irland-Hilfe - erfolgreich platziert, innerhalb von 45 Minuten wurden statt 5 Mrd. 20,8 Mrd. Euro geboten, ein Rekord. Ende Januar folgt der Rettungsfonds der Eurozone (EFSF) mit einer eigenen Anleihe. Der Fonds wird keine Schwierigkeiten haben, weit mehr als die anvisierten 16,5 Mrd. Euro einzusammeln, zumal die japanische und die chinesische Zentralbank ihr Interesse bekundet haben. Beides spricht für die Eurobonds, für eine einheitliche Anleihe des Eurolands, wie sie zu einem einheitlichen Währungsraum passt.

Gegen die Eurobonds sperrt sich vor allen anderen die schwarz-gelbe Bundesregierung, getrieben von der Angst vor der Wählerstimmung, gefangen im ehernen Gehäuse neoliberaler Dogmen und nationaler Borniertheit. Dabei haben Eurobonds unbestreitbare Vorteile: Ein weit größeres Anleihevolumen im Vergleich zu den bisherigen Einzelanleihen der hoch verschuldeten Euroländer, die sie ersetzen sollen, macht sie für die Finanzmärkte attraktiver. Die geballte Wirtschaftskraft der Eurozone, die dahintersteht, sorgt für erheblich niedrigere Zinsen und für ein Ende der Zinsspirale. Zugleich wird die Spekulation gegen einzelne Euroländer erschwert, je nachdem, wieweit die Eurobonds Anleihen hoch verschuldeter Länder ersetzen. Auch wenn nur ein Teil der Schulden der PIGS-Länder mittels Eurobonds refinanziert würde, die Last des Schuldendienstes im Euroraum würde erheblich verringert. Die Eurobonds sind keine Transferzahlungen, die Bundesrepublik, bislang der beste Schuldner Europas, würde den europäischen Partnern nur ein Stück ihrer Bonität leihen. Sie bräuchte ihre Staatsschulden keineswegs über Eurobonds zu refinanzieren. Wenn der irrwitzige Sparzwang unter dem Diktat der Finanzmärkte gemildert wird, gewinnen Länder wie Griechenland, Irland und Portugal Zeit und Geld für einen vernünftigen Schuldenabbau samt Steuerreform. Man kann am Beispiel der eskalierenden Finanzkrise in den USA sehr genau studieren, was passiert, wenn man den umgekehrten Weg geht, also die Gesamthaftung einer großen Wirtschaftsgemeinschaft für alle ihre Mitglieder aufgibt. Etliche US-Bundesstaaten sind de facto pleite oder kämpfen mit Defiziten von deutlich über 25 Prozent (New Jersey, Maine, North Carolina, Arizona, Nevada usw.). Unter dem Druck der Republikaner werden die Bürgschaften und Subventionen des Bundes für Anleihen der Einzelstaaten und der Kommunen gestoppt, daraufhin bricht der Markt für diese Anleihen ein, eine Welle von Staats- und Stadtpleiten steht bevor.


Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik muss her

Der größte Vorteil der Eurobonds besteht darin, dass sie die Beteiligten zur Reform der Währungsunion zwingen. Denn Euroland ist eine Fehlkonstruktion. Nicht weil es die idealen Bedingungen eines 'optimalen Währungsraums' nicht erfüllt, sondern weil eine gemeinsame Währungspolitik nicht ohne viel weiter gehende Gemeinschaftsaktionen, nicht ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik zu haben ist. Die geltenden Spielregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts behindern eine sinnvolle Kooperation in Not- und Krisenzeiten, die geltende Verfassung hindert die EZB daran, als Zentralbank des Eurolandes zu agieren, also auch Staatsanleihen der Euroländer (bzw. Eurobonds) zu kaufen und zu halten bzw. den Euroländern Kredite zu geben. Jede vernünftig organisierte Zentralbank kann das. Die bisherigen Regeln, festgeschrieben im Lissabonvertrag, haben die Konkurrenz unter den Euroländern um die Gunst der Finanzmärkte ebenso angeheizt wie den schädlichen und törichten Steuerwettbewerb, um das mobile Kapital und die Vermögensbesitzer anzulocken. Griechenland hatte die niedrigste Steuerquote in Euroland und wurde dafür hoch gelobt. Die Griechen zahlen jetzt die Zeche für ihre durch und durch verfehlte Steuersenkungspolitik.

Maastricht und Lissabon, der gesamte Stabilitäts- und Wachstumspakt - die dümmsten und dogmatischsten Wirtschaftsverträge aller Zeiten - sind gründlich gescheitert. In der Euro-Krise werden die Konstruktionsfehler der Währungsunion deutlich sichtbar. Eine Reform an Haupt und Gliedern tut not, um die Gemeinschaftswährung zu erhalten. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik muss her, um die extremen Ungleichheiten in den Leistungsbilanzen zu reduzieren, wie sie in den letzten Jahren zwischen den EU-Ländern gewachsen sind. Wenn die Geburtsfehler der Währungsunion korrigiert werden sollen, muss in der Tat eine gemeinsame 'Wirtschaftsregierung' stattfinden, wie sie nun in Berlin, Paris und Brüssel beschworen wird. Die spannende Frage ist, welche Art von gemeinsamer Wirtschafts- und Finanzpolitik Euroland (und die EU) betreiben soll.

Wenn es nach Merkel, Schäuble, Barroso und ihren Glaubensbrüdern geht, wird die neue gemeinsame Wirtschaftspolitik die alte sein, nur in verschärfter Form. Da sich diese Politikergeneration das Scheitern der neoliberalen Rezeptur nicht eingestehen kann und will, da sie Art und Ausmaß der größten Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch nicht begriffen hat, heißt die Parole schlicht: Weiter so, nur schneller, härter und rücksichtsloser. Seit Beginn der Euro-Krise hat Merkel für diesen Kurs getrommelt - der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist prima, nur wurde er leider nicht konsequent befolgt. Also müssen dessen Geburtsfehler, die absurde und durch nichts begründete Fixierung auf aus der Luft (bzw. nach Gusto aus der damaligen Statistik) gegriffene Werte von Defizit- und Schuldenquote, fortgeschrieben werden. Also braucht es nur mehr und härtere Sanktionen für Defizitsünder, am liebsten eine 'Schuldenbremse' für alle, nach deutschem Vorbild. Wir brauchen, ganz nach der Logik des Lissabonvertrags, mehr Konkurrenz statt Kooperation in der EU, also gehorchen wir unverdrossen dem Dogma der 'Wettbewerbsfähigkeit', das heißt dem Kanon neoliberaler Wirtschaftspolitik. Mehr Integration heißt verschärfte Austerität, mehr und schneller 'sparen' als je zuvor. Das Symptom, die Schuldenkrise, wird zur Ursache erklärt, die strukturellen Ungleichgewichte innerhalb des hoch integrierten europäischen Wirtschaftsraums bleiben außer Betracht.

Das nützt, vordergründig, im Moment den Stärkeren und Stärksten, also der deutschen Exportwirtschaft. Auf die Dauer aber schadet eine Fortsetzung des bisherigen Sparkurses mit verschärften Mitteln auch der deutschen Wirtschaft. Was Merkel und Co. propagieren, ist nicht einmal nationalökonomisch sinnvoll. EZB-Präsident Trichet hat in Wildbad Kreuth mit einem 'Quantensprung in der Gestaltung und Implementierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts' gedroht. Wenn diese Drohung im Merkelschen Sinne wahr gemacht wird, dann gute Nacht, Europa.


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Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2011, S. 5 - 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2011