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WIRTSCHAFT/128: Konfliktfeld soziales Europa (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Konfliktfeld Soziales Europa
Vier Herausforderungen und Chancen zur Gestaltung des Europäischen Sozialmodells

Von Björn Hacker
September 2014


Inhalt

1. In aller Munde: »Das Soziale Europa«

2. Die vier Konfliktfelder des Sozialen Europas
2.1 Der Urkonflikt: Nationale Souveränität versus europäische Politikgestaltung
2.2 Der Dauerkonflikt: Negative Integration versus positive Integration
2.3 Der ideologische Konflikt: Angebotsseitige versus nachfrageorientierte Politik
2.4 Der neue Konflikt: Ungerechte versus gerechte Verteilung von Reichtum und Armut.

3. Voraussetzungen und Chancen für das Soziale Europa
3.1 Liberale Reformkonvergenz macht es einem sozialpolitischen EU-Rahmen leichter
3.2 Soziale Ungleichgewichte gefährden die ökonomische Integration
3.3 Nur mit Blick auf die Nachfrage kann die Krise der Eurozone überwunden werden
3.4 Die Ungerechtigkeitsdebatte zwingt zu einer politischen Reaktion.

Literatur



• Die Forderung nach einer sozialen Dimension der Europäischen Union erlebt derzeit eine Renaissance weit über das Lager ihrer üblichen Fürsprecher hinaus. Die Austeritätspolitik hat einen Backlash produziert, da sie die wirtschaftliche und soziale Lage der Krisenstaaten verschlechtert hat.

• Vier Konfliktfelder des sozialen Europas lassen sich identifizieren: Es stehen nationale Souveränitätsansprüche gegen europäische Politikansätze, ein Integrationsmodus der Marktschaffung gegen die Marktgestaltung, eine angebotsseitige gegen eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und eine ungerechte gegen eine gerechte Verteilung von Reichtum und Armut.

• In der Krise der Eurozone zeigt sich, wie untrennbar Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken miteinander verwoben sind. Der Tribut, den die gescheiterte Austeritätspolitik nun in allseitigen Rufen nach einem sozialen Europa zollen muss, sollte politisch genutzt werden.

• Der Umbau der Wohlfahrtsstaaten überall in Europa hat als Nebenprodukt die Basis für einen gemeinsamen sozialpolitischen Rahmen geschaffen. Die Krise zeigt die Notwendigkeit einer Einhegung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichgewichte über eine nachfrageseitige Wirtschaftspolitik, um die Spaltung der EU zu verhindern. Überdies zwingt die aktuelle Debatte über die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zu einer politischen Reaktion.

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1. In aller Munde: »Das Soziale Europa«

Als die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland und Spanien sich 2013 kontinuierlich auf die 60-Prozent-Marke zubewegte, sahen sich selbst hartgesottene Krisenmanager wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel genötigt, vor dem Entstehen einer verlorenen Generation zu warnen (vgl. sueddeutsche.de 2013). Nachdem jahrelang die Stärkung der wirtschaftspolitischen Instrumente zur Einhaltung europäischer Budgetziele im Vordergrund stand, erlebt die Debatte um das Soziale Europa jüngst eine Renaissance. Diese kommt nicht von ungefähr und ihre Protagonisten reichen über das Lager der üblichen Fürsprecher aus europabewegter Wissenschaft, Gewerkschaften und linken Parteien hinaus.

Die Austeritätspolitik hat einen Backlash produziert. Sparauflagen, neue Maßnahmen haushälterischer Kontrolle und Eingriffe in die Politiken der Euro-Mitgliedstaaten haben ökonomisch zwar nur eine begrenzte Wirkung entfaltet, da sie Wirtschaftskreisläufe unterbrochen und die Last hoher Schuldenquoten so noch weiter gesteigert haben. Doch in den Bereichen »Beschäftigung« und »soziale Sicherung« haben sie für Umwälzungen gesorgt, die so tiefgreifend und umfassend sind, dass die soziale Frage erneut auf der europäischen Politikagenda auftaucht. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist dabei nur ein Ergebnis, das sich an der Spitze eines Eisbergs aus zahlreichen verfehlten sozialpolitischen Zielen und Absichten der EU (vgl. Leschke/Theodoropoulou/Watt 2014), stagnierender Einkommensungleichheit (vgl. Dauderstädt/Keltek 2014) und zunehmender sozioökonomischer Divergenz (vgl. Dauderstädt 2014) zeigt.

Kritische Stimmen wiesen zeitig auf die Gefahren eines einseitig budgetpolitisch verengten Krisenmanagements hin und warnten vor einer irreparablen Schädigung des Europäischen Sozialmodells (vgl. Busch et 2012). Nun warnt auch die italienische Ratspräsidentschaft vor einem Kollabieren der sozialen Kohäsion, sollte es nicht zu einer neuen Balance finanzpolitischer Ziele auf der einen und wachstums- und sozialpolitischer Ziele auf der anderen Seite kommen (Italian Presidency 2014: 43). Und der neue Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, versichert in seinen politischen Leitlinien, er werde »die soziale Dimension Europas nie aus den Augen verlieren« und auf »soziale Fairness« bei der Umsetzung von Strukturreformen achten - und er schlägt hierfür das Instrument einer sozialen Folgenabschätzung vor (Juncker 2014: 8).

Angeregt durch das neue Interesse an einem sozialen Europa sollen hier zunächst die zentralen Konfliktfelder aufgezeigt werden, in denen sich Politiken und Maßnahmen für ein markt- und wettbewerbsgetriebenes Europa und die Verwirklichung einer europäischen Sozialdimension gegenüberstehen. Diese Konfliktfelder sind (1) der Hauptort der Politikgestaltung, (2) der Integrationsmodus, (3) die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und (4) das zugrunde liegende Gesellschaftsbild. In einer abschließenden Betrachtung werden für jedes der Konfliktfelder die Voraussetzungen und Chancen auf Veränderungen auf dem Weg zu einem Europäischen Sozialmodell diskutiert.


2. Die vier Konfliktfelder des Sozialen Europas

2.1 Der Urkonflikt: Nationale Souveränität versus europäische Politikgestaltung

Die heutige Europäische Union ist nicht am Reißbrett entstanden, sie ist kein Bundesstaat mit einheitlicher Struktur und die Ausprägungen der Wirtschafts- und Wohlfahrtsarchitektur unterscheiden sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat mitunter erheblich. Zwar können die Industrialisierung und die Erkämpfung sozialer Rechte im Zuge von Arbeiterbewegung und christlich-sozialen Traditionen als gemeinsames historisches Erbe der Europäer gelten. Doch trotz eines Dachs geteilter Werte und Organisationsprinzipien, die sich vor allem aus dem Blickwinkel anderer Kontinente als spezifisch europäischer Weg darstellen, sind die einzelnen Staaten der EU durch ein uneinheitliches Politikerbe gekennzeichnet. Der handlungsfähige, das freie Marktgeschehen regulierende und zur Gewährleistung sozialer Sicherheit und Daseinsvorsorge intervenierende und umverteilende Staat lässt sich auf dem ganzen Kontinent finden, aber das Staat-Markt-Verhältnis wurde und wird unterschiedlich definiert.

Die so entstandenen Welten des Wohlfahrtskapitalismus nehmen nicht in gleichem Maße Rücksicht auf die soziale Absicherung des Individuums. So ist unterschiedlich geregelt, wie abhängig man im Falle eintretender Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter von seinem Marktwert und seiner Marktverwendung ist bzw. wie stark einen soziale Sicherungssysteme hiervon unabhängig machen. Die durch das Marktgeschehen bedingten Statusunterschiede werden im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat (Beispiel: Schweden) durch finanzielle Umverteilung in hohem Maße eingeebnet, während sie im konservativen Wohlfahrtsstaat (Beispiel: Deutschland) auch durch die enge Bindung guter sozialer Absicherung an die Erwerbstätigkeit erhalten bleiben. Im liberalen Wohlfahrtsstaat (Beispiel: Großbritannien) ist der Markt der Hauptort der sozialen Sicherung, um die sich die Bürgerinnen und Bürger in hohem Maße selbst bemühen müssen; im rudimentären Wohlfahrtsstaat (Beispiel: Griechenland) ist die Familie Hauptort der Solidarität. Im Club der Reichen geben die westlichen Mitgliedstaaten relativ zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt zwischen 25 und 32 Prozent für Sozialschutzleistungen aus, viele mittel- und osteuropäische Staaten hingegen nur zwischen 15 und 20 Prozent.

Klar, dass solche nationalen Ausprägungen wohlfahrtsstaatlicher Organisation und ihre oft bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts gewachsene Institutionalisierung als konstituierende Elemente der jeweiligen Gesellschaften angesehen und als schützenswertes öffentliches Gut erachtet werden. Dies macht die Gestaltung von Elementen einer gemeinsamen europäischen sozialen Dimension kompliziert. Mehr noch: Durch die weitgehende ökonomische Verflechtung der Staaten im Zuge von Binnenmarkt und Währungsunion ist die Bereitschaft zur Aufgabe nationaler Souveränität in den Bereichen der Sozial-, Beschäftigungs- und Steuerpolitik in dem Maße gesunken, wie die Wirtschafts- und Währungsunion an budgetären und makroökonomischen Kontroll- und Eingriffsrechten gewonnen hat.

Pochen auf die eigene Souveränität in Kernbereichen nationaler Politikgestaltung, weit verzweigte Wohlfahrtswelten und miteinander scheinbar inkompatibler unterschiedlicher Umgang mit dem Kapitalismus als wirtschaftlichem Organisationsprinzip haben in der EU schon seit Mitte der 1990er Jahre zum Umdenken geführt. Während Jacques Delors als Präsident der Europäischen Kommission mit dem Europäischen Sozialmodell noch einen regulierenden Rahmen für die Marktintegration verband, ist die Folgeentwicklung weniger im gesetzlichen als im kognitiven Bereich zu verorten. Voneinander lernen, Reformerfahrungen austauschen, Politik offen - d.h. freiwillig - koordinieren: Diesen Prämissen folgte die Europäische Beschäftigungsstrategie ebenso wie die Lissabon-Agenda und heute Europa 2020 und das Europäische Semester. Die Idee ist zur Überwindung der beschriebenen Probleme bestechend - allein die Ergebnisse der mannigfaltigen Koordinierungsstrategien, -instrumente und -ziele bleiben mit Blick auf den Versuch der gemeinsamen Gestaltung von Sozialpolitik bescheiden (vgl. Hacker 2010).


2.2 Der Dauerkonflikt: Negative Integration versus positive Integration

Den sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ging es 1951 einerseits um die Etablierung einer europäischen Friedensordnung durch Vergemeinschaftung der kriegswichtigen Industrien, andererseits um die Nutzung der sich hieraus ergebenden wirtschaftlichen Vorteile eines größeren Marktes. Über die Zollunion 1968, den Gemeinsamen Markt 1993 und die Währungsunion 1999 ist die wirtschaftliche Integration des Kontinents stetig vorangeschritten. Zwar sollte dieser Prozess der Wohlstandsmehrung dienen - und volkswirtschaftliche Konvergenz und soziale Kohäsion finden sich als Zielbeschreibungen in zentralen Vertragswerken -, doch ein groß angelegtes Projekt zur Schaffung des sozialen Europas sucht man vergeblich. Für die Regierungen der Mitgliedstaaten war es immer einfacher und in ihren jeweiligen nationalen Politikarenen besser zu begründen, zum Zwecke der Marktschaffung Handelshemmnisse wie Grenzen, Zölle, Subventionen, Preisunterschiede u.a. abzubauen. Dagegen war der Aufbau neuer gemeinsamer Politiken und Strukturen durch Institutionen, gesetzliche Regelwerke und Prozesse mit dem Ziel der Marktkorrektur und -gestaltung aufwändiger und zwischen den Partnern strittiger.

Trotz der Dominanz des Prozesses der negativen, marktschaffenden Integration, ist auch im Bereich der positiven, marktgestaltenden Integration ein Prozess in Gang gekommen. Im gewachsenen sozialpolitischen Acquis der EU führte jedoch initial oft das ökonomische Argument der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen zum Abschluss transnationaler Regulierungen. So etwa im Bereich »Gleichstellung« oder beim Schutz von Wanderarbeitern in einer frühen Phase der Marktintegration. Die bislang bedeutendste Etablierung europäischer Sozialpolitiken erfuhr die Gemeinschaft nach dem Binnenmarktprogramm: Mit dem Vertrag von Maastricht wurde das Einstimmigkeitsprinzip bei Ratsentscheidungen in einigen Bereichen der Sozialpolitik aufgegeben, die Sozialpartner erhielten einen Machtzuwachs und wurden ermächtigt, eigenständig Richtlinien vorzubereiten. Es folgten die Einrichtung europäischer Betriebsräte und die Einführung von Richtlinien zur Arbeitszeitgestaltung und Arbeitnehmerentsendung, später die Aufstellung der Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik als eigenständige europäische Politikbereiche. Im Vertrag von Amsterdam war die Weiterentwicklung des sozialen Europas dann nur noch graduell und durch die Europäische Beschäftigungsstrategie erstmals voluntaristisch geprägt; in Nizza und Lissabon waren die arbeits- und sozialpolitischen Fortschritte der Gemeinschaft nur noch durch einen »konstitutionellen Minimalismus« (vgl. Platzer 2009) charakterisiert.

Das Gros der sozialpolitischen Regulierungen kann als implizite Folge des Binnenmarktes eingestuft werden: Der Wunsch, Personen, Güter, Kapital und Dienstleistungen frei zwischen den Binnengrenzen zu bewegen, zog - teilweise von den Mitgliedstaaten nicht intendierte - Abstimmungserfordernisse in bis dahin rein national geregelte Bereiche der Arbeitsbeziehungen und Absicherung nach sich. Gleichwohl ist die Dominanz der Marktschaffung ungebrochen. Sie wurde durch die Währungsunion noch verstärkt, da diese die freie Politikgestaltung der Mitgliedstaaten durch den Verlust der eigenständigen Geldpolitik, die Vorgaben des Stabilitätspaktes und eine neue Qualität im Wettbewerb um Investitionen durch niedrige Löhne, Steuern und Sozialausgaben erheblich beschränkte. Der Voluntarismus wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischer Absprachen im Makroökonomischen Dialog seit 1999 und zahlreichen weiteren Koordinierungsstrategien bis hin zum Euro-Plus-Pakt 2011 konnte bislang nicht die von einigen Akteuren erhoffte Brücke zwischen weit fortgeschrittener negativer Integration und hinterherhinkender positiver Integration bilden.

Im Gegenteil: Die Kluft zwischen Marktfreiheit und -regulierung in der EU vertieft sich um so mehr, je weiter die Großprojekte Binnenmarkt und Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) Raum greifen. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs in den Fällen Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg, in denen es um die Frage ging, welche Rechte Gewerkschaften und Arbeitnehmer in einem freien Binnenmarkt haben, machten die Subordination nationaler Arbeits- und Sozialpolitiken unter die vier Binnenmarktfreiheiten deutlich und wiesen auf die Leerstelle EU-weiter sozialer Mindeststandards hin, die auch die seit dem Vertrag von Lissabon geltende Charta der Grundrechte nicht hinreichend füllen kann. In der Krise der Währungsunion seit 2010 hat sich gezeigt, dass die sozialpolitischen Zielsetzungen der EU so schwach sind, dass sie ohne Weiteres von den budget- und wettbewerbspolitischen Anforderungen der Austeritätspolitik »kannibalisiert« werden können (vgl. Armstrong 2012). Die miserable Halbzeitbilanz der Europa 2020-Strategie legt hiervon Zeugnis ab (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Entwicklung ausgewählter Ziele der Europa 2020-Strategie für die EU-28.Quelle: Eurostat



2.3 Der ideologische Konflikt: Angebotsseitige versus nachfrageorientierte Politik

Das Ende des Bretton-Woods-Systems, die Öl- und Weltwirtschaftskrise und die Stagflation der 1970er Jahre setzten dem Keynesianismus als führender ökonomischer Theorie erheblich zu. Die von der Wirtschaftspolitik der westlichen Welt im Bewusstsein um die Verheerungen der großen Depression und ihrer politischen Folgen angenommene Kritik an den Selbstregulierungskräften des Marktes und die Definierung des Staates als Stabilisator der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verschwanden zunehmend zugunsten des neoklassischen Theoriegebäudes. Wo zuvor die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen und damit auch die Lohn- und Investitionsentwicklung einschließlich fiskalischer Multiplikatoreffekte im Sinne einer Kreislaufbetrachtung im Zentrum stand, rückten nun der Glaube an Marktgleichgewichte und der Glaube an Allokationseffizienzen durch rational handelnde und in ihrem Streben nach Nutzenmaximierung möglichst nicht durch staatliche Eingriffe zu störende Wirtschaftssubjekte in den Vordergrund.

Nachdem bereits die Politiken Ronald Reagans und Margaret Thatchers in den 1980ern sowie die Maßnahmenbündel des Washington Consensus zu Beginn der 1990er Jahre mit angebotsseitigen Wirtschaftsreformen, Niedriginflation, Privatisierung und Sozialabbau den Weg bereitet hatten, führten Globalisierung, Binnenmarktvollendung und Währungsunion zur Hochzeit des Neoliberalismus. Auch wenn die Wohlfahrtswelten von diesen Herausforderungen unterschiedlich betroffen waren und mit verschiedenen Strategien darauf reagierten, ist der Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften in ganz Europa feststellbar. Um die erhofften Wachstumseffekte des Binnenmarktprogramms voll ausschöpfen zu können, sollten Marktrigiditäten beseitigt werden. Solange es um die Freizügigkeit von Gütern und Kapital ging, waren soziale Aspekte nur sekundär wichtig, und das Sozialprotokoll des Vertrags von Maastricht eröffnete für die Freizügigkeit von Personen und Dienstleistungen neue gemeinschaftliche Absicherungsverfahren.

Doch mit der Gründung der Währungsunion wurde die neue ideologische Ausrichtung flächendeckend manifest. Sie zeigte sich etwa in der Kompetenzzuschreibung der politisch gänzlich unabhängigen Europäischen Zentralbank in der Tradition der Deutschen Bundesbank und den Maastricht-Kriterien zum Beitritt zur Eurozone: Preisstabilität und ausgeglichene Haushalte avancierten zu den höchsten Zielen des Integrationsprozesses. Zudem setzte sich der durch den Euro eingedämmte Wettbewerb unterschiedlicher Wechselkurse nun im Bereich der Löhne, Unternehmenssteuern und Sozialausgaben fort. Dies hatte seinen Preis in umfassenden Um- und Rückbauprogrammen in der Sozialpolitik und einer zunehmenden Zurückhaltung staatlicher Investitions- und Industriepolitik sowie einer Abkoppelung der Reallöhne von der Produktivitätsentwicklung. Arbeitslosigkeit wurde nicht länger als makroökonomisches Problem angesehen, dessen Hintergrund in sinkender Nachfrage zu suchen war, sondern als mikroökonomisches Phänomen, dessen Ursprung in unflexiblen Arbeitsmärkten verortet wurde. Entsprechend kritisch war in den 1990er und 2000er Jahren der Umgang mit Arbeitsrechten wie dem Kündigungsschutz, Mindestlöhnen, Tarifverhandlungssystemen und der Arbeitnehmermitbestimmung.

Anders als in Großbritannien unter Thatcher verleiteten die neoliberalen Prinzipien die Regierungen anderer europäischer Staaten aber nicht zu einem offenen Dauerkonflikt mit den Gewerkschaften. Stattdessen wurde um die Jahrhundertwende das Abschließen von Beschäftigungs- und Sozialpakten mit den Sozialpartnern zur Modeerscheinung. Auch hier dominierte eine angebotsseitige Sichtweise, die allerdings unter dem Stichwort flexicurity neben dem Rückbau des Arbeitnehmerschutzes auch neue, zielgerichtete Sicherungselemente aufbaute, so etwa zur Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit, zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zur Förderung gering Qualifizierter, von Jugendlichen, Langzeitarbeitslosen und älteren Arbeitnehmern (Hemerijck 2013: 118). Dieses in Dänemark und den Niederlanden erfolgreiche Konzept wurde auch in der Europäischen Beschäftigungsstrategie gespiegelt.

Mit der Lissabon-Strategie und ihrer Methode der Offenen Koordinierung diffundierte die Idee sozialer Sicherung als Produktivitätsfaktor in die gesamte EU. Von der Idee des zweifachen Ziels - wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt - blieb nicht viel übrig, denn die Instrumente und Akteure für die Nutzung eines nachfrageorientierten policy mix, etwa im Makroökonomischen Dialog, zeigten sich als zu schwach beziehungsweise agierten gegen den Zeitgeist. Seit der Reformulierung der Lissabon-Strategie 2005 sind die zentralen EU-Koordinierungspolitiken auf die Erhöhung des Arbeitsangebots und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte verengt. Entsprechend fielen auch die wirtschaftspolitischen Reaktionen auf die Krise der Eurozone aus: Mittels der Austeritätspolitik sollen die Krisenstaaten durch Lohn- und Sozialkürzungen, Privatisierung von Staatseigentum und Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten wieder attraktiv für den internationalen Wettbewerb werden.


2.4 Der neue Konflikt: Ungerechte versus gerechte Verteilung von Reichtum und Armut

Schon seit der Gründung des Europäischen Sozialfonds mit den Römischen Verträgen 1957 verfolgt die europäische Gemeinschaft das Ziel, niedriger entwickelte Regionen gezielt zu fördern. Das Aufholversprechen hat über Jahrzehnte gut funktioniert; profitiert haben die Länder der Süderweiterung, Irland und zuletzt Mittelosteuropa. Schon seit Mitte der 1970er Jahre ist der Konvergenzprozess bei Wirtschaftswachstum und Einkommen schwächer ausgeprägt als in der Frühphase der Integration, doch erst jüngst kehren sich stetige Aufholprozesse in divergente Entwicklungen um (vgl. Dauderstädt 2014). Dabei ist weniger die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 entscheidend, sondern die seit 2010 andauernde Krise der Eurozone und die zu ihrer Lösung verordnete Austeritätspolitik.

So konnten sich viele Staaten Mittelosteuropas nach einem dramatischen Fallen des Pro-Kopf-Einkommens im Zuge der globalen Finanzkrise nach 2009 relativ schnell wieder erholen, wohingegen Griechenland, Irland, Portugal und Spanien bis heute nicht auf einen Wachstumskurs zurückkehren konnten (vgl. Dauderstädt/Keltek 2014). Wie stark die südliche Peripherie der EU abgehängt wird, zeigt sich besonders mit Blick auf soziale Indikatoren: Die Arbeitslosenquoten der Krisenländer liegen weit über dem Durchschnittsniveau der EU (10,8 Prozent 2013); in Griechenland und Spanien sind mehr als ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung ohne Beschäftigung. In beiden Ländern liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 55 Prozent der Erwerbsfähigen unter 25 Jahren, in Italien, Portugal und auf Zypern bei etwa 40 Prozent und auch in Irland noch bei 27 Prozent. Dagegen weisen Deutschland, Österreich und Luxemburg Arbeitslosenraten von unter sechs und Jugendarbeitslosigkeitsquoten von unter zehn Prozent auf. Ähnlich verhält es sich mit der Armutsgefährdung: Der Durchschnittswert der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen lag im Durchschnitt der EU-28 2012 mit 24,8 Prozent der Gesamtbevölkerung schon hoch, doch alle Krisenstaaten übertreffen diesen Wert, Griechenland um zehn Prozentpunkte. Viele nord- und einige mittelosteuropäische Staaten liegen dagegen bei einer Quote zwischen 15 und 20 Prozent.

Gleichwertige Lebensverhältnisse herrschen in der EU nicht: Selbst die reichsten Einkommensbezieher in Rumänien und Bulgarien müssen im europäischen Vergleich als arm gelten, während in Dänemark und Luxemburg schon ein mittleres Einkommen ausreicht, um zu den reichsten EU-Bürgern zu gehören (vgl. Dauderstädt/Keltek 2014). Ungleichheit, die durch die Krise und die Einkommensreduktion infolge der Austeritätspolitik in einzelnen Ländern zunehmen wird, ist nicht nur zwischen den europäischen Staaten, sondern auch innerhalb der Mitgliedstaaten feststellbar. Im Durchschnitt gehen knapp 40 Prozent des europäischen Gesamteinkommens an das reichste Fünftel der Bevölkerung, weniger als zehn Prozent an das ärmste. Statistische Erhebungen zur Verteilung von Reichtum und Armut zeigen gerade in Südeuropa eine besonders starke Ungleichheit (Eurostat 2014).

Dies war nicht immer so. Erst seit den 1980er Jahren hat die Einkommensungleichheit massiv zugenommen, in den USA erheblich stärker als in Europa. Dies ist nicht verwunderlich, schließlich wurde in dieser Dekade die realkapitalistische durch die finanzkapitalistische »Spielanordnung« (vgl. Schulmeister 2013) abgelöst. Die Exzesse des internationalen Spekulationskasinos mögen 2008 zur Weltfinanzkrise geführt haben, die oberen zehn Prozent der Bevölkerung haben sie in den Jahren davor jedoch reich gemacht. Thomas Piketty (2014) analysiert den Zusammenhang der Verteilung von Einkommen und Vermögen und folgert, dass die Vermögenden durch schneller steigende Erträge aus Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen und Erbschaften immer reicher werden, relativ dazu das Einkommen aus Erwerbsarbeit aber zurückbleibt. Zwar haben die zwei Weltkriege und die Große Depression des 20. Jahrhunderts Vermögen und Kapital zerstört. Und in der europäischen Nachkriegswelt boomte zum einen die Wirtschaft durch den Wiederaufbau, zum anderen galt der Konsens einer sozialen Marktwirtschaft, die mittels der Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik die Ungleichheit zwischen Einkommen und Vermögen einebnete. Heute aber sind die Wachstumsraten gering, die letzten Booms der Finanzindustrie haben die Ungleichheiten befördert und eben nicht zu einem trickle down in alle Gesellschaftsschichten geführt. Aus ideologischen wie aus wettbewerblichen Gründen wurden in vielen Staaten Erbschafts- und Vermögenssteuern reduziert oder abgeschafft, Spitzensteuersätze und Unternehmenssteuern gekappt, während zugleich kaum Fortschritte bei der diskutierten Einführung von Börsenertrags- oder Finanztransaktionssteuern zu verzeichnen sind.


3. Voraussetzungen und Chancen für das Soziale Europa

Die beschriebenen vier Konfliktfelder (vgl. Grafik 1) zeigen die zentralen Kriterien, nach denen ein soziales Europa funktionieren kann oder unmöglich bleibt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass derzeit ein Pochen der Mitgliedstaaten auf nationale Souveränität, ein primär marktschaffender Integrationsmodus, die Kontinuität angebotsseitiger Reformen und die Inkaufnahme einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaften und der Länder in Arm und Reich keinen Raum lassen für ein soziales Integrationsprojekt.

Grafik 1: Vier Konfliktfelder des sozialen Europas



Wie eingangs erwähnt, fordert die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von der Austeritätspolitik als Mitverursacherin einen Tribut. Dieser ist die sich verbreitende - und jüngst von Politikern jeglicher Couleur übernommene - Forderung nach einer sozialen Dimension der EU. Diese kann jedoch nur dann mehr sein als ein Feigenblatt des üblichen »weiter so«, wenn es die Politik wagt, zum Integrationskern vorzustoßen, indem sie in den vier beschriebenen Konfliktfeldern jeweils die Seite wechselt. Die Voraussetzungen für ein erfolgreiches soziales Europa können klar beschrieben werden und Ansatzpunkte zu seiner Verwirklichung finden sich mehr als genug.


3.1 Liberale Reformkonvergenz macht es einem sozialpolitischen EU-Rahmen leichter

Wohlfahrtsliberalismus, permanente Austerität und Ideendiffusion von flexicurity bis Jugendgarantie haben zu einer Hybridisierung der Wohlfahrtsstaaten beigetragen. Die einst postulierten starren Pfadabhängigkeiten gibt es nicht mehr, selbst die schwerfällig reformierbaren Rentensysteme der europäischen Staaten haben sich tendenziell in die gleiche Richtung gedreht. Nicht unüblich, dass ein Wohlfahrtsstaat heute ein universelles Gesundheitssystem mit einer Bismarck'schen Rentenversicherung und einem liberalisierten Arbeitsmarkt koppelt. Anders als in der wissenschaftlichen Modelldebatte der 1990er und 2000er Jahre, in der ein Europäisches Sozialmodell eine normative Schwärmerei blieb und die Differenzen und Pfadabhängigkeiten der Wohlfahrtsstaaten betont wurden, hat gerade die marktliberale pensée unique den Boden für institutionelle und reformpolitische Ähnlichkeiten geschaffen. Dies führt ironischerweise dazu, dass auch gemeinsame Lösungen in Teilbereichen der sozialen Sicherung einfacher europäisch gestaltet werden können. Basiselemente des gleichen Politikbereichs lassen sich leicht in allen 28 Mitgliedstaaten aufspüren. So ist die Vereinbarung einer neuen, verbindlicheren Offenen Methode der Koordinierung in einer revisionierten Europa 2020-Strategie mit klar formulierten Sozialschutzzielen und mit Sanktionen versehen nichts, was an den Unterschieden der Wohlfahrtswelten scheitern muss. Auch die Etablierung einer europäischen Arbeitslosenversicherung (vgl. Dullien 2014) als makroökonomisches Steuerungs- und sozialpolitisches Basismodell erscheint nicht mehr unwahrscheinlich.


3.2 Soziale Ungleichgewichte gefährden die ökonomische Integration

Der Streit um die Prädominanz der Binnenmarktfreiheiten in den EuGH-Urteilen Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg - die Problematik sozialen Dumpings im Zuge von Arbeitnehmerentsendung und grenzüberschreitender Dienstleistungsfreiheit - haben ebenso wie die Sorge um die Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass ein Binnenmarkt allein mit einheitlichen Wettbewerbsregeln und der Garantie offener Grenzen nicht vollständig ist. Wenn das gemeinsame Wirtschaften in Europa erklärtes Ziel ist, können Arbeits- und Sozialschutzbestimmungen nicht allein auf nationaler Ebene verbleiben. Denn dort sind sie erhöhtem Druck ausgesetzt und werden entweder gestutzt oder von nationalen Protektionismen einverleibt, die wiederum die ökonomischen Ziele gefährden. Ähnlich zeigt sich dies in der Währungsunion: Eine gemeinsame Geldpolitik ohne umfassende fiskalische und politische Rahmenvereinbarungen ist ein prekäres Gebilde. Die Weltfinanzkrise als exogener Schock hat ausgereicht, die internen Defizite und Ungleichgewichte der Eurozone offenzulegen. Politisch kann angesichts der unterbrochenen Wirtschaftszyklen, der hohen Arbeitslosigkeit und der wachsenden Armutsgefährdung nun aber mit Fug und Recht eine Korrektur gefordert werden. Diese sollte neben der in der Krise gestärkten budgetären Überwachung auch die für das Funktionieren der Währungsunion problematischen Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales im Auge behalten. Um die Subordination sozialer Politiken unter die Erfordernisse zunehmender Marktintegration abzumildern, wäre eine soziale Folgenabschätzung für alle Legislativprojekte der EU sinnvoll. Zudem sollten die sozialpolitischen Akteure wie der Rat für Beschäftigung, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz der Arbeits- und Sozialminister, aber auch Gremien wie der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stärker mit den Wirkungsketten der negativen Integration befasst werden. Um die positive Integration aktiv zu stärken, müsste als europäische Rahmenregulierung ein Set an sozialen Mindeststandards und Zielgrößen - in Abhängigkeit von der nationalen Wirtschaftsentwicklung - vereinbart werden, zu deren Überwachung ein Verfahren gegen soziale Ungleichgewichte in das Europäische Semester integriert wird, wie es zumindest in einem Non-Paper der Europäischen Kommission 2013 bereits diskutiert wurde. Die nachhaltigste Lösung wäre sicher die Verabschiedung eines sozialen Fortschrittsprotokolls mit einer Sozialklausel, die sozialen Rechten und wirtschaftlichen Freiheiten eine gleichwertige Stellung abverlangt (SAP/LO 2013).


3.3 Nur mit Blick auf die Nachfrage kann die Krise der Eurozone überwunden werden

In der Krise hat sich die Austeritätspolitik mit ihrer einseitig angebotsorientierten Ausrichtung selbst entzaubert. Anstatt mit harten Auflagen erfolgreich zu sein, musste die Politik zähneknirschend eingestehen, dass es erst durch das Sparparadigma zu einem beschleunigten Zusammenbruch von Wirtschaftskreisläufen in den Krisenländern gekommen ist (vgl. Blanchard/Leigh 2013). Nur nachfrageseitig lässt sich erklären, wie ein Teufelskreis aus geringeren Einkommen, weniger Konsum und Investitionen, Massenentlassungen und Firmenpleiten, sinkenden Steuereinnahmen und höheren Schuldenquoten zustande kommen konnte. Griechenlands Staatsverschuldung illustriert diesen Kreislaufeffekt gut: In der Krise stieg der öffentliche Schuldenstand von 113 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2008 auf 175 Prozent des BIP im Jahr 2013 an. Bei stark sinkender Wirtschaftsleistung steigen die Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt an - die Austerität hat ihr zentrales Ziel verfehlt. Und trotz der 2012 gegebenen Garantie der Europäischen Zentralbank, alles Notwendige für den Erhalt der Eurozone zu tun, führt die Niedrigzinspolitik nicht zu Investitionstätigkeit und Wachstumssteigerung. Auch die Strukturreformen der Troika mögen zwar die Wettbewerbsfähigkeit der Märkte in den Krisenländern steigern, doch können sie weder die Kreditklemme der Banken, noch die investive und konsumptive Zurückhaltung aufheben. Dies könnten nur eine Bankenunion, die vor transnationalen Transfers nicht zurückschreckt und diese nicht bloß als unwahrscheinliche Ultima Ratio reserviert, und eine Druckreduzierung durch Neudefinierung der Austeritätspolitik. Diskutiert werden bereits Ausnahmen und Flexibilitäten für investive Staatsausgaben bei der Überwachung durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Interessant könnte zudem die Einbindung nationaler Investitionsquoten in das scoreboard des makroökonomischen Ungleichgewichteverfahrens sein. Besser wäre die Ermöglichung eines europäischen oder zumindest europäisch koordinierten Investitionsprogramms, wie es der Marshallplan des DGB vorsieht (2012). Ein leuchtendes Vorbild könnte Deutschland sein, das mit staatlich geförderter Abwrackprämie und einem Gebäudesanierungsprogramm nachfrageseitige Impulse ausgelöst hat, mit denen die deutsche Wirtschaft sehr gut durch die globale Wirtschaftskrise gekommen ist.


3.4 Die Ungerechtigkeitsdebatte zwingt zu einer politischen Reaktion

Das neue Konfliktfeld zunehmender Spaltungstendenzen in Europa zwischen armen und reichen Mitgliedstaaten und zunehmend ungleich verteilten Einkommen und Vermögen bietet politisch viele Ansatzpunkte, für einen neuen Kurs zu plädieren. Angesichts der Wahlerfolge rechtsnationaler Parteien bei den Europawahlen sollte dringend eine Politik zur Verhinderung zunehmender Divergenzprozesse in der EU in Gang gesetzt werden. Das wird nicht ohne gezielte Förderung benachteiligter Regionen und neue Ausgleichsmechanismen transnationaler Natur funktionieren und zwingt bei der nächsten Überprüfung des Mehrjährigen Finanzrahmens zur Aufgabe des juste retour-Denkens der Mitgliedstaaten. Doch wer nicht nur das wirtschaftliche und soziale Auseinanderbrechen der Union, sondern eben auch ihre politische Spaltung zugunsten radikaler Stimmen wie etwa der von Marine Le Pen verhindern möchte, wird das Denken in Kategorien roter Linien aufgeben müssen. Die Spaltung der Gesellschaft in wenige Vermögende und eine sich bei zu geringem Verdienst abrackernde Mehrheit liefert der Politik eine Argumentation auf dem Silbertablett, um Gerechtigkeit und Integrität durch projektbezogene Steuern und Abgaben der wählenden Mehrheit schmackhaft zu machen. Man muss Thomas Piketty nicht zum Säulenheiligen ernennen und kann dennoch den »Hype« (Herrmann 2014) um sein Werk politisch nutzen, um Projekten einer Erbschafts- und Vermögenssteuer - warum nicht europäisch koordiniert? - ebenso wie der in Brüsseler Gremiensitzungen an Zermürbung zu scheitern drohenden europäischen Finanztransaktionssteuer neuen Schwung zu verleihen. Es ist verwunderlich, dass sich in Europa noch kaum ein Politiker dies zu eigen gemacht hat.

Die Bestellung einer neuen Europäischen Kommission bietet die Chance, zusammen mit dem Europäischen Parlament die verlorene Strahlkraft von Austerität, Vermarktlichung und Risikoindividualisierung zu ersetzen durch hier aufgezeigte Ansätze für eine soziale Dimension der EU. Soziale Politik und wirtschaftliche Prosperität sind nicht nur eng aneinander gekoppelt, sie sind auch kein Gegensatz. Gerade die Sozialdemokratie darf sich an ihre Geschichte erinnern, um zu wissen, dass eine sozial gerechtere Gesellschaft auch eine ökonomisch produktivere ist. Was in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts für die Errichtung des nationalen Wohlfahrtsstaates galt, hat im 21. Jahrhundert volle Berechtigung für die Schaffung eines Europäischen Sozialmodells.



Literatur

Armstrong, Kenneth A. (2012): EU Social Policy and the Governance Architecture of Europe 2020, in: Transfer 18 (3): 285-300.

Blanchard, Olivier/Leigh, Daniel (2013): Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, IMF Working Paper, WP/13/1.

Busch, Klaus/Hermann, Christoph/Hinrichs, Karl/Schulten, Thorsten (2012): Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell. Wie die Krisenpolitik in Südeuropa die soziale Dimension der EU bedroht, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin.

Dauderstädt (2014): Konvergenz in der Krise, Europas gefährdete Integration, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin (im Erscheinen).

Dauderstädt, Michael/Keltek, Cem (2014): Krise, Austerität und Kohäsion: Europas stagnierende Ungleichheit, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

DGB (2012): Ein Marshallplan für Europa. Vorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes für ein Konjunktur-, Investitions- und Aufbauprogramm für Europa, Profil, Dezember 2012.

Dullien, Sebastian (2014): Eine europäische Arbeitslosenversicherung als Stabilisator für die Euro-Zone, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

Eurostat (2014): Income equality: Nearly 40 per cent of total income goes to people belonging to the highest (fifth) quintile, Statistics in: focus 12/2014.

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Über den Autor

Dr. Björn Hacker war Referent für europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist künftig an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin tätig, erreichbar unter bjoern.hacker@htw-berlin.de.

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Diese Publikation erscheint im Rahmen der Arbeitslinie »Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik«, Redaktion: Dr. Björn Hacker. Redaktionsassistenz: Sabine Dörfler, sabine.doerfler@fes.de.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2014