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JUSTIZ/186: Nordirland-Konflikt - Schulterschluß der fremden Interessen ... (SB)


Nordirland-Konflikt - Schulterschluß der fremden Interessen ...


Im Kampf um die Wahlen zum britischen Unterhaus, die am 12. Dezember stattfinden, laufen die Dinge für Premierminister Boris Johnson und seine konservative Partei recht gut. Die traditionell rechte Boulevardpresse Großbritanniens drischt ununterbrochen auf Labour-Chef Jeremy Corbyn wegen seiner pro-palästinensischen Haltung, seines Engagements für soziale Gerechtigkeit und seiner prinzipiellen Ablehnung von Atomwaffen ein und bauscht den Oppositionsführer zum "Antisemiten", zum "Marxisten" und zu einer "Gefahr für die nationale Sicherheit" auf. Währenddessen hat die EU-feindliche Brexit Party um Nigel Farage vor wenigen Tagen entschieden, in keinem Wahlkreis anzutreten, wo die Tories gute Siegeschancen haben, sondern lediglich in traditionellen Labour-Hochburgen zu kandidieren, um den Sozialdemokraten Sitze abzujagen und die Stimmen für den Pro-Brexit-Kurs des Nachfolgers der glücklosen Theresa May zu maximieren.

Was Johnson jedoch den Wahlsieg und damit eine Mehrheit im Unterhaus kosten könnte ist seine fehlende Glaubwürdigkeit. Zwar gilt der ehemalige Journalist und Bürgermeister von London als energischer Wahlkämpfer, der mit seiner jovialen Art, seinem Humor und seinem rhetorischen Können die Menschen mitreißen kann, gleichzeitig eilt ihm aber der Ruf des Lügenbarons und Blenders voraus, der seine Zusagen nicht einhält, sondern stets nach opportunistischen Motiven entscheidet. Den jüngsten Beweis für Johnsons Perfidie liefert der von ihm im Oktober mit der EU ausgehandelte Austrittsdeal, der entgegen allen früheren Zusicherungen doch noch Zollkontrollen beiderseits der Irischen See in Nordirland und Großbritannien vorsieht, um eine harte Grenze auf der grünen Insel zu vermeiden. Die protestantisch-probritische Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Unterhausabgeordnete die Minderheitsregierung Mays die beiden letzten Jahre gestützt hatten, tobt deswegen und wirft Johnson vor, die treuen Untertanen Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. verraten und Ulsters Protestanten der schleichenden Wiedervereinigung mit der mehrheitlich katholischen Republik Irland überantwortet zu haben.

Vor diesem Hintergrund hat Johnson am 10. November anläßlich der staatlichen Feierlichkeiten zum Gedenken an die gefallen Soldaten der beiden Weltkriege einen fragwürdigen Vorstoß unternommen, um die unionistischen Gemüter in Nordirland doch noch zu besänftigen. Er versprach, in der nächsten Legislaturperiode als Premierminister eine Gesetzesnovelle durchs Parlament zu bringen, die Anklagen gegen Mitglieder der britischen Sicherheitskräfte wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Ausübung ihrer Pflicht verbietet. Zwar wäre ein solches Gesetz auch zukunftsgerichtet, doch politisch hätte die Novellierung des Human Rights Act aus dem Jahr 2000 zunächst den Effekt, den rund 200 Soldaten und Polizisten, gegen die wegen des dringenden Verdachts aktuell ermittelt wird, während der "Troubles" in Nordirland schwere Gewalttaten bis hin zum Mord verübt zu haben, einen Prozeß zu ersparen.

Seit dem Ende des 30jährigen Bürgerkrieges in Nordirland im Zuge des 1998 unterzeichneten Karfreitagsabkommens tun sich alle Beteiligten mit der Geschichtsaufarbeitung schwer. Insgesamt kamen damals rund 3500 Menschen gewaltsam ums Leben. Die meisten Opfer werden der "terroristischen" Irisch-Republikanischen Armee (IRA) angelastet. Die britische Armee wird mit dem Tod von rund 300 Menschen in direkte Verbindung gebracht. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, daß viele tödliche Bombenanschläge und Überfälle loyalistisch-protestantischer Paramilitärs gegen mutmaßliche IRA-Sympathisanten oder auch nur einfache Katholiken mit Wissen und/oder Beteiligung des Special Branch der protestantisch-dominierten Royal Ulster Constabulary (RUC), des Ulster Defence Regiment (UDR), des britischen Inlandsgeheimdiensts MI5 oder des britischen Militärgeheimdiensts verübt wurden. Fest steht zudem, daß MI5 und Militärgeheimdienst auch innerhalb der IRA eigene Doppelagenten hatten, die auch im Sinne Londons Gewaltverbrechen verübt haben. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Freddie Scappaticci, der heute im Zeugenschutzprogramm lebende Ex-Leiter der internen Sicherheitsabteilung bei der IRA, der viele aufrechte Irisch-Republikaner auf dem Gewissen haben soll.

Nicht zuletzt um die schmutzigen Details und das wahre Ausmaß des Krieges, den die britische Staatsmacht von 1968 bis 1998 in Nordirland gegen die nationalistische Bevölkerung geführt hat, weiterhin geheimhalten zu können, laufen in Großbritannien Presse, Generalität und der rechte Mob Sturm gegen jeden Versuch, Soldaten oder Polizisten wegen des damaligen Geschehens vor Gericht zu zitieren. Diese Kreise haben zum Beispiel "Soldier F", der nach Feststellung der Saville-Untersuchungskommission als Mitglied des 1. Bataillons des britischen Fallschirmjägerregiments am Bloody Sunday, dem 30. Januar 1972 - als 13 Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration in Derry getötet wurden -, zwei unbewaffnete Zivilisten erschossen und fünf weitere durch Schüsse verletzt hat und deshalb seit März wegen Mordes und versuchten Mordes unter Anklage steht, zum bemitleidenswerten Opfer einer "politisch-korrekten" Willkürjustiz aufgebauscht. Im vergangenen Sommer kam es in London sogar zu einer riesigen Solidaritätskundgebung, als der 70jährige Soldier F in Ausgehuniform eine Parade Tausender Unterstützter abnahm, darunter polizeibekannte Fußballhooligans und Neonazis, Hell's Angels auf ihren Motorrädern sowie Logenbrüder des protestantischen Oranierordens. Inzwischen gehört es in loyalistischen Vierteln von Belfast und Derry sowie bei Oraniermärschen in Nordirland zum guten Ton, durch Tragen der Insignien oder das Zeigen der Regimentsflagge von 1. Para den Soldier F zu ehren und die Opfer des Bloody Sunday zu verhöhnen.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die öffentliche Intervention des ehemaligen CIA-Chefs David Petraeus, der am 12. November im Belfast Telegraph eine deutliche Stellungnahme im Sinne des britischen Militärestablishments abgab und sich damit ungebeten in die schwierige Debatte um die Aufarbeitung der nordirischen "Troubles" eingemischt hat. Anlaß war die Veröffentlichung eines Berichts der rechtsgerichteten Londoner Denkfabrik Policy Exchange, in dem die Autoren, Professor Richard Ekins und Julie Marionneu, vor der "Judizialisierung" des Kriegswesens warnten und die von Premierminister Johnson anvisierte Novellierung des britischen Menschenrechtsgesetzes sowie eine Aussetzung der europäischen Menschenrechtskonvention für britische Soldaten bei Militärkonflikten forderten. Gegenüber dem Belfast Telegraph beschwerte sich General a. D. Petraeus darüber, daß die Europäische Menschenrechtskonvention "Prozesse gegen britische Soldaten unvermeidlich" mache, und er fügte hinzu, dieser Umstand könnte zu einer "Kultur der Risikovermeidung bei den Unteroffizieren und einfachen Soldaten führen". Seine Erläuterungen setzte er wie folgt fort:

Die ungerechte Verfolgung britischer Soldaten und Veteranen im Anschluß an Militäroperationen ist besonders besorgniserregend. Bei denjenigen, die im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen, hat dies zu enormem Streß und Angst - und das Jahre oder sogar Jahrzehnte nach dem eigentlichen Kampfeinsatz - geführt. Das Ausmaß, in dem denjenigen, die vor Jahrzehnten in Nordirland gedient haben, darunter der hoch angesehene Militärgelehrte General Sir Frank Kitson, weiterhin rechtliche Verfolgung droht, ist erstaunlich und entsetzlich. Das ist nicht nur ungerecht für die, die ihrem Land gedient und dafür Opfer gebracht haben, sondern untergräbt die Moral derjenigen, die heute im Einsatz stehen und löst bei potentiellen Rekruten unnötige Sorgen aus.

Der demonstrative Einsatz von Petraeus für Kitson verdient besondere Hervorhebung. Der spätere Adjutant-General der Königin war als junger Offizier in den vierziger und fünfziger Jahren an der grausamen Niederschlagung antikolonialer Aufstände in Malaysia und Kenia beteiligt. Dort hat er die Taktik der Schaffung sogenannter "Pseudo-Gangs", die im Auftrag des Militärs als Todesschwadronen die einheimischen Bevölkerung terrorisieren und massakrieren, entwickelt. Kitsons 1971 erschienenes Buch "Low-Intensity Operations: Subversion, Insurgency und Peacekeeping" gilt als Standardwerk in Sachen Aufstandsbekämpfung. Von den Teilnehmern des Nordirland-Konflikts hat vermutlich niemand mehr Blut an den Händen als der heute 92jährige General a. D.. Hatte beim Ausbruch der Troubles im Sommer 1968 die Labour-Regierung Harold Wilsons die britische Armee eingesetzt, um Katholiken und Protestanten voneinander zu trennen und die Lage zu deeskalieren, so änderte sich alles mit der Machtübernahme der Tories unter Premierminister Edward Heath im Juni 1970. Dadurch kamen die Hardliner beim britischen Militär zum Zuge und erklärten der damals fast unbedeutenden IRA den Krieg.

Unter der Leitung Kitsons hat das 1. Bataillon der britischen Fallschirmjäger im August 1971 unter dem Vorwand der Waffensuche zwei Tage lang im katholischen Wohnviertel Ballymurphy in Belfast randaliert und elf Menschen ermordet. Als nur wenige Monate später dieselbe Einheit nach Derry zur Begleitung eines größeren Protestmarsches gegen die massenhafte Internierung junger katholischer Männer beordert wurde, war der "Bloody Sunday" quasi vorprogrammiert - möglicherweise sogar von Kitson und Konsorten beabsichtigt. Kitson hat in Nordirland auch die berüchtigte Military Reaction Force (MRF) kreiert, deren zivil gekleidete Mitglieder aus dem Hinterhalt agierten und entweder in eigener Regie oder mit loyalistischen Paramilitärs zusammen Attentate, Anschläge und Verschleppungen planten und durchführten. Ein ehemaliger Angehöriger der Einheit hat sie später als "legale Todesschwadrone" bezeichnet.

Demnächst müßte sich Kitson wegen der Ermordung des Busfahrers Eugene "Paddy" Heenan im Jahre 1973 in Belfast vor Gericht verantworten. Heenan starb, als ein loyalistischer Paramilitär eine Granate in seinen Bus warf. 2015 hat Heenans Witwe Mary Anzeige gegen Kitson erstattet und ihm eine Mitbeteiligung an der Bluttat vorgeworfen. Daß Petraeus für Kitson publizistisch in die Bresche springt ist keine besondere Überraschung. Schließlich hat der US-General Mitte der Nuller Jahre als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Irak dieselben "terroristischen" Methoden - Stichwort "Salvador Option" - wie einst Kitson in Nordirland benutzt, um Sunniten und Schiiten gegeneinander zu hetzen und für Washington einen "Sieg" von zweifelhaftem Wert im Zweistromland herauszuholen.

2011 mußte Petraeus, der von den US-Medien bis heute als weitblickende Aufstandsbekämpfungskoriphäe gefeiert wird, wegen der Weitergabe vertraulicher Informationen an seine Biographin und Geliebte seinen Hut als CIA-Chef nehmen. Die offizielle Erklärung ist jedoch nur Legende. Eigentlicher Stein des Anstoßes war der gewaltsame Tod des US-Botschafters in Libyen Christopher Stephens infolge eines Überfalls von Dschihadisten auf das amerikanische Konsulat in Benghazi. Hintergrund des Vorfalls war eine Geheimoperation von Petraeus und der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton, bei der größere Mengen Waffen und Munition aus Libyen geschmuggelt und den Gegnern Baschar Al Assads in Syrien übergeben werden sollten. Ganz bestimmt ist eine "Kultur der Risikovermeidung" das Letzte, was sich Leute wie Petraeus und Kitson bei den NATO-Streitkräften wünschen.

14. November 2019


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