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PARTEIEN/294: Schottland - wenige Tage bis zur Unabhängigkeit? (SB)


Schottland - wenige Tage bis zur Unabhängigkeit?

Jüngstes Umfrageergebnis löst Panik in London aus



Die Veröffentlichung des jüngsten Umfrageergebnisses am vorletzten Wochenende vor der Volksbefragung über die Unabhängigkeit Schottlands hat in Großbritannien ein politisches Erdbeben ausgelöst. Zehn Tage vor dem Urnengang am 18. September liegen die Unabhängigkeitsbefürworter mit 51 Prozent gegenüber 49 Prozent für die Gegner erstmals vorne. Innerhalb weniger Monate haben die Kräfte, die an der seit 1707 existierenden Union zwischen Schottland und England festhalten - darunter auch die Führung aller großen Fraktionen im Londoner Parlament, d.h. der in Koalition regierenden Konservativen und Liberaldemokraten sowie der in der Opposition befindlichen, sozialdemokratischen Labour Party - einen Vorsprung von mehr als 20 Prozent verspielt. Unter der britischen Elite in Politik und Medien herrscht nun Panikstimmung, denn es sieht nicht mehr danach aus, als könnte der aktuelle Trend noch gestoppt oder ins Gegenteil gekehrt werden. Scheinbar steht das Ende Großbritanniens unmittelbar bevor.

Der Vormarsch der Unabhängigkeitsbefürworter geht auf eine landesweite Mobilisierung zurück, die von der in Edinburgh regierenden, linksliberalen Scottish National Party (SNP) um den charismatischen Premierminister Alex Salmond initiiert wurde und an der auch zahlreiche kleinere Linksparteien und zivilgesellschaftliche Gruppierungen wie die schottische Friedensbewegung wesentlichen Anteil haben. Aufgrund jener Bemühungen hat die Ja-Kampagne laut Umfragen viele junge Menschen, Frauen und die Arbeiterklasse in Schottland auf ihre Seite ziehen können. Das einzige demographische Segment, das mehrheitlich noch bei ihrem Nein zur Unabhängigkeit geblieben ist, sind die Rentner. Auf die zählen nun die Betreiber der Kampagne "Better Together" und hoffen inständig, daß Schottlands Senioren, die sich wie in vielen anderen Ländern überproportional bei Wahlen bemerkbar machen, die Union doch noch retten werden.

Diese Hoffnung könnte sich als trügerisch erweisen. Zeitungsberichten zufolge hat die Ja-Kampagne in den vergangenen Monaten mit klassischer Basisarbeit - Klinkenputzen et cetera - sowie über die sozialen Medien wie Facebook und Twitter Tausende Menschen, die aus Politverdrossenheit seit langem nicht mehr wählen gingen, dazu gebracht, sich wieder in die Wählerlisten einzutragen. Liegt die Beteiligung bei Parlaments- und Kommunalwahlen in Schottland normalerweise irgendwo zwischen 50 und 60 Prozent, so gehen die Demoskopen derzeit davon aus, daß sich mehr als 80 Prozent der Stimmberechtigten an der Volksabstimmung beteiligen werden. Man kann annehmen, daß die große Mehrheit dieser Neuwähler für Ja stimmen und damit der Kampagne für die Unabhängigkeit Schottlands zum Sieg verhelfen werden.

Nun stehen die Unionsanhänger vor einem Scherbenhaufen. Ihre Negativkampagne, mit der sie die ambitionierten Pläne von Salmond und der SNP für ein freies und sozial gerechtes Schottland als unausgegoren und realitätsfremd abzutun versucht haben, hat nicht gefruchtet. Offenbar glauben die meisten Bewohner des Territoriums nördlich des Hadrianswall an die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit eines unabhängigen Schottlands. Gerade die Austeritäts- und Privatisierungspolitik der liberal-konservativen Regierung in London hat viele Schotten zu der Überzeugung gebracht, daß sie nur mit einem eigenen Staat wichtige soziale Errungenschaften wie das staatliche Gesundheitssystem National Health Service (NHS) vor dem Kahlschlag durch die englischen Tories retten können.

Die Nachricht vom erstmaligen Vorsprung der Unabhängigkeitsbefürworter in der Wählergunst hat beim britischen Establishment hektisches Treiben ausgelöst. Premierminister David Cameron traf sich am 7. September mit Königin Elizabeth II. auf deren schottischem Landsitz Balmoral zu einer inoffiziellen Krisensitzung. Am selben Tag gab Schatzmeister George Osborne ein Interview im BBC-Fernsehen, in dem er Schottland noch weitergehende Befugnisse, besonders in Finanz- und Steuerfragen, in Aussicht stellte. Der Vorschlag Osbornes, mit dem London die Schotten vor dem Gang in die Unabhängigkeit doch noch umstimmen will, soll in den kommenden Tag konkretisiert werden.

Die Labour-Partei hat ihre 59 schottischen Abgeordneten nach Hause beordert, auf daß sie unter der Führung von Ex-Premierminister Gordon Brown, selbst ein Schotte, ihre Landsleute zum Verbleib in der Union überreden. Derzeit verfügt Labour im Londoner Parlament über 258 von 600 Mandaten. Sollte Schottland unabhängig werden, wird es keine schottischen Sitze mehr dort geben. Damit verlören die britischen Sozialdemokraten auf einen Schlag ein Fünftel ihrer Sitze und hätten praktisch keine Chance mehr, eine absolute Mehrheit zu erringen. Die Konservativen, die in England traditionell die größte Partei bilden, würden noch dominanter werden - sofern es ihnen natürlich gelingt, den internen Dauerstreit um das Für und Wider eines Austritts aus der Europäischen Union beizulegen und die unliebsame Konkurrenz am rechten Rand, die United Kingdom Independence Party (UKIP), in Schach zu halten.

Vor diesem Hintergrund ist bereits die Rede von einer britischen Verfassungskrise, sollten sich die Schotten am 800. Jahrestag ihres größten Sieges über die Engländer bei der Schlacht von Bannockburn - aus naheliegenden Gründen hat Salmond die Abstimmung auf das historische Datum terminiert - für die Unabhängigkeit entscheiden. Zumindest müßten die für 2015 vorgesehenen Wahlen zum britischen Unterhaus verschoben werden, weil die schottischen Sitze kurz nach Beginn der neuen Legislaturperiode im Rahmen der Neuordnung infolge des Austritts Schottlands aus der Union mit England aufgelöst würden.

Aktuell bildet sich am Horizont eine weitere dunkle Wolke heraus, die eine relevante Zunahme des Prozentanteils der Unabhängigkeitsgegner bis zum 18. September recht unwahrscheinlich macht. Am kommenden Wochenende, also vier Tage vor der Abstimmung, wollen der schottische Oranierorden zusammen mit den Logenbrüdern aus Nordirland einen großen Marsch durch Edinburgh für die Union und gegen die Unabhängigkeit abhalten. Selbst wenn es hierbei zu keinen Gewaltätigkeiten wie jedes Jahr um den 12. Juli in Nordirland kommen sollte, könnten sich Alex Salmond und die SNP kaum einen besseren Beleg für die Richtigkeit ihrer These, daß es sich bei der Union um ein rückwärtsgewandtes Auslaufmodell handelt, wünschen, als einen Riesenaufmarsch grießgrämiger, protestantischer Fundamentalisten vom Oranierorden mit ihren Schärpen, dunklen Anzügen und Melonen.

8. September 2014