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PARTEIEN/333: Machtkampf in London erschwert Brexit-Verhandlungen (SB)


Machtkampf in London erschwert Brexit-Verhandlungen

Konservative Regierung Großbritanniens treibt ruderlos umher


In Großbritannien nimmt das desaströse Brexit-Debakel seinen Lauf. Während die einfachen Bürger sorgenvoll in die Zukunft blicken und Wirtschaftsvertreter vergeblich nach Planungssicherheit schreien, wenden sich die regierenden Tories ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem parteiinternen Machtkampf, zu. Nichts verdeutlicht die Prioritäten innerhalb der konservativen Partei Großbritanniens mehr als der peinliche Auftritt des Brexit-Ministers David Davis beim Auftakt der Verhandlungen der EU am 18. Juli in Brüssel. Zusammen mit dem EU-Verhandlungsführer Michel Barnier ließ sich Davis kurz fotografieren, setzte sich - demonstrativ ohne Notizen - an den Gesprächstisch und reiste dann nach nur einer Stunde wieder in Richtung London ab. Als Grund wurde die angeblich notwendige Teilnahme an einer Abstimmung im Unterhaus angegeben. Offensichtlich wollte Davis so schnell zurück an die These, um keinen Boden im aktuellen Ränkespiel zu verlieren.

Seit dem überraschenden Verlust der eigenen Mehrheit bei den Parlamentswahlen am 8. Juni gilt Tory-Chefin Theresa May als Premierministerin auf Abruf. Ihre Autorität ist dahin. Sie darf lediglich die Tories anführen, bis der Nachfolger ermittelt worden ist. Es gab Überlegungen, May bis zum geplanten Ende der Brexit-Verhandlungen am 31. März 2019 im Amt zu belassen, damit sie die politische Verantwortung für das zu erwartende traurige Ergebnis übernehmen kann. Doch das katastrophale Ansehen der ehemaligen Innenministerin in der Öffentlichkeit und ihr fehlender Rückhalt innerhalb der konservativen Fraktion lassen eine solche Option nicht länger zu. Inzwischen sieht es so aus, als würde die Nachfolge Mays in den kommenden Wochen bis kurz nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause geregelt werden.

Als aussichtsreichste Bewerber um die Posten des Premierministers und konservativen Parteichefs werden aktuell Außenminister Boris Johnson, Finanzminister Philip Hammond und Brexit-Minister Davis gehandelt. Johnson gilt als Favorit der Befürworter eines "harten" Brexits, sprich eines Austritts Großbritanniens nicht nur aus der EU, sondern auch aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. Nach dem verheerenden Brand in dem Hochhaus Grenfell Tower am 16. Juni war Johnson, der wie sonst niemand in der britischen Politik die Klaviatur der modernen Medien zu spielen weiß, auf Tauchstation gegangen, trägt er doch wegen seiner Zeit als Bürgermeister von London durch Kürzungen bei der Feuerwehr eine nicht geringe Verantwortung für das Desaster, das mehr als 100 meist arme Menschen das Leben gekostet hatte.

Doch am 13. Juli meldete sich Johnson in gewohnt überheblicher Manier zurück. An diesem Tag hatte der Gesetzentwurf ("Great Repeal Bill"), mit dem 44 Jahre EU-Gesetzgebung in britisches Recht umgewandelt werden sollen, um später von London zurechtgestutzt zu werden, im House of Commons seine erste Lesung. Während der Unterhausdebatte erntete Johnson stürmischen Beifall seitens der Brexit-Fundamentalisten in den eigenen Reihen mit dem Spruch, die EU-Führung könne ihn sonstwohin küssen, wenn sie meine, Großbritannien müsse beim Austritt aus der EU eine Abfindung zahlen. Tatsächlich beharrt Brüssel auf eine solche Entschädigung, wobei Experten schätzen, daß die zu entrichtende Summe irgendwo zwischen 50 und 100 Milliarden Euro liegt. Johnson erneuerte die Drohung, notfalls würde sich Großbritannien auch ohne vertragliche Einigung über die künftigen Beziehungen von der restlichen EU-27 trennen.

Von einem solchen Szenario raten britische Industriekapitäne dringend ab. Sie finden Gefallen an den jüngsten Äußerungen des Finanzministers, der sich als Verfechter eines möglichst sanften Brexits, der auf Verbleib Großbritanniens im Binnenmarkt und in der Zollunion sowie die Beibehaltung der Reisefreiheit für Bürger und Firmen hinausliefe, zu erkennen gibt. Auch wenn die Einwanderung das überragende Thema beim Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 gewesen ist, weisen Experten auf die Gefahr eines verheerenden Arbeitskräftemangels vor allem in den Bereichen Bau, Gesundheit und Pflege hin, sollten ab April 2019 Bürger aus den anderen 27 EU-Staaten nicht weiterhin in Großbritannien leben und arbeiten dürfen. Ob sich Hammond mit seiner ausgewogenen Position bei den Tories durchsetzen kann, ist fraglich. Kaum hatte er sich mit seinem Vorstoß aus der Deckung gewagt, als auch schon mehrere Geschichten an die Presse lanciert wurden, die ihn unterminieren sollten.

David Davis könnte als Profiteur aus der Zerreißprobe zwischen den Anhängern eines harten bzw. eines sanften Brexits hervorgehen. Dem Brexit-Minister werden keine besonderen Kompetenzen attestiert. Laut Presse gilt er in höheren Beamtenkreisen als ziemlicher Trottel, dessen einzige Stärke im Lavieren besteht. Deshalb wird er sich vermutlich aus dem Duell zwischen Johnson und Hammond heraushalten, so daß sich die beiden Hauptkontrahenten gegenseitig Schaden zufügen und er sich am Ende als Kompromißkandidat empfehlen kann. Ob diese Rechnung aufgeht, muß sich noch zeigen. Von den Tories ist bekannt, daß sie zu Radikallösungen neigen und daher stets für Überraschungen gut sind. Wenngleich derzeit Johnson, Hammond und Davis in Führung liegen, könnte auch Innenministerin Amber Rudd oder Ruth Davidson, Anführerin der schottischen Landesgruppe bei den britischen Konservativen, das Rennen machen.

Sowohl Rudd als auch Davidson gelten als Modernisiererinnen und Reformerinnen. Beide wären geeignet, die Ära der EU-Streitereien bei den Tories, die noch während der Amtszeit Margaret Thatchers begonnen hat, zu beenden. Das starke Abschneiden der oppositionellen Labour Partei bei der jüngsten Unterhauswahl hat gezeigt, daß eine Mehrheit der britischen Bürger die neoliberale Austeritätspolitik mit Privatisierungen staatlicher Vermögenswerte und Steuererleichterungen für die Reichen satt hat. Um die nächsten Unterhauswahlen, die eher früher als später kommen könnten, zu gewinnen, müssen sich die Tories neu positionieren und zwar zukunftsfähig. Dies kann ihnen nur gelingen, wenn sie den internen Brexit-Streit beenden und in den Verhandlungen mit Brüssel zu für alle Seiten tragbaren Ergebnissen kommen. Sonst droht wirklich großes Ungemach. Die Republik Irland zum Beispiel hat bereits angekündigt, ihr Veto gegen jeden Deal zwischen Großbritannien und der EU einzulegen, der eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf der grünen Insel vorsieht.

22. Juli 2017


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