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PARTEIEN/342: Konfusion in London um Brexit und seine Folgen (SB)


Konfusion in London um Brexit und seine Folgen

Brexiteers blasen zur Hexenjagd auf die Gegner des EU-Austritts


In der britischen Wirtschaft macht sich die Verunsicherung über den geplanten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union breit. Das Pfund Sterling befindet sich auf Talfahrt. Investitionen gehen zurück. Und auch der Einzelhandel weist negative Zahlen aufgrund eines sich verschlechternden Konsumklimas auf. Am 25. Oktober hat sich auf der Tokioter Automesse Didier Leroy, der Stellvertretende Vorstandsvorsitzende des japanischen Konzerns Toyota, über den "Nebel" beschwert, der die Brexit-Verhandlungen Londons mit Brüssel umgibt, und statt dessen "Klarheit" verlangt. Toyota gehört zu den größten ausländischen Investoren in Großbritannien. In seiner Fabrik in Burnaston in der Grafschaft Derbyshire bauen 3000 Menschen rund 180.000 Autos pro Jahr - aktuell sind es die Modelle Auris und Avensis -, die zu 85 Prozent entweder auf das europäische Festland oder in die Republik Irland exportiert werden. Im nordwalisischen Deeside betreibt Toyota außerdem ein Motorenwerk mit 500 Beschäftigten.

Nach fünf Runden von Verhandlungen und auch dem jüngsten Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs am 19. und 20. Oktober weiß immer noch niemand, welche Form der Brexit annehmen wird. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, daß sich die konservative Minderheitsregierung von Theresa May in London bisher als unfähig erwiesen hat, die drei Fragen, welche die anderen 27 EU-Staaten vor der Aufnahme der eigentlichen Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen geregelt haben wollen, zu beantworten. Hier geht es erstens um die Begleichung der finanziellen Verpflichtungen Londons im Rahmen des EU-Haushalts, zweitens um die künftigen Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien sowie britischer Bürger in der EU und drittens darum, wie die Installierung einer festen Zollgrenze zwischen den 26 Grafschaften der Republik Irland und den sechs Grafschaften in Nordirland vermieden werden kann (wobei die meisten Experten die Lösung der letztgenannten Frage für unmöglich halten und deshalb für Zoll- und Personenkontrollen an den See- und Flughäfen plädieren).

Wegen der anhaltenden Unsicherheit haben die fünf wichtigsten Arbeitgeberorganisationen Großbritanniens - die Confederation of British Industry (CBI), die Engineering Employers Federation (EEF), die British Chambers of Commerce (BCC), das Institute of Directors und die Federation of Small Businesses (FSB) -, bei deren Mitgliedsfirmen Millionen von Menschen in Lohn und Brot stehen, in einem gemeinsamen Brief an den Brexit-Minister David Davis eine Übergangsphase von mindestens zwei Jahren nach dem eigentlichen EU-Austritt - der wegen Mays übereilter Aktivierung des Artikel 50 des Lissaboner Vertrags formell am 30. Januar 2019 erfolgen soll - und vor katastrophalen Auswirkungen für die Wirtschaft, sollte die Bitte ungehört verhallen. Dies berichtete am 23. Oktober die liberale Londoner Tageszeitung Guardian.

Doch leider zeigt sich Mays Kabinett, das zwischen den Brexiteers, also den Befürwortern eines "harten" Austritts aus EU, Binnenmarkt und Zollunion, und den Verfechtern eines "sanften" Brexit mit so wenig Veränderung wie möglich, zutiefst gespalten ist, für alle Warnungen und Ermahnungen taub. Beim Auftritt im Unterhaus am 24. Oktober hat May erneut mit einem Brexit ohne vorherige Einigung mit Brüssel gedroht und sich damit der Position derjenigen genähert, die aus Großbritannien eine einzige durch Lohndumping und niedrige Standards in den Bereichen Arbeitnehmerrechte und Umwelt gekennzeichnete Steueroase machen wollen. Die Vertreter diesen Kurses verstehen sich als die Erben Margaret Thatchers. Die haben nichts anderes als die Privatisierung staatlichen Vermögens an die Meistbietenden und Steuervergünstigungen für die Schwerreichen - zu denen sie in der Regel gehören - im Kopf.

Vor diesem Hintergrund war es kein Wunder, als Nigel Lawson, einst Finanzminister Thatchers, Mitte Oktober von May die Entlassung seines Nachfolgers als Schatzmeister, Philip Hammond, verlangte. Lawson, der als Life Peer im Oberhaus sitzt, warf Hammond vor, das Streben des britischen Volks nach Freiheit und Selbstbestimmung zu "sabotieren", weil er sich weigere, Vorbereitungen für einen "harten" Brexit zu ergreifen, und statt dessen all seine Energien für eine reibungsarme Transformation der Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur EU einsetze. Wörtlich nannte Lawson Hammond einen "Fanatiker".

Auch an anderer Stelle hat sich in den letzten Tagen der aggressive Chauvinismus der eurofeindlichen Brexiteers manifestiert. Am 23. Oktober machte sich die Angst vor einem britischen McCarthyismus breit, als bekannt wurde, daß der konservative Abgeordnete Chris Heaton-Harris per Brief von allen Universitäten des Landes die Namen von Professoren und Dozenten, die zum Thema Brexit referieren, verlangt hatte. Beim Interview mit BBC Radio 5 Live am 25. Oktober bezichtigte der katholisch-reaktionäre Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, der in Tory-Kreisen als potentieller Nachfolger Mays gehandelt wird, den kanadischen Chef der Bank of England, Mark Carney, ein "Feind des Brexits" zu sein, weil der oberste Währungshüter Großbritanniens seit Monaten vor den drohenden negativen Folgen des EU-Austritts warnt.

Wegen ihrer ideologischen Verblendung und Träume vom "Global Britain" legen die Brexiteers eine Sorglosigkeit in bezug auf die künftigen Beziehungen zur EU an den Tag, die erschreckend ist und bald bittere Folgen zeitigen wird. Bei einer Unterhausdebatte am 25. Oktober erklärte Brexit-Minister Davis in seiner gewohnt selbstherrlichen Manier, er erwarte, daß die Einigung über die Brexit-Modalitäten "in der 59. Minute der letzten Stunde" erzielt werde. Auf die Frage, ob er damit tatsächlich den späten Abend des 29. März 2019 meine, antwortete Davis mit Ja. Damit hat der für den Brexit zuständige Minister einen atemberaubenden Mangel an Kompetenz bezüglich des ihm anvertrauten Ressorts demonstriert. Noch am selben Tag mußten sowohl Premierministerin May als auch Davis' eigener Pressesprecher die irreführenden Angaben des Brexit-Ministers korrigieren. Weil das Parlament das letzte Wort über den Brexit-Deal hat, muß das Ergebnis der Verhandlungen mit Brüssel dem Unterhaus und dem House of Lords spätestens im Dezember 2018 zur Beratung vorgelegt werden. Gut möglich, daß die Parlamentarier den Brexit als Ganzes verwerfen werden. Das wissen die Brexiteers auch, weshalb sie um so erbitterter auf eine Polarisierung der öffentlichen Meinung setzen, um doch noch den eigenen Willen gegen allen gesellschaftlichen Widerstand durchzusetzen.

28. Oktober 2017


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