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AGRAR/1659: Virtueller Landraub (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2016

Kampf um Land
Lebensgrundlage, Ökosystem, Kapitalanlage

Virtueller Landraub
Wie viel Fläche verbrauchen wir wirklich?

von Marijana Todorovic


Der weltweite Handel mit Agrarprodukten nimmt immer weiter zu; mittlerweile ist die Europäische Union (EU) zum größten Importeur von Nahrungsmitteln aufgestiegen. Der Großteil dieser Produkte wird auf Nutzflächen in Ländern des Globalen Südens angebaut, in denen häufig Boden- und Ressourcenknappheit herrscht. Durch diesen sogenannten 'virtuellen Landraub' werden dortige Versorgungsproblematiken verstärkt.


Der Begriff 'virtuelles Land' bezeichnet die Nutzflächen, die sich hinter jenen Agrarprodukten verstecken, die außerhalb der eigenen Ländergrenzen produziert, aber innerhalb des Landes konsumiert werden. Diese Flächen befinden sich zwar nicht im Besitz des importierenden Landes, werden aber faktisch von ihm in Anspruch genommen. Diese Form des 'virtuellen Landraubs' findet in der Öffentlichkeit bisher wenig Aufmerksamkeit. Aus deutscher Perspektive bedeutet das, dass sich unsere Landfläche um einen virtuellen Teil vergrößert, der außerhalb unserer nationalen Grenzen liegt, aber zur Befriedigung unserer kontinuierlich steigenden Nachfrage an Nahrungsmitteln und Naturfasern benötigt wird. Für die Agrargüterproduzierenden Länder bedeutet dies, dass sie an Fläche verlieren, da sie ihre Ressourcen nicht zu Zwecken der eigenen Versorgung nutzen können. Zu wachsenden Ungleichheiten kommt es insbesondere dann, wenn die Menge der importierten Güter eines Landes die Exportmengen weit übersteigt und auf diese Weise global gesehen ein Ungleichgewicht an zur Verfügung stehenden natürlichen Ressourcen entsteht.

Während gängiger Landraub eine Praxis ist, die direkt mit der Inbesitznahme von Land durch meist ausländische Investoren und damit verbunden der faktischen Entrechtung der lokalen Bevölkerung und indigenen Gruppen einhergeht, ist virtueller Landraub nicht so leicht erkennbar. Im Fall von virtuellem Landraub greifen subtilere Mechanismen, die eine indirekte Enteignung der Bevölkerung bewirken. Diese Mechanismen ergeben sich aus dem Druck der zunehmend globalisierten Handelsströme und Handelsabkommen, welche insbesondere Entwicklungsländer dazu bewegen, ihre eigenen Ressourcen zu exportieren, anstatt sie selbst zu nutzen. Der Mehrwert des Begriffs 'virtueller Landraub' liegt also darin, dass bisher versteckte, indirekt ausbeuterische Prozesse sichtbar gemacht und thematisiert werden können. Virtueller Landraub ist somit ein zusätzlicher Faktor in der Verschärfung von Hunger und Nahrungsmittelknappheit.


Der ökologische Fußabdruck als Messinstrument

Ganz ähnlich funktioniert das Konzept des ökologischen Fußabdrucks. Dieses Konzept wurde in den 1990er Jahren entwickelt, um den virtuellen Flächenverbrauch zu messen, der sich aus unserem Lebensstil ergibt. Der Fußabdruck bildet die Größe der produktiven Fläche ab, die für die Produktion unserer Nahrungsmittel, Konsumgüter, aber auch für unseren Energiebedarf und sonstigen Verbrauch natürlicher Ressourcen in Anspruch genommen wird. Ausgedrückt wird diese Fläche in 'globalen Hektaren' (gha).

Für die Berechnung der gha werden allerdings nicht nur primär genutzte Agrarflächen berücksichtigt. Auch Waldflächen, die der Bindung von CO2 oder der Holzproduktion dienen, Weideland für die Viehhaltung, Fischgründe, sowie bebaute Flächen für Infrastrukturmaßnahmen werden in die Kalkulation mit einbezogen. Dieser Wert wird wiederum mit den vorhandenen natürlichen Ressourcen und der regenerativen Kapazität der Natur gegengerechnet, woraus sich die Produktivität von einem Hektar Land (= 1 gha) ergibt.

Die Tatsache, dass die einbezogenen Kriterien sich nur auf den Ressourcenaspekt von Landnutzung fokussieren, wird an diesem Konzept jedoch häufig kritisiert. Zudem wird keine Unterscheidung zwischen nachhaltiger und nicht nachhaltiger Landwirtschaft getroffen. Auch wenn der ökologische Fußabdruck die Inanspruchnahme der Flächen miteinberechnet, von denen bei virtuellem Landraub die Rede ist, konzentriert er sich vor allem auf Ressourcen und weniger die versteckten, aber fatalen Folgen, die unser westlicher Lebensstil für die soziale und wirtschaftliche Situation der Menschen in den Ländern des Globalen Südens hat.


Globale Verteilungsproblematik

Der Mensch beansprucht momentan nach dem Konzept des ökologischen Fußabdrucks im weltweiten Durschnitt 2,7 gha, in Deutschland sind es sogar 4,4 gha - das entspricht einer Fläche von zweieinhalb Erden. In Bangladesch hingegen benötigen die Menschen nur 0,7 gha, also nicht einmal die Hälfte der theoretisch verfügbaren Fläche.[1]

Die von der EU importierten Agrarerzeugnisse werden nicht nur als direkte Nahrungsquelle verwendet. Im Fall von Getreide beispielsweise umfasst dieser Anteil sogar nur knapp die Hälfte der produzierten Menge. Ein Drittel wird zu Tierfutter verarbeitet, der Rest wird für industrielle Erzeugnisse und Biotreibstoff genutzt.[2] Die in den letzten Jahrzehnten stark angestiegene Nachfrage nach Fleisch und tierischen Produkten fällt hier besonders ins Gewicht. Ein Drittel der gesamten nutzbaren Landfläche auf der Erde wird direkt oder indirekt für die Tierhaltung beansprucht.[3] Da Futtermittelproduktion im Vergleich zum Anbau pflanzlicher Lebensmittel einen deutlich höheren Flächenbedarf hat, wird die globale Nahrungsmittelknappheit dadurch zusätzlich verschärft.

Ein konkretes Beispiel ist Palmöl. Palmöl findet sich heutzutage in zahlreichen Lebensmitteln und Konsumgütern, wie Back- und Süßwaren, Kosmetika und Waschmitteln. Die hierfür aufgrund der steigenden Nachfrage in der EU virtuell importierte Fläche hat sich von 2000 bis heute von 1 auf 2 Millionen Hektar verdoppelt. In den Ländern der beiden größten Palmölexporteure Indonesien und Malaysia gefährdet die Palmölproduktion nicht nur die Biodiversität, sondern schränkt auch die Landrechte der Bevölkerung, der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und indigener Völker ein.[4]


Die Europäische Union als Importriese

Die EU ist in den letzten Jahren zum weltweit größten Importeur von Nahrungs- und Futtermitteln aufgestiegen. Sie nutzt momentan Ackerflächen in anderen Ländern von 35 Millionen Hektar ausschließlich für den Import von Agrarprodukten. Das entspricht etwa der Fläche von Deutschland. [5] Dies ist insofern problematisch, als dass es weltweit kaum noch ungenutzte Flächenressourcen gibt, durch die man der steigenden Nachfrage an Nahrungsmitteln, Biotreibstoff und Konsumpräferenzen noch gerecht werden könnte.

Um virtuellem Landraub einen Riegel vorzuschieben, muss folglich in erster Linie der Import von Agrarprodukten in die EU reguliert werden. Die Maßnahmen hierfür unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen, die in Verbindung mit der europäischen Agrarpolitik bereits von Seiten der Zivilgesellschaft gefordert werden.

Erstens muss der Anbau von heimischen Eiweißfuttermitteln durch EU-Subventionen gestärkt werden. Kleegras, Lupin und Soja können ebenso auf europäischen Böden angebaut werden. Eine mögliche Maßnahme wäre die Knüpfung von EUDirektzahlungen aus den Töpfen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) an landwirtschaftliche Betriebe, die in Eiweißpflanzenanbau investieren. So würde ein zusätzlicher Anreiz geschaffen und die Unterstützung der Landwirte bei einer solchen Umgestaltung gesichert werden.

In diesem Zusammenhang sollten insbesondere kleinbäuerliche Organisationen gestärkt werden. In Niedersachsen gibt es beispielsweise bereits ein lokales Eiweißpflanzenprojekt (EFN), das den heimischen Eiweißpflanzenanbau stärkt und gleichzeitig die Vernetzung von Akteuren von Züchtung, Anbau, Verarbeitung, Handel und VerbraucherInnen fördert. Solche lokalen Projekte müssen höhere Aufschläge von der EU erhalten.

Ein dritter wichtiger Punkt ist der Schritt weg von Milliardensubventionen für die industrielle Massentierhaltung hin zur Förderung ökologischer Kleinbetriebe. Die EU muss schärfere Vorschriften für die Haltung und Fütterung der Tiere in großen Mastfabriken etablieren und solche Ansätze finanziell unterstützen, die mit selbst erzeugten Eiweißfuttermitteln auskommen.

Abgesehen von Veränderungen in ihren landwirtschaftlichen Strukturen, muss die EU auch in den Agrargüter-produzierenden Ländern selbst aktiv werden und im Rahmen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit die Rechte von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern stärken und der Privatisierung von Böden durch GroßgrundbesitzerInnen entgegenwirken.

Zu guter Letzt müssen wir VerbraucherInnen unseren ausufernden Lebensstil überdenken. Auch hier kann zwar von politischer Seite aus beispielsweise durch das Angebot von regional produzierten Lebensmitteln in Kitas, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen ein wichtiger Impuls ausgehen. Zusätzlich dazu muss aber jede und jeder Einzelne ihr und sein Ernährungs- und Konsumverhalten verantwortungsvoller gestalten. Insbesondere durch den Verzehr weniger tierischer Produkte, aber auch durch den Kauf von regional und saisonal angebotenen Produkten sowie Produkten aus fairem Handel, kann der persönliche Flächenverbrauch reduziert werden.


Die Autorin ist Mitarbeiterin im Forum Umwelt und Entwicklung.


Anmerkungen:

[1] http://www.fussabdruck.de/oekologischer-fussabdruck/ueber-den-oekologischen-fussabdruck/.

[2] Brot für die Welt (2012). Wenn das Land knapp wird - Was haben Biosprit und Tierfutter mit Hunger zu tun?

[3] WWF Deutschland (2011). Fleisch frisst Land.

[4] Böll/IASS/BUND/Monde Diplomatique (2015). Bodenatlas.

[5] Witzke, Harald von/Noleppa, Steffen (2010). EU agricultural production and trade: Can more efficiency prevent increasing 'land-grabbing' outside of Europe?


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 1/2016, Seite 19-20
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2016

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