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BERICHT/050: Gottfried Wilhelm Leibniz - Gott war für ihn die 1 (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 2/2008

Gott war für ihn die 1
Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte die Differential- und Integralrechnung, die erste Rechenmaschine und das binäre Zahlensystem

Von Ruth Kuntz-Brunner


Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) gilt als einer der letzten Universalgelehrten und Ideengeber der Aufklärung. Entscheidend für das Universum seines Denkens jedoch war immer wieder die Mathematik als Herausforderung des Geistes an sich und als Schlüssel zu Philosophie und Physik, aber auch zur Technik. In diesem Sinne war Leibniz ein genuiner Mathematiker.


Krumm hielt er sich, sprach meist undeutlich und allzu leise, war etwas linkisch, doch stets getrieben von einem unheimlichen Arbeitswillen. Das Genie Leibniz hatte weder Charme noch Charisma. In seinem Denken aber erschließt er sich in fast sinnlicher Weise die Welt als ein nach Vollkommenheit strebendes System, in dem alles von allem abhängt. Von Latein verstand der studierte Jurist ebenso viel wie von der Natur. Doch es war die Mathematik, die ihn zu visionären Welterkenntnissen inspirierte. Und er fand Wege dahin, deren Klarheit und Eleganz noch heute bewundert werden.

"Nicht leicht dürfte einem in der Natur etwas begegnen, das ein schöneres und anschaulicheres Bild böte von der Schöpfung aller Dinge, die Gott aus dem Nichts geschaffen hat", schrieb er 1687 an den Jesuiten Claudio Filippo Grimaldi. Heute, im Zeitalter des Computers, mag es überraschen, dass diese hymnischen Worte dem Binärsystem gelten. Tatsächlich aber wirft Leibniz' Verhältnis zu der von ihm eingeführten Dyadik ein erstaunlich erhellendes Licht auf sein Wesen, seine Weltsicht und Weltdeutung.

Das System 0 und 1 offenbarte Leibniz eine Ahnung der Schöpfung aller Dinge aus dem Nichts. In dieser "Imago creationis" gehört der Geist Gottes zur 1, die Leere oder das Nichts zur 0, der "wüsten Finsternis". Der Ursprung dieses Zahlensystems symbolisierte für ihn das "Geheimnis der Schöpfung" schlechthin. Mehr noch: Er wollte mit dem dualen System auch die Genesis "beweisen". So schrieb er in einem Brief an den Missionar Bouvet, dass am Anfang des ersten Tages die 1 war, also Gott. "Schließlich zu Beginn des siebten Tages war schon alles da; deshalb ist der letzte Tag der vollkommenste und der Sabbat, denn an ihm ist alles geschaffen und erfüllt, und deshalb schreibt sich die sieben 111, also ohne Null."

Leibniz hatte die Dyadik während seines Pariser Aufenthalts 1674 bis 1676 wohl spontan entwickelt, wie der Leibniz-Biograf Eike Christian Hirsch vermutet. Die Ersterfindung allerdings wird Thomas Hariot (1560-1612) zugeschrieben. Die Darstellung der Dualzahlen und die entsprechende Formulierung der Grundrechenarten im eigentlichen Sinne aber entwickelte Leibniz. Und so erkannte auch nur er, dass die Realisierung von Rechenoperationen in diesem System "deutlich einfacher und schneller durchzuführen sind", wie Peter Pirsch, Professor an der Leibniz-Universität Hannover, feststellt. Als erster und lange vor der Computerzeit konnte Leibniz also das Potenzial der Dyadik abschätzen - auch für den Bau von Rechenmaschinen. Und weil er bemüht war, die Theorie in der Praxis wirken zu lassen, beschrieb er auch gleich eine "Machina arithmeticae dyadicae", die, wie heutige Nachbauten beweisen, prinzipiell funktioniert hätte.

Die Geschichte von Leibniz und dem dyadischen System zeigt exemplarisch den Mathematiker Leibniz als scharfsinnigen Visionär. Die Mathematisierung des Denkens, "Characteristica universalis", war denn auch, wie er 1675 schrieb, eines seiner Lieblingsprojekte.

In jener Zeit arbeitete Leibniz an der Infinitesimalrechnung (Oberbegriff für Integralund Differentialrechnung) und damit an einer Thematik, die zeitgenössische Mathematiker umtrieb. Sie suchten nach einer Methode, Geschwindigkeit und Bewegung eines Körpers zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen oder auch die Länge von Kurven, Flächeninhalte und Volumina. Einzelne Probleme hatten sie bereits gelöst. Noch aber gab es keine "Methode auf höherer Abstraktionsstufe". Erst Leibniz hat eine elegante Schreibweise gefunden, den "Calculus", wie er es nannte.

Mit dieser Symbolsprache hatte Leibniz eine Form gefunden, die Erkenntnis an sich war. Befreundete Mathematiker, wie der begabte von Tschirnhaus, erkannten das Revolutionäre daran erst nicht. Sie hielten es vielmehr für eine Spielerei, so wie sie auch den Transmutationssatz eingeschätzt hatten. Es kam noch deprimierender. Die Infinitesimalrechnung wurde zur vielleicht schmerzvollsten Geschichte in Leibniz' Gelehrtenleben. Die Kontroverse führte zu tiefen Verwerfungen zwischen den größten Denkern des 17. Jahrhunderts und dauerte bis ins 20. Jahrhundert. Immer wieder wurde behauptet, Leibniz hätte bei Newton abgekupfert. Heute aber gilt: Newton hat zwar seine Theorie vor Leibniz entwickelt. Doch Leibniz hat seine Entdeckungen "nachweislich selbstständig gemacht und auch früher veröffentlicht", wie Wolfgang Ebeling und Klaus Hulek, Professoren an der Leibniz-Universität Hannover bestätigen. Und: "Sein Kalkül hat sich gegen Newtons 'Fluxionen' durchgesetzt." Dadurch beeinflusste Leibniz die Entwicklung der Mathematik entscheidend.

Erfreulicher ist die Geschichte von Leibniz und der Zahl Pi. Diese vielleicht faszinierendste Entdeckergeschichte beleuchtet die herausragende Begabung des Gelehrten, elegante Wege zu entdecken, wo andere Mauern erkletterten. Bei der Zahl Pi war Leibniz der Einzige überhaupt, der ihr Geheimnis für kurze Zeit lüftete. Abgeleitet aus seinem damals neuen Transmutationssatz zur Flächenbestimmung zeigte er, dass Pi, "wenn man sie zunächst einmal durch vier teilt, einer verblüffend einfach gebauten Summe entspricht": Pi/4 = 1/1 - 1/3 + 1/5 - 1/7 + 1/9.... unendlich. Diese "Leibniz-Reihe" verlangt den Mathematikern bis heute tiefen Respekt ab. Selbst mit modernsten Superrechnern ist der "unheimlichen und unfassbaren" Zahl Pi bisher niemand mehr so nahegekommen.

Sein geniales Denken und sein untrüglicher Blick für das Ästhetische der geistigen Welt ließen Leibniz zwar in die Mystik der Mathematik schauen. Ein Mystiker aber war er nicht, auch wenn seine zahlenbasierten Welterklärungen auf Anhieb so anmuten mögen. Eher ein moderner Mathematiker und altmodischer Metaphysiker. Einer, dessen Harmoniedenken daran erinnert, was Aristoteles in seiner Metaphysik schrieb: "Der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl." Eine Harmonie aber, die nicht in versklavendem Determinismus endet. Denn anders als viele Wissenschaftler seiner Zeit, etwa Baruch Spinoza, die reine Gesetzmäßigkeit in der Natur walten sahen, verfiel Leibniz nicht diesem mechanistischen Weltbild. Determinismus war für ihn göttlich, auch wenn die Natur mechanistisch war und er in der Ratio schier unbegrenzte Möglichkeiten sah. Logisch argumentierend überwand er den vordergründigen Widerspruch und rettete mit seiner Argumentation die "Freiheit des Menschen". Hier argumentierte Leibniz aus der Welt der Mathematik, in der Ästhetik und Denkfreiheit Gesetz sind, näher den Geistes- als den Naturwissenschaften.

Eine Leistung, die auch in der heutigen Debatte zur menschlichen Willensfreiheit aktuell ist. Leibniz' Bemühen allerdings, aus der Theorie praktische Anwendungen zu entwickeln - etwa die Nutzung von Windkraft im Harzer Bergbau -, scheiterten aus vielerlei, nicht-fachlichen Gründen. Oft handelte er weltfremd und bar jeder Menschenkenntnis. Letztlich betrachtete er die Praxis aber ohnehin aus theoretischer Sicht: Eine gute Theorie hatte in der Praxis zu funktionieren.

Seinen philanthropischen Impetus setzte er gar nicht erst dem Praxistest aus. Er hatte weder Familie noch viele Freunde, suchte aber stets die Nähe der Fürstenhäuser, die er beraten wollte - zum Wohle der Menschheit. Das erschien ihm als eigentliche Lebensaufgabe, obwohl die Mathematik, wie seine zahllosen Entdeckungen zeigen, seine wohl genuine geistige Heimat war.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 2/2008, Seite 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2008