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BERICHT/149: Im Internet - russische und deutsche Geschichte (Uni Erlangen-Nürnberg)


uni.kurier.magazin - 108/September 2007
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Neuvermessung des letzten Jahrhunderts
Schlüsseldokumente zur russischen und zur deutschen Geschichte im Internet

Von Lilia Antipow


Mitte Dezember 1986 berichtete Radio Moskau, in der UdSSR werde eine neue Informationspolitik betrieben. Die Partei fordere alle Massenmedien auf, nichts zurückzuhalten und in der Berichterstattung über das politische, wirtschaftliche und soziale Leben der sowjetischen Gesellschaft mit allen Tabus aufzuräumen. War die Geschichte davon auszunehmen? Im Februar 1987 war es Gorbatschow selbst, der seine frühere Zurückhaltung aufgab. Bei einem Treffen mit fahrenden Medienvertretern überraschte er mit der lapidaren Feststellung: Man müsse auch die Geschichte sehen, "wie sie ist", "vergessene Namen" und "weiße Flecken" dürfe es nicht mehr geben, weder in der Literatur noch in der Geschichte. Die Revolution im Denken, im Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, die er auslöste, förderte und begünstigte, kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Überall sah man sich mit ihren Themen konfrontiert: im Fernsehen, im Kino, auf der Bühne. Tageszeitungen griffen sie, erstmals um das Leserinteresse konkurrierend, auf; Illustrierte stellten ihre eigenen Recherchen an; Zeitzeugen, Betroffene meldeten sich hier wie dort zu Wort; in den "dicken Journalen" stieß man auf ihre literarische Verarbeitung.

Der gescheiterte Putschversuch im August 1991, dem kaum eine halbes Jahr später die Auflösung der Sowjetunion folgte, bedeutete dann einen weiteren Dammbruch in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte. Dekrete des russischen Präsidenten Jelzin verboten der Kommunistischen Partei in Russland jede weitere Tätigkeit, bis eine Untersuchung ihre Rolle beim Putsch geklärt hatte. Sie nationalisierten das Parteivermögen und übergaben es zur treuhändlerischen Verwaltung den jeweiligen Orts- und Gebietssowjets. Für das Zentrale Parteiarchiv, die Handakten der Allgemeinen Abteilung des Zentralkomitees und die regionalen Parteiarchive (einschließlich aller Baulichkeiten und des Personals) sollten künftig die staatlichen Archivverwaltungsstellen Russlands zuständig sein. Die Begründung hierfür lautete: weil die Partei de facto als Teil des Staatsapparates fungiert hatte, müssten auch die daraus hervorgegangenen Dokumente in die Obhut des Staates übernommen werden. Die Moskauer Stadtverwaltung ließ die Parteizentrale (das ZK-Gebäude am "Alten Platz") versiegeln, um einer Vernichtung von Aktenbeständen vorzubeugen. Gesetze und Verordnungen zur Rehabilitierung aller politischen Opfer seit dem Tag der Oktoberrevolution, zur Erschließung und Deklassifizierung von Archivbeständen folgten.

Was als vorsichtige "Tilgung weißer Flecken" begonnen hatte, stellte sich nun als gigantisches Projekt - als Neuvermessung der sowjetischen Geschichte nach ihrem Ende - dar. Die Zielsetzung, diese Diskussion und ihre Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, von dem, was weiterhin gilt, und von dem vielen, was sie neu zutage brachte und zutage bringt, zu berichten, stand am Anfang der hier vorgestellten Internet-Edition.

Ihre Initiatoren schlugen vor, dies an ausgewählten Schlüsseldokumenten der russischen und sowjetischen Geschichte zwischen 1917 und 1991 zu versuchen, an ihrem Beispiel Weichenstellungen der Entwicklung von Partei und Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu illustrieren und dabei zugleich in den Stand ihrer Erforschung einzuführen. Ein kurzer Vorspann (Abstract) sollte das Dokument vorstellen und erklären, wofür es ein Schlüsseldokument ist; danach ein (drei- bis fünfseitiger) Kommentar in das Dokument, sein thematisches Umfeld und den Forschungsstand einführen, mit ergänzenden Hinweisen auf weiterführende Quellen und Literatur; schließlich sollte das Dokument selbst folgen, als Typoskript (Volltext) und als Faksimile (Image). Als Kommentatoren waren fachlich entsprechend ausgewiesene deutschsprachige wie russische Historiker zu gewinnen. Alle Texte (Dokumente wie Kommentare) sollten zweisprachig (deutsch und russisch) präsentiert werden und ein Glossar für die Klärung von Begriffen und die Vorstellung von Personen sorgen. Es wurde angeregt, die Dokumentation mit der Entwicklung des Staates, seiner politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundordnung sowie seiner Außenpolitik zu beginnen, danach rasch auch andere Felder der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung einzubeziehen. Eine erste vorläufige Liste machte deutlich, an welche "100(0) Schlüsseldokumente" dabei gedacht wurde. Die Zahl 100 sollte signalisieren, dass es sich dabei nur um eine begrenzte Anzahl handeln konnte, die dritte Null in Klammern auf die prinzipielle Offenheit der Sammlung verweisen. Bei den Dokumenten war zunächst an "Texte" im herkömmlichen Sinne gedacht, doch sollten beim weiteren Ausbau dem Medium entsprechend auch Bilder sowie Audio- und Videodokumente in die Edition aufgenommen werden.

Das Konzept wurde in der deutsch-russischen Historikerkommission positiv aufgenommen, die Federführung dem Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg und dem Institut für Allgemeine Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften (Moskau) übertragen. Im Frühsommer 2001 unterzeichneten die Leiter der beiden Institutionen, Prof. Dr. Helmut Altrichter und Akademiemitglied Prof. Dr. Aleksandr Cubar'jan, in Moskau eine entsprechende Absichtserklärung. In Vorgesprächen hatte sich die Bayerische Staatsbibliothek München bereit erklärt, die technische Umsetzung zu übernehmen und die kommentierten Dokumente auf ihrem Server bereitzustellen. Vertreter der Archive sagten zu, Faksimiles für die Internetedition zur Verfügung zu stellen. In Erlangen wurde, mit Projektmitteln des Bundesministeriums des Innern, eine kleine Kopfstelle für die redaktionelle Betreuung der Beiträge eingerichtet, die mit Lilia Antipow M. A. besetzt wurde. In Moskau übernahmen die Koordinierung Prof. Dr. Aleksandr Subin und Prof. Dr. Viktor Iscenko. Die Moskauer Kollegen wirkten bei der Auswahl der Dokumente ebenso mit wie bei der Einwerbung von Kommentaren; sie leisteten darüber hinaus wertvolle Mithilfe bei der Bereitstellung von Faksimiles durch russische Archive.

Im Herbst 2001 wurden die ersten 20 Dokumente zur Kommentierung an Fachkollegen, von deren Bereitschaft zur Mitarbeit das Projekt abhängig war und blieb, mit der Bitte vergeben, ihre Texte binnen Jahresfrist fertigzustellen. Obwohl nicht alle Zusagen eingehalten wurden, wuchs die Edition bis zum Frühjahr 2007 auf über 80 kommentierte Dokumente. Wie geplant gehören dazu alle Verfassungen Sowjetrusslands (wie z. B. die Stalin-Verfassung von 1936), wichtige Staatsgrundgesetze (wie z. B. das Dekret über den Grund und Boden), Schlüsseldokumente zu den deutsch-russischen Beziehungen (wie z. B. der Friedensvertrag von Brest-Litovsk 1918), aber auch wichtige Manifestationen zur Ausbildung des sowjetischen Systems und der Kritik an ihm (wie z. B. die Resolution der Kronstädter Matrosen 1921).

An der Kommentierung wirkten über 30 deutsche und russische Historiker mit, wobei - gemessen an der Anzahl der Kommentare - der Anteil beider Gruppen ziemlich ausgeglichen ist. Faksimiles stellten das Russländische Staatliche Archiv für Politik- und Sozialgeschichte (RGASPI), das Staatliche Archiv der Russländischen Föderation (GARF), das Russländische Staatliche Archiv der Neuesten Geschichte (RGANI), das Archiv der Außenpolitik der Russländischen Föderation (AVP RF), das Staatliche Zentrale Museum der Zeitgeschichte Russlands (GCMSIR), alle Moskau, sowie das Bundesarchiv (BArch) und das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), beide Berlin, zur Verfügung. Alle Dokumente liegen wie geplant zweisprachig vor (was inzwischen auch für die Mehrzahl der Einführungen und Kommentare gilt). Erstmals wurden in der jüngsten Marge auch Filmszenen aufgenommen (wie z. B. die durchaus ambivalente Charakterdarstellung des historischen Alter Ego Stalins in Eisensteins "Iwan der Schreckliche." 1943/45).

Der Fortgang der Edition ließ den Plan zu einem Parallelprojekt "Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts" entstehen; sein Aufbau (Vorspann, Kommentar, Quellen- und Literaturhinweise, Dokument als Volltext, Dokument als Faksimile, Hintergrundsglossar) sollte mit dem russischen identisch sein. Die Anregung ging von den russischen Kollegen in der deutsch-russischen Historikerkommission aus. Der Erlanger Lehrstuhl wurde gebeten, dafür eine entscheidungsreife Vorlage zu erarbeiten. Bei der Erstellung einer vorläufigen Dokumentenliste versicherte er sich der Mithilfe von ausgewiesenen Fachkollegen. Für ihre Unterstützung bei der Quellenauswahl sei Prof. Dr. Andreas Wirsching (Universität Augsburg) für die Zeit der Weimarer Republik, Dr. Volker Dahm, Dr. Christian Hartmann und Dr. Dieter Pohl (alle: Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin) für die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, Privatdozent Dr. Manfred Kittel und Prof. Dr. Udo Wengst (beide Institut für Zeitgeschichte München und Universität Regensburg) für die Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1969/72 und Prof. Dr. Andreas Rödder (damals Universität Stuttgart, jetzt Universität Mainz) für die Jahre zwischen 1969 und 1990/92 herzlich gedankt. Die mit ihrer Hilfe erstellte Vorschlagsliste von über "100(0) Schlüsseldokumenten zur deutschen Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg" ging im Frühjahr 2002 den beiden Kommissionsvorsitzenden (Prof. Dr. Horst Möller/München-Berlin und Prof. Dr. Aleksandr Cubar'jan/Moskau) sowie Prof. Dr. Jakov Drabkin/Moskau zu, der das Projekt maßgeblich mit angeregt hatte. Einwände wurden dagegen nicht erhoben, der Erlanger Lehrstuhl mit der Federführung betraut und das Vorhaben als Gemeinschaftsprojekt des Instituts für Geschichte der Universität Erlangen-Nürnberg und des Instituts für Allgemeine Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften in die Agenda der deutsch-russischen Historikerkommission aufgenommen. Das Bundesministerium des Innern stellte Projektmittel in Aussicht.

2004 konnte mit einer ersten Marge begonnen werden. Mit den Projektmitteln der Kommission war es möglich, für jeweils zwei, drei Monate pro Jahr eine Redaktionsstelle zur Betreuung des Projekts einzurichten (in ihr waren nacheinander tätig: Dr. Jaromir Dittmann-Balcar, jetzt Universität München; Dr. Patrick Bernhard, jetzt DHI Rom; Ariane Leendertz). Außerdem konnten Faksimiles angefertigt und gegebenenfalls Publikationsrechte erworben und mithilfe von Sondermitteln Übersetzungen von Dokumenten und Kommentaren in Auftrag gegeben werden. Ebenso wichtig, ja noch wichtiger war, dass auch hier viele Fachkollegen zur (unentgeltlichen) Mitarbeit bereit waren und die Kommentierung von Dokumenten übernahmen. Bisher waren es weit über 40 Historiker und Historikerinnen, und das ist in etwa auch die Zahl der Dokumente, die inzwischen kommentiert und in Übersetzung vorliegen und auf dem Server der Bayerischen Staatsbibliothek präsentiert werden sollen. Auch im "deutschen Projekt" wurde versucht, zunächst mit Staatsgrundgesetzen (wie z. B. die Weimarer Reichsverfassung 1919) sowie Weichenstellungen der Außenpolitik (wie z. B. der Rapallo-Vertrag 1922) zu beginnen und Eckdaten wie zentrale Manifestationen der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands zu dokumentieren.

Ab Herbst 2007 steht das Projekt "100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917-1991)" im Internet unter der Adresse:
http://mdzx.bib-vb.de/1000dok/start.html zur Verfügung,
das Projekt "100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert" unter der Adresse:
http://mdzx.bib-bvb.de/de1000dok/start.html.

Informationen:
Prof. Dr. Helmut Altrichter
Tel.: 09131/85-22363
htaltric@phil.uni-erlangen.de

Lilia Antipow
Tel.: 09131/85-29336
laantipo@phil.uni-erlangen.de


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Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 108/September 2007, S. 82-86
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2008