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BERICHT/153: Das große Schlachten in den Metropolen ist vorbei (idw)


Technische Universität Berlin - 05.05.2008

TUB: Das große Schlachten in den Metropolen ist vorbei

Die Viehhöfe von Paris, Berlin und Chicago sind Symbole der Urbanisierung. Mittlerweile sind sie aus der Stadt verschwunden.


Etwa 60 Kilogramm Fleisch isst der Berliner im Jahr, aber ein Schlachthof, wo all das Vieh geschlachtet wird, existiert nicht mehr in der Stadt. Gleichwohl findet das massenhafte Töten der Tiere statt, aber außerhalb Berlins.

"Das war einmal anders", sagt Dorothee Brantz, "noch im 18. Jahrhundert waren Rinder, Schweine und Schafe auf den Straßen der europäischen Städte allgegenwärtig, obwohl der Großteil der Bevölkerung sich Fleisch nicht leisten konnte. Heute hingegen ist Fleisch überall erhältlich, doch aus dem Stadtbild ist das Schlachtvieh verschwunden. Dieser Wandlungsprozess und dessen Bedeutung für die Beziehung von Mensch und Tier in großen Metropolen hat mich interessiert."

Die junge Wissenschaftlerin, die jüngst von der State University in New York an das Zentrum für Metropolenforschung der TU Berlin kam und nun als Juniorprofessorin Neuere Geschichte und Stadtgeschichte lehrt, hat untersucht, welche Rolle die Schlachthöfe für die Urbanisierung von Paris, Berlin und Chicago spielten.

Bei ihren Forschungen stieß Brantz auf ein interessantes Phänomen: Die Tiere wurden im städtischen Raum im Laufe der Jahrhunderte zwar immer unsichtbarer, in den gesellschaftlichen Debatten dafür immer präsenter. "An den Schlachthöfen und den Problemen, die mit ihnen einhergingen wie verdorbenes Fleisch, Umweltverschmutzung und Tierquälerei, entbrannten im 19. Jahrhundert in Europa unzählige Debatten um Hygiene und Gesundheit, um Tierschutz und die Rationalisierung des Tötens. Diese Debatten waren davon bestimmt, eine Lösung zu finden für das komplexe Problem, wie die rapide wachsende städtische Bevölkerung ausreichend mit Fleisch versorgt werden kann bei gleichzeitiger Gewährleistung ihrer Gesundheit und ohne die Tiere unnötig zu quälen", so Brantz. Gemeinsam ist den Schlachthöfen, dass ihre Geschichte eng mit dem Aufstieg der drei Städte zu modernen Metropolen, dem damit einhergehenden Massenkonsum und der Mensch-Tier-Beziehung verbunden ist, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.

In Berichten über Paris Ende des 18. Jahrhunderts liest Dorothee Brantz von Blut, das die Rinnsteige in Bächen hinabfloss, und Schlachtabfällen, die einen infernalischen Gestank verbreiteten, aber auch vom zunehmenden Unmut der Pariser angesichts dieser Zustände. In Folge dessen veranlasste Napoleon 1810 den Bau der ersten modernen städtischen Schlachthäuser Europas vor den Toren von Paris. "Dieser Wechsel von der privaten in die kommunale Zuständigkeit war damals revolutionär", betont Brantz. Alle Schlachter mussten sich dort einmieten, in den Hinterhöfen durfte nicht mehr geschlachtet werden. Doch das Problem der Umweltverschmutzung wurde nicht gelöst. Erst 60 Jahre später, 1867, erfolgte mit dem Bau des zentralen Vieh- und Schlachthofes "La Villette" der Anschluss an Wasser und Kanalisation. Gleichzeitig wurde er noch weiter in die Peri-pherie der Stadt gerückt. Aber auf der Höhe der Zeit war Paris mit diesem Schlachthof nicht. Weder wurde das Vieh vor dem Schlachten untersucht, noch das Fleisch danach kontrolliert. Paris verlor seine Vorbildfunktion.


In Detroit werden Autos am Fließband zusammengesetzt, in Chicago wird Fleisch am Fließband zerlegt

Diese Vorbildfunktion übernahm Berlin. Zwar war auch in Berlin der Wille, die hygienischen Verhältnisse in der Stadt zu verbessern, ein treibendes Motiv, einen städtischen Vieh- und Schlachthof zu bauen, aber noch drängender war das Problem, Vieh und Fleisch zu kontrollieren. Denn in der Human- und Veterinärmedizin hatte die Wissenschaft wichtige Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Mensch und Tier aufgedeckt. Die vermehrt aufgetretenen Fälle von Trichinose im Schweinefleisch veranlassten zudem Reformer wie Rudolf Virchow, den Bau öffentlicher Schlachthöfe zu fordern. Der Verzehr des von Parasiten befallenen Fleisches hatte zu unzähligen Todesfällen geführt. Das Wegweisende an dem 1881 an der Landsberger Allee eröffneten "Central-Vieh- und Schlachthof" war, dass Vieh und Fleisch nun erstmals von Tierärzten untersucht und gegebenenfalls auf einem speziell eingerichteten Seuchenhof entsorgt wurden. Es war die Geburtsstunde der Fleischbeschau. Damit trug der Schlachthof den neuen hygienischen und medizinischen Anforderungen Rechnung. Gleichzeitig wurde der Umgang mit den Tieren, besonders deren Tötung, auf höchster politischer Ebene - im Reichstag - verhandelt.

Ganz anders verlief die Entwicklung Chicagos. Durch die Eröffnung der Vieh- und Schlachthöfe, der sogenannten "Union Stockyards" 1865 wurde aus einem bis dahin kleinen Provinzstädtchen erst eine riesige Metropole. Und während in Europa das Schlachten ein Handwerk blieb und dieses in die enorm wachsenden Metropolen integriert werden musste, entstand in den "Stockyards" eine ganz neue Art der Fleischherstellung, die in vielerlei Hinsicht die industrielle Massenproduktion beeinflusste: Dass in Chicago die Tiere am Fließband zerlegt wurden, inspirierte Henry Ford, Autos in Detroit am Fließband zusammensetzen zu lassen.

"Hygiene, humane Arbeitsbedingungen und Tierschutz standen in den Stockyards weniger im Vordergrund, sondern es ging darum, so viel wie möglich, so schnell wie möglich zu schlachten und zu verkaufen. Das Fleischerhandwerk wurde in einen profitorientierten Markt integriert", resümiert Dorothee Brantz. Die Gier machte erfinderisch. So entwickelten Chicagos Fleischmagnaten die ersten Kühlwagons, weil es sich als profitabler erwiesen hatte, Fleisch zu transportieren anstatt Vieh.

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Technische Universität Berlin, Dr. Kristina R. Zerges, 05.05.2008
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2008