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BERICHT/181: Historiker analysiert Stadtentwicklung von Minsk (idw)


Ludwig-Maximilians-Universität München - 05.12.2008

Im "Freilichtmuseum des Sozialistischen Realismus":
LMU-Historiker analysiert Stadtentwicklung von Minsk


"Sonnenstadt des Sozialismus" - mit diesem Etikett zierte sich Minsk in der Zeit der Sowjetunion. Zwar wurde der Sozialismus sowjetischer Prägung ab 1991 erst einmal ad acta gelegt, doch blieben auch in der weißrussischen Stadt die in seinem Namen errichteten Gebäude übrig. Thomas Bohn, Professor für Geschichte Osteuropas im Elitestudiengang Osteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, wollte mehr über die Stadtentwicklung der weißrussischen Metropole herausfinden.

Ihn interessierte neben der städtebaulichen Planung vor allem, welche sozialgeschichtlichen Entwicklungen mit dem Aufbau Minsks zur "sozialistischen Musterstadt" verbunden waren. Das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Untersuchung ist nun in dem Band "Minsk - Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945" nachzulesen.

Weißrussland war vor dem Krieg ein Agrarland: 80 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land. Die Hauptstadt Minsk war 1944, als die Rote Armee die Stadt aus deutscher Gewalt befreite, weitgehend zerstört und nahezu menschenleer. Städteplanern boten sich enorme Möglichkeiten, neue Konzepte zu erproben. "Vom 'alten' Minsk, von der zarischen Gouvernementshauptstadt, von der Stadt der jüdischen Händler und der russischen Beamten blieb nichts mehr erhalten", berichtet der Historiker. "Stattdessen entstand das, was bereits in der Zwischenkriegszeit anvisiert worden war, nämlich ein 'neues' Minsk, die Hauptstadt einer Sowjetrepublik, eine Stadt der proletarisierten weißrussischen Bauern." Das führte zu zwei Besonderheiten: "Einerseits konnten die Prinzipien der sozialistischen Stadtplanung in Minsk in Reinkultur umgesetzt werden", so Bohn. Auf der anderen Seite setzte die Industrialisierung in Weißrussland erst nach dem Krieg und damit gegenüber der übrigen Sowjetunion zeitversetzt ein. Alle Ressourcen wurden in der Hauptstadt gebündelt, so dass Minsk innerhalb kürzester Zeit stark expandierte: zwischen 1950 und 1990 wuchs die Einwohnerzahl von 274.000 auf 1,6 Millionen.

1997 besuchte Bohn Minsk zum ersten Mal: "Ich fühlte mich in ein Freilichtmuseum des Sozialistischen Realismus versetzt", schildert er seinen damaligen Eindruck von den monumentalen neoklassizistischen Bauten. Bei seinen Recherchen zur Stadtentwicklung stellte er jedoch rasch fest: So einheitlich, wie von den Sowjetherrschern geplant, gestaltete sich das städtebauliche Gesamtensemble der Mustermetropole Minsk keineswegs. Er stieß auf eine insgesamt heterogene Entwicklung, die nicht immer den ideologischen Vorstellungen von einer "sozialistischen Stadt" gerecht wurde.

Mit dem Begriff "sozialistische Stadt" verbindet Bohn dabei nicht nur städtebauliche Planung. Seiner Ansicht nach lässt sich damit auch eine Gesellschaft sowjetischen Typs analysieren, also Sozialgeschichte betreiben. Bürgertum spielte in Minsk keine Rolle, Zivilgesellschaft fand nicht statt. Bohn untersucht die Wechselwirkung von städtischem Leitbild, also die Idealvorstellung von der Stadt als sozialem und räumlichen Ordnungssystem, Stadtwachstum und Verstädterung sowie die Unterscheidung städtischer und privater Räume. Und er deckt die Widersprüche zwischen ideologischem Ideal und Sowjet-Realität auf: "Kein anderer Ort von Minsk symbolisiert so sehr das Scheitern der Idee der 'sozialistischen Stadt' wie der Zentrale Platz. Nicht einer der in zahlreichen Architekturwettbewerben für das Herz der Stadt vorgelegten Entwürfe ist je realisiert worden", stellt Bohn fest.

Die "sozialistische Stadt" galt den Sowjetideologen als Gegenkonzept zur "kapitalistischen Stadt" alter Prägung, weshalb nach dem Krieg ein Wiederaufbau der fast gänzlich zerstörten Stadt Minsk nicht in Frage kam. Die Städteplaner richteten sich vielmehr nach dem sogenannten Moskauer Generalplan von 1935, der eine Axial-Ring-Struktur der Straßenführung vorsah, verbunden mit der Errichtung eines monumentalen Zentrums, der Verlagerung von Industriebetrieben an den Stadtrand sowie dem Ausbau der Grünanlagen im Stadtinneren.

Auf der anderen Seite wurde der Wohnungsbau vernachlässigt. "Zur Versorgung der in die Stadt strömenden Massen mit Wohnraum wurde daher auf den innerstädtischen Freiflächen und am Stadtrand der Bau von privaten Holzhütten gefördert." Erst der Massenwohnungsbau in den sechziger Jahren ermöglichte der Mehrheit der Bevölkerung den Rückzug ins Private. Davor orientierte sich der Wohnungsbau nicht am Bedarf der Menschen, sondern an den Produktionsbedürfnissen der Betriebe und Organisationen. "Die Pläne waren zunächst lediglich darauf ausgerichtet, Arbeitskräfte auf Wohnraum zu verteilen. Es ging noch keinesfalls darum, Familien eine abgeschlossene Wohnung zu verschaffen. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich die 'Gemeinschaftswohnung' zur urbanen Lebensform", berichtet Bohn.

In seiner Untersuchung nimmt der Historiker die Konsequenzen des zunehmenden Bevölkerungsdrucks für die städtische Gesellschaft und die städtebauliche Entwicklung in den Blick. Er kreist sein Sujet mit unterschiedlichen Fragestellungen ein: Wie sieht der Urbanisierungsprozess unter sozialistischen Vorzeichen aus? Wie hat sich der Typus "sozialistische Stadt" entwickelt? Warum haben sich Theorie und Praxis von Stadtplanung und Städtebau widersprochen? Bohn kommt zu dem Schluss, dass letztlich das Modernisierungskonzept "sozialistische Stadt" für Minsk nicht aufging: Die Landflucht erfolgte weitestgehend unkontrolliert und führte dazu, dass bis in die 1960er Jahre hinein neben den offiziell geplanten und umgesetzten Bauten ganze Viertel aus Bauernhütten an der Peripherie wachsen konnten. "Im Endeffekt waren Staats- und Parteiführung nicht in der Lage, das städtische Wachstum zu begrenzen."

Publikation:
Thomas M. Bohn: "Minsk - Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945", Böhlau Verlag, Köln 2008 (Industrielle Welt 74), ISBN 978-3-412-20071-8, 59,90 Euro

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Ludwig-Maximilians-Universität München, Luise Dirscherl, 05.12.2008
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2008