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BERICHT/250: Organisierte Frauenrechtlerinnen in Berlin und Krakau um 1900 (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 132/Juni 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Von der Geselligkeit zur Emanzipation
Organisierte Frauenrechtlerinnen in Berlin und Krakau um 1900

Von Iwona Dadej


Kurzgefasst: Zwei Initiativen der Frauenbewegung um 1900 zeigen, wie sich Frauen intellektuelle und politische Freiräume erkämpften. Trotz großer Unterschiede zwischen diesen Initiativen in Krakau und Berlin zeigen sich ähnliche Handlungs- und Agitationsmuster. Die Akteurinnen verfolgten dieselben Ziele: Zugang zu universitärer Bildung und wissenschaftlicher Arbeit sowie das Wahlrecht für Frauen.


Der 100. Internationale Frauentag wurde im März 2011 weltweit begangen. Pünktlich zu diesem runden Jubiläum werden die historischen Gestalten der Frauenbewegung und die Initiatorinnen des Frauentags in populären Publikationen und Zeitungsartikeln dargestellt. Selten wurde aber über mühselige tagtägliche Arbeit in Frauenvereinen vor 100 Jahren berichtet. Ohne das Engagement dieser früh aktiven Frauen wären weder die Ausrufung und Begehung des Frauentags vor 100 Jahren noch die Zuerkennung des Wahlrechts für Frauen noch die Zulassung von Frauen zum Studium denkbar.

Was heute ein universeller Kampf um Gleichstellung ist, wurzelt in vielen, zunächst örtlich begrenzten Bemühungen um die Anerkennung der Frau als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Die Universalität der Idee ging einher mit den Erfordernissen und Möglichkeiten der spezifischen lokalen Situation. In Großstädten und in kleinen Orten, in den Zentren der Frauenbewegung wie Berlin und in den Ländern und Städten der Peripherie wie etwa Krakau und auf den anderen Kontinenten mussten (und müssen) Frauen sich zunächst einen physischen Raum für eigene, selbstbestimmte Aktivitäten erobern, meist gegen Gesetze und Regeln, immer gegen die herrschende Kultur und Normsetzung. Diese lokalen Initiativen bildeten die Grundlage für den ersten großen Schritt zur Gleichstellung, nämlich die Anerkennung der Frau an den Universitäten und die Zuerkennung des Wahlrechts.

Zwei solcher lokaler Beispiele zeigen, wie Frauen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert emanzipatorische Räume für ihre Aktivitäten und ihr Engagement schufen: der Berliner Frauenwohl-Verein und der Lesesaal für Frauen im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Krakau. Den Frauen bzw. all jenen, die in der Kategorie "Frauenpersonen, Lehrlinge und Ausländer" zusammengefasst wurden, war es in Preußen und Österreich-Ungarn durch die Vereinsgesetzgebung streng untersagt, sich in politischen Vereinen zu versammeln und zu organisieren. Die Verbote versuchten die Frauenrechtlerinnen auf unterschiedlichste Art und Weise zu umgehen und sich das Recht auf frauenpolitische Versammlungsfreiheit zu erkämpfen. Erst 1908 (Preußen) bzw. 1913 (Österreich-Ungarn) wurden die jeweiligen Bestimmungen aufgehoben.


Der Frauenwohl-Verein in Berlin

Der Frauenwohl-Verein wurde 1888 in Berlin gegründet und bestand bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs - eine der 261 Initiativen der deutschen Frauenbewegung allein in Berlin. Geprägt wurde der Verein durch die Gründerin Minna Cauer, die über drei Jahrzehnte hinweg (1888-1919) den Posten der Vorsitzenden innehatte. Der Frauenwohl-Verein war zeitweise die Hochburg der progressiven Berliner Frauenbewegung und entwickelte auch eine nationale Ausstrahlung.

Es existierten bereits um 1900 mehrere Ortsgruppen im Berliner Raum, in Pankow und Charlottenburg sowie deutschlandweit weitere Vertretungen, von Königsberg über Dortmund bis nach Bonn. Zu den bekannten Aktivistinnen gehörten unter anderen Else Lüders, Helene Stöcker, Anita Augspurg, Lina Morgenstern und Agnes Hacker. Die Mitgliederzahl belief sich bei der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf 1.220 in Deutschland, davon 327 in Berlin. Über die Jahre entstanden Ausschüsse, je nach Bedarf ad hoc gebildet oder als ständige Kommissionen. Die Rechtskommission wurde zum Beispiel geleitet von der in Zürich promovierten Anita Augspurg, die sich für die volle gesetzliche Gleichberechtigung der Frau einsetzte und sich in die öffentliche Debatte um die Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches einschaltete. Die Frauenbildungskommission kümmerte sich um die Angelegenheiten von Studentinnen, die im Ausland studierten oder als Gasthörerinnen die Berliner Universität besuchten, und unterstützte sie durch Informationsaustausch und Beratung.

In erster Line aber lagen die Tätigkeitsschwerpunkte der Kommission im Verfassen von Bittschriften und Petitionen an die Universitätsbehörden mit Forderung nach Zulassung der Frauen zum Studium. Die Vorträge und Diskussionsabende wurden entweder in Wohnungen der "Vorstandsdamen" oder in den Vereinsräumen abgehalten. Eine wichtige Rolle bei den Diskussionsreihen und geselligen Abenden spielte die dem Verein angegliederte "Bibliothek der Frauenfrage", die wie das Vereinsbüro zentral am Potsdamer Platz platziert war. Nicht selten wurden Teeabende bzw. Teerunden veranstaltet, die dazu dienten, die zu Vorträgen angereisten Frauenrechtlerinnen in lockerer Atmosphäre zu begrüßen und auch die privaten Netze der Bekanntschaft bzw. Freundschaft zu entwickeln.

Den ideellen Charakter des Vereins umschrieb die Vorsitzende Minna Cauer folgendermaßen: "Pionierarbeit. Das war und ist die Signatur des Vereins Frauenwohl innerhalb der allgemeinen Frauenbewegung. Die Teilnahme unseres Vereins an fortschrittlichen Ideen der Frauenbewegung und der Menschheit steht fest. Die Pionierarbeit liegt eben im Geist des Fortschritts selbst."

Der Lesesaal für Frauen in Krakau (Czytelnia dla kobiet) wurde 1895 von Kazimiera Bujwidowa und Maria Siedlecka gegründet und blieb bis 1914 im gesellschaftlichen Leben Krakaus als eine der wenigen progressiven und emanzipatorischen Gruppierungen der Stadt und der Region Galiziens präsent. Galizien - ein historischer Name des heutigen Gebiets im Süden Polens - war damals infolge der Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts unter österreichisch-ungarischer Herrschaft. Der Name der Initiative, Lesesaal für Frauen, wurde gewählt, um die verbotenen politischen Tätigkeiten und Versammlungen von Frauen zu tarnen. Insgesamt gab es um 1900 in Krakau etwa 15 Organisationen und Initiativen der Frauenbewegung. Im Jahr 1905 zählte der Lesesaal 200 Mitglieder in Krakau und eine nicht mehr genau zu ermittelnde Zahl in den Ortsvertretungen kleinerer galizischer Städte wie Stryj, Nowy Sacz und Przemysl sowie in der Landeshauptstadt Lwów/Lviv/Lemberg. Er bot einen öffentlichen Raum für gemeinsame Aktionen und Kampagnen im Kampf um die politischen Rechte der Frauen. In den Räumen des Lesesaal-Vereins wurden regelmäßig wissenschaftliche Diskussionen (etwa über die Anwendung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen in Technik und Medizin) und frauenpolitische Debatten (die Frauenfrage in den Rechtswissenschaften, der Literatur und in der Geschichte), aber auch gesellige Runden (informelle "Tee-Montage") abgehalten.

Die Struktur des Lesesaals variierte: Im Laufe der zwei Dekaden wurden mehrere Kommissionen bzw. Sektionen gebildet und einige abgeschafft. Eine zentrale Rolle spielten dabei um 1900 die Bildungssektion, die die Vortragsreihen und Diskussionen mit externen Gästen und mit den Aktivistinnen initiierte, sowie die Sektion, die sich mit der Ausleihe der Literatur der Frauenbewegung beschäftigte (sogenannte Bibliothekssektion). In der Bildungssektion besonders aktiv war die Soziologin und Historikerin Zofia Daszynska-Golinska, die wie Anita Augspurg ihre Promotion als eine der ersten Frauen in Zürich absolvierte. Der Lesesaal für Frauen wurde zu einem zentralen Ort fortschrittlichen Lebens in Krakau. 1906 schrieb die Vorsitzende Kazmiera Bujwidowa: "Wir bekennen uns zum fortschrittlichen und demokratischen Grundgedanken in unserem Verein. (...) Wir wollen um die Gleichberechtigung und Freiheit für jede Person sowie für soziale Gerechtigkeit Arm in Arm kämpfen. Wir hoffen auf die Veränderung der Gesellschaft durch unsere Arbeit."

Beide Formen der Selbstorganisation von Frauen (Verein und vereinsähnlicher Lesesaal) waren Frauenbewegungs-Projekte "von Frauen für Frauen". Sowohl der Frauenwohl-Verein als auch der Lesesaal für Frauen waren laizistische und freiwillige Vereinigungen, die einen gesellschaftlichen Zweck verfolgten. Sie lassen sich auch "erstens als vielseitiges und anpassungsfähiges Handlungsinstrument, zweitens als Scharnier zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und drittens als besonderer Kommunikations- und Erfahrungsraum, in dem 'Frauen unter sich' waren, ... verstehen", wie Rita Huber-Sperl formuliert. Insofern lässt sich feststellen: Nicht erst die feministische Bewegung der zweiten Welle (seit den 1970er Jahren) schuf die Anlaufstellen und eigene autonome Räume, um die Aktionsformen und Handlungen der einzelnen Aktivistinnen sowie Gruppen in angegliederten Kreisen und Initiativen zu kanalisieren. Die Frauenrechtlerinnen der sogenannten ersten Welle der Frauenbewegung, folglich in der Zeit um die Jahrhundertwende, waren sich durchaus der zukunftweisenden Bedeutung der bewegungseigenen Einrichtungen und Vereinigungen bewusst und haben sich mit der weiblichen Klientel und frauenorientierten Themen beschäftigt. Die Vereine boten eine interne Bühne und einen Probeplatz für öffentliches Auftreten der Frauen, ein für sie bis dato fremdes Terrain. Kurse und Schulungen seien notwendig für ihre Mitstreiterinnen, betonten die Vereinsmitglieder mit Blick unter anderem auf die transnationalen Kongresse der Frauenbewegung, wo deutliches Sprechen und gewandtes Formulieren in mehreren Sprachen von größter Bedeutung waren.

Der Frauenwohl-Verein in Berlin und der Lesesaal für Frauen in Krakau waren zu ihrer Zeit aufgrund der herrschenden Verhaltensnormen für Frauen eine eher ungewöhnliche und spöttisch aufgenommene Erscheinung: zum einen, weil sie reine Frauenprojekte waren, zum anderen, weil sie sich gerade nicht als karitative und konfessionelle Frauenorganisationen darstellten, die zuvor als einzig denkbarer Handlungsraum für Frauen galten. Der Berliner wie auch der Krakauer Frauenverein agierten nach dem "säkularen bzw. zivilen Organisationsmodell der gegründeten und geregelten Zusammenschlüsse von Frauen zur gemeinsamen Verfolgung ideeller Zwecke", wie Huber-Sperl schreibt. In den selbst geschaffenen physischen und medialen Räumen der Frauenbewegung konnte sich das Engagement der Mitglieder für die frauenpolitischen und sozialen Fragen entfalten und entfachen. Nicht nur praktisch, sondern auch ideell haben die Frauen langfristig gewirkt, indem sie zu den Netzwerken radikaler Organisationen beitrugen: Frauen hatten nun Anlaufpunkte und Diskussionsforen, in denen neue Ideen entwickelt und inhaltliche Tabus durchbrochen werden konnten. Viele der ehemals so Aufsehen erregenden Forderungen des Vereins konnten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Erlangung des Wahlrechts sowie nach dem Zugang zur universitären Ausbildung durchgesetzt werden.

Die Geschichte der radikalen Frauenorganisationen und ihres Engagements ist eine Geschichte der Normbrüche und subversiven Handlungen gegen gesellschaftliche Vorschriften, die die Frauen aus dem aktiven Leben bislang ausschlossen. Die Subversion spiegelte sich nicht zuletzt in der Namensgebung Frauenwohl und Lesesaal wider. Ohne das freiwillige und ausdauernde Engagement von Frauen in der Mobilisierung ihrer Interessen vor 100 bis 120 Jahren wären die Fortschritte in der Demokratisierung heutiger moderner Gesellschaften undenkbar. Die historische Forschung zeigt, dass das Engagement der Frauen in Frauenprojekten nicht nur die Emanzipation, sondern auch die Modernisierungsprozesse der deutschen und anderer europäischer Gesellschaften insgesamt beschleunigte.

Frauenwohl-Verein und Lesesaal für Frauen unterscheiden sich in ihrer jeweiligen Struktur, dem Aufbau und im lokalen und im nationalen Kontext. Dennoch weisen Aktionsformen, weltanschauliche Ausrichtung und Typus dieser Organisationen große Ähnlichkeiten auf. Der Kampf um die Anerkennung erlebte in beiden Ländern fast zeitgleich ihren größten Erfolg: Im November 1918 wurde das Wahlrecht für Frauen in Deutschland und in Polen eingeführt. Die Mitglieder des Frauenwohl-Vereins sowie des Lesesaals waren fortan auch oft in der Lokalpolitik tätig. Einige haben es geschafft, deutsche oder polnische Parlamentarierinnen in der Zwischenkriegszeit oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu werden. Somit lässt sich abschließend feststellen: Der Weg der Frauen in die Politik führte durch die zivilgesellschaftlichen Frauenvereinigungen um die Jahrhundertwende.


Iwona Dadej ist Doktorandin am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Im Rahmen der Forschungsgruppe WZB-Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa bereitet sie ihre Dissertation über "Es ist besser, wenn du liesest" - Deutsche und polnische Akteurinnen der Frauenbildungsbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg" im Rahmen des Drittmittelprojekts "Transnational Struggles for Recognition. Women and Jews in Early 20th Century in France, Poland, and Germany" vor.
Dadej@wzb.eu



LITERATUR

Akta Policji w Krakowie ze Zbiorow Archiwum Panstwowego w Krakowie. Sign. DP Kr 658 [Polizeiakten im Staatsarchiv Krakau].

Cauer, Minna: 25 Jahre Verein Frauenwohl Groß Berlin. Berlin 1913.

Huber-Sperl, Rita (Hg.) (unter Mitarbeit von Kerstin Wolff): Organisiert und engagiert. Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA. Königstein am Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2002.

Hoffmann, Stefan-Ludwig (2003): Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Ichenhaeuser, Elisa: Was die Frau von Berlin wissen muß. Ein praktisches Frauenbuch für Einheimische und Fremde. Berlin 1913.

Norden, Max: Frauen-Führer. Auskunftsbuch über Vereine, Ausbildungsgelegenheiten und Wohlfahrtseinrichtungen in Berlin. Berlin: Carl Habel Verlag 1907.

Sprawozdanie Czytelni dla kobiet za rok 1905 (Jahresbericht des Lesesaals für Frauen für das Jahr 1905). Kraków 1906.

Wischermann, Ulla: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke - Gegenöffentlichkeiten - Protestinszenierungen. Königstein: Ulrike Helmer Verlag 2003.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 132, Juni 2011, Seite 25-28
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2011