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DISKURS/024: 68 - Neue Runde im Deutungskampf (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2008

68 - Neue Runde im Deutungskampf
Neubestimmung des Verhältnisses von Geist und Politik

Gepräch mit Jürgen Kocka von Thomas Meyer


Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutert Jürgen Kocka, ehemaliger Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Mitherausgeber der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte, die historische Bedeutung der 68er. Einseitigen Verzerrungen zum Trotz sind sie letztlich doch als Emanzipations- und Modernisierungsbewegung in demokratischer Absicht zu charakterisieren.


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NG/FH: Herr Kocka, das Jahr 2008 ist voller großer Erinnerungsdaten: 1918, 1938, 1948 Israels Staatsgründung. 1968 zweimal - Prager Frühling und Studentenrevolte. Im Fall der Studentenrevolte haben wir bereits einige unappetitliche Kostproben sehr zielgerichteter politischer Erinnerungspolitik bekommen. Was wären aus ihrer Sicht Merkposten und was Warnschilder für den Umgang mit solchen Erinnerungen in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr 2008?

JÜRGEN KOCKA: Die Erinnerung an "1968" bleibt kontrovers, sie ist immer noch Teil einer ideenpolitischen Auseinandersetzung. Als Historiker freut man sich über die fortdauernde Relevanz dieses Stücks Zeitgeschichte, andererseits möchte man vor seiner schlechten Instrumentalisierung warnen. Schlechte Instrumentalisierung setzt dann ein, wenn die Erinnerung einseitig verzerrt, allzu selektiv und gegen die Befunde geschieht. Die Befunde sind gemischt. Es gibt auch falsche Erinnerung. - Zum andern: "1968" ist ein Kürzel. Tatsächlich geht es um eine tiefgreifende soziale, intellektuelle und politische Bewegung voll theoretischer und praktischer Traditionskritik und Veränderungslust, die sich seit Anfang der 60er Jahre langsam aufbaute, 1967/68 kulminierte und in den frühen 70er Jahren z. T. versandete, z. T. pervertierte oder in anderes überging. Es wäre eine unglückliche Verkürzung, wenn man im Sog der Suggestivität des Jubiläumsjahrs die Erinnerung auf das Jahr 1968 und einige Großakteure und Großereignisse beschränkte, die medial besonders gut dokumentiert werden können. Anderes war wichtiger, beispielsweise die mühsame Neubestimmung des Verhältnisses von Geist und Politik, die in Deutschland in jenem Jahrzehnt gelang.

NG/FH: In den Debatten ist schon zu Beginn dieses Jahres verschiedentlich versucht worden, Parallelen zu ziehen. Die Wohlwollenden haben versucht, Parallelen zwischen 1968 und dem Jahr 1848, einem Jahr des demokratischen Aufbruchs, zu ziehen. Die Übelmeinenden haben Parallelen zwischen 1933 und 1968 gezogen: Bewegung statt Bürgerlichkeit. Was ist von solchen Vergleichen zu halten?

KOCKA: Jubiläumsjahre reizen zu solchen Vergleichen. Aber wenn man sie wagt, dann bitte mit der gleichzeitigen Absicht, die großen Unterschiede herauszuarbeiten. 1968 war in Deutschland bestenfalls ein Jahr der Revolte und kein Jahr der Revolution. 1968 fehlte es an der Massenbasis und an der systemverändernden Kraft, die Revolutionen wie 1848/49 auszeichneten. Und mit 1933 hat 1968 im Grunde nichts zu tun. Denn 1933 war ein Jahr der diktatorischen Machtergreifung zum Sturz der Demokratie, während 1968 der Kristallisationspunkt einer - trotz mancher Verirrungen, Exzesse und Irrationalitäten - im Grunde emanzipatorischen, modernisierenden und demokratischen Bewegung gewesen ist. Man tut 1968 zuviel der Ehre an, wenn man es mit 1848 vergleicht. Der Vergleich zwischen 1968 und 1933 aber ist abwegig.

NG/FH: Sie sagten bereits, 1968 war ein Kulminationspunkt von Bewegungen und Entwicklungen, die schon vorher eine Rolle gespielt haben. Wolfgang Kraushaar hat gesagt, dass dieses Jahr eine soziokulturelle Nachgründung der Bundesrepublik gewesen sei. Der Schritt von der unpolitischen Kultur des deutschen Bourgeois hin zu einem aufmüpfigen, selbstbewussten Citoyen. Können Sie dieser Deutung etwas abgewinnen?

KOCKA: Ich halte die Formulierungen "Nachgründung" oder "Neugründung" für maßlos übertrieben. Interessant an der Kraushaar'schen Formulierung ist aber der Hinweis auf den positiven Beitrag dieser Bewegung der 60er Jahre zur Herausbildung einer wahrhaft bürgerlichen Kultur und Gesellschaft in Deutschland. Wenn man unter bürgerlicher Kultur, unter Bürgerlichkeit, unter Bürgergesellschaft nicht nur die individualisierende Konzentration auf den eigenen privaten Bereich und die eigene persönliche Freiheit, sondern auch - im Sinne von Citizenship - das Engagement für allgemeinere Dinge in der Öffentlichkeit versteht, stellen die 60er Jahre einen wichtigen Durchbruch in Richtung nicht privatisierter, öffentlich praktizierter Bürgerlichkeit dar. In der Adenauerzeit war diese zurückgeblieben.

NG/FH: Waren das Entwicklungen, die eigentlich in soziologischen Entwicklungen angelegt waren, die ohnehin stattgefunden hätten, wie Sie sie gerade beschrieben haben oder wurden sie durch die Aktivitäten und die Impulse der 68er, also durch die Revolte, ausgelöst oder wesentlich verschärft?

KOCKA: Entwicklungen waren auf dem Weg, aber sie wurden durch die Beiträge der 68er-Aktivisten, durch die Revolte vorangetrieben, weil daraus eine Kultur der öffentlichen Kritik und des Sicheinlassens, des Sichengagierens entstand. Im Wechselspiel zwischen den zum Teil sehr problematischen Forderungen der 68er-Aktivisten und ihren Kritikern (besonders der liberalen Kritik), in der breiten Auseinandersetzung in und mit der 68er-Bewegung entstanden Schübe der Veränderung im Sinne von Traditionskritik, Öffentlichkeitsorientierung und letztlich auch Demokratisierung. Das waren Schübe, die ohne den Input dieser 68er-Bewegung nicht zustande gekommen wären, wenngleich diese 68er-Bewegung aufsetzen konnte auf langfristig wirkenden sozialstrukturellen und soziokulturellen Veränderungen. Dazu gehörten die allmähliche Verarbeitung der Katastrophe 1933-1945, das damals rasante wirtschaftliche Wachstum, der Übergang zur post-industriellen Gesellschaft jener Jahre. Ich verstehe diese Phase von den späten 50er oder frühen 60er Jahren bis zur Mitte der 70er Jahre als eine Phase der zukunftsgerichteten Fortschrittsorientierung mit schnellem sozialem Wandel und ausgeprägtester Traditionskritik als eine Phase der Emanzipation, der Modernisierung, auch der Verwestlichung. Die 68er-Aktiven und die Revolte wurden davon getragen und hatten zugleich die Rolle von Treibsätzen.

NG/FH: Sie würden also eher mit Habermas übereinstimmen, der 1968 als Beginn der bundesdeutschen Fundamentalliberalisierung versteht und nicht als den ersten Schritt in Richtung RAF und extremistischem Abseits?

KOCKA: So ist es. Aus der 68er-Bewegung, wenn man bei dem Wort bleibt, ist vieles hervorgegangen, so eine abwegige und hochproblematische Gewaltbewegung - Stichwort RAF -, aber natürlich auch die Neuen Sozialen Bewegungen bis hin zur Etablierung der Grünen und eine lange Phase unterschiedlicher feministischer Kritik, letztlich aber auch eine Bestätigung dieser liberalen Bundesrepublik, die in dieser Zeit einen Test bestand. Die Bundesrepublik ist durch diese Bewegung, wenn auch eher im Gegensatz zu den Intentionen der meisten 68er-Aktivisten, reformiert, gestärkt und auch demokratisch leistungsfähiger geworden als sie in den 50er Jahren war.

NG/FH: Sie haben gerade das Stichwort Gewalt genannt. Ist es eher so, dass die überzogene Gewalt des Staates am Anfang, etwa der Mord an Benno Ohnesorg, die Studentenbewegung radikalisiert hat, oder steckte da ohnehin ein Potenzial von Gewaltsamkeit drin? Luhmann hat damals gesagt: Der Schuss auf Benno Ohnesorg hat die Studenten aus der Gesellschaft hinausgeschossen. Ist das Thema Gewalt überhaupt mit der Studentenrevolte verknüpft oder ist das eher ein hochgespieltes Thema?

KOCKA: Die meisten Träger und Sympathisanten, das emsige "Fußvolk" der 60er-Bewegung, hatten ausgeprägte Distanz zur Gewalt und lehnten sie ab. Viele von uns standen auch den spektakulären Aktionen der Dutschkes, Kunzelmanns, Krahls oder anderer Aktivisten, ihrer exzessiven Rhetorik und öffentlichen Selbstdarstellung, skeptisch gegenüber. Andererseits gab es eine unglückliche Debatte über den angeblich prinzipiellen Unterschied zwischen Gewalt gegenüber Sachen und Gewalt gegenüber Personen, die unklar war und nicht zu Ende gedacht wurde. Und es gab in Teilen dieser Bewegung in der Tat eine ausgeprägte Geringschätzung und Verachtung für liberale, rechtsstaatliche und verfassungsmäßige Begrenzungen der öffentlichen Gewalt und jedes öffentlichen Engagements. Diese Verachtung für die Sicherungen, die der Rechtsstaat bietet, war problematisch, besonders nachdem die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland nicht allzu weit zurücklagen, aber auch, weil man die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit östlich der Elbe hätte ständig beobachten können. Das Verhältnis der 68er zur Gewalt war also gemischt. Es ist weder zufällig noch primär eine Folge des übermäßigen Einsatzes staatlicher Gewalt, dass ein kleiner, ein sehr kleiner Teil dieser Bewegung seit dem Ende der 60er Jahre in Richtung Gewalt abdriftete. Aber der größte und wichtigere Teil dieser Bewegung stand in Distanz dazu.

NG/FH: Nun haben Sie die Ereignisse ja gleichzeitig erlebt und reflektiert. War das, was als besondere Gewalt wahrgenommen und erlebt worden ist, eher das Über-die-Stränge-schlagen der Jugend oder war das Auswuchs einer bestimmten ideologischen Orientierung? Ist es überhaupt so, dass 68 ein Beispiel dafür ist, dass Generationen Geschichte machen?

KOCKA: Kein Zweifel, dass die Bewegung der 60er Jahre weltweit primär von relativ jungen Leuten getragen wurde. Ich bin davon überzeugt, dass im deutschen Fall, der durch die nationalsozialistische Vergangenheit geprägt war, sich in den 60er Jahren auch ein Generationskonflikt abspielte im Hinblick auf die Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit dieser Vergangenheit und der Verantwortung für sie auseinanderzusetzen. Ein Stück Jugendlichkeit gehört zur Definition dieser Bewegung dazu. Allerdings nicht nur in dem Sinne, dass über die Stränge geschlagen wurde, sondern auch in dem Sinne, dass sich eine dezidierte Traditionskritik, also Absetzung von älteren Verhältnissen, mit zukunftsgerichtetem Optimismus paarte. Eine Mischung aus Modernisierungshoffnung und Traditionskritik entstand, die ihrerseits produktive Ressourcen in sich trug. Ich erinnere von diesen 60er Jahren nicht so sehr die spektakulären medialen Ereignisse, die in der verkürzenden Formulierung "1968" leicht assoziiert werden, sondern ich erinnere die 60er Jahre als eine Phase der intellektuellen Anstrengung und der harten Arbeit, in der unsere wissenschaftliche Arbeit - ich studierte damals und begann als Historiker - in einer besonderen Weise mit öffentlichem politischen Engagement verbunden wurde. Dies war oft durchaus zum Nutzen der wissenschaftlichen Arbeit wie auch hoffentlich zum Nutzen der öffentlichen Debatte. Diese jugendlich gestimmte Atmosphäre, gemischt aus Traditionskritik, Modernisierungszuversicht und oftmals auch Hochmut, war eine Basis für intellektuelle Produktivität sondergleichen. Der damalige Aufschwung der Sozialgeschichte und anderer Sozialwissenschaften hatte viele Wurzeln. Aber er hatte auch Wurzeln in der traditionskritischen, zukunftsoptimistischen, aufklärungsbereiten und kritikbetonten Atmosphäre der 60er Jahre.

NG/FH: Wohlwollende Beobachter haben behauptet, dass schon im Jahr 1968 und den Jahren davor zwei verschiedene Potenziale in dieser Bewegung vorhanden waren. Einerseits ein emanzipatorisches und innovatives Potenzial, das eine kulturelle Normalisierung für Deutschland bedeutete. Andererseits auch ein vielleicht eher in deutschen Traditionen wurzelndes Potential, das einige regressiv, romantisch und infantil genannt haben und mit dem vielleicht diese Gewaltkomponente verknüpft war.

KOCKA: Über die positiven Dimensionen von "1968" habe ich schon gesprochen. Man kann aber auch stärker nach den kritikbedürftigen Dingen, den damaligen Irrtümern und Abwegen fragen. Die Verachtung für Parlamentarismus, die bei vielen vorhanden war, habe ich nie geteilt. Der Glaube an die historische Mission der Arbeiter scheint mir schon für die 60er und 70er Jahre eine merkwürdige Illusion gewesen zu sein. Manche damalige Kritik an Bürgerlichkeit - an bürgerlicher Wissenschaft und bürgerlichen Lebensformen - erscheint rückblickend als verfehlt. In die Irre führte es, "bürgerliche Herrschaft" und Faschismus so nah aneinander zu rücken, wie es damals öfters geschah. Nicht zu Unrecht haben sehr respektable Kommentatoren wie Richard Löwenthal die Geschehnisse als einen Rückfall in bestimmte romantische Idealisierungen mit langen deutschen Traditionen gedeutet. Ich denke, dass sich in unseren Köpfen vieles davon mischte, und manchmal spielte trotz aller Aufmüpfigkeit mangelnde individuelle Zivilcourage eine Rolle. Ein weiterer problematischer Punkt scheint mir in der Verachtung für "Sekundärtugenden" zu liegen, die damals verbreitet war. Sich gegen bestimmte Formalismen und Verklemmtheiten der überkommenen Lebensweise abzusetzen, war in den 50er und 60er Jahren verständlich und historisch sinnvoll. Aber später und heute sind wir in einer anderen Situation und wissen vermutlich die Wichtigkeit von Verlässlichkeit, Konsistenz und Disziplin mehr zu schätzen als das damals in der überschwappenden Rhetorik der Zeit konzediert wurde. Wie bei allen großen historischen Phänomenen mischen sich Licht und Schatten, und es wäre falsch, dies nicht anzuerkennen. Zumal wir über viele der negativen Dinge auch lernend hinausgekommen sind.

NG/FH: Was halten sie von der These, dass die 68er die entscheidende Vorbereitung für die spätere Brandt'sche Politik der Demokratisierung, der Öffnung, der kulturellen Modernisierung geleistet haben, und was von der These, dass die Regierung Schröder/Fischer eine Regierung der 68er war? Ist eine solche Deutung politisch-kulturell sinnvoll und zutreffend? Oder sind das mediale Fiktionen?

KOCKA: Ich sehe "1968" als Teil einer intellektuellen, sozialen, politischen und moralischen Bewegung, die seit Beginn der 60er Jahre anschwoll, am Ende der 60er Jahre einen Höhepunkt erreichte und dann unter neuen Erfahrungen, seit den frühen 70er Jahren, wieder nachließ, verkam, sich veränderte. Der Aufstieg der RAF, die Öl- und Wirtschaftskrise ab 1973, der Aufschwung post-moderner Sichtweisen, der Rückgang des Fortschrittsglaubens in der Mitte der 70er Jahre markierten das Ende der "68er"-Bewegung. Wenn man es so sieht, dann war die sozial-liberale Koalition von 1969 in der Tat ein wichtiger Teil, die politische Konsequenz einer umfassenden sozialen und intellektuellen Bewegung. - Es mag einzelne Kontinuitätslinien zwischen 1968 und 1998 geben, die sich in einzelnen Personen, ihrem Lebensstil und einigen ihrer Ideen zeigten. 1998 aber gehört zu einer anderen Zeit. Mittlerweile war die Wiedervereinigung geschehen und der große Ost-West-Gegensatz war vorbei. Der Glaube an marxistische Theorien und Lösungen war 1998 völlig verblasst, ganz anders als in den 60er Jahren mit ihrer merkwürdigen Renaissance marxistischer Deutungsmuster. Ein gewisser Zusammenhang zwischen der Bewegung der 60er Jahre und sozialdemokratisch-grüner Koalition Ende des Jahrhunderts mag vorhanden gewesen sein. Bei der Konstruktion solcher Kontinuitäten ist jedoch größte Zurückhaltung geboten.

NG/FH: Heute beobachten wir zwei extreme Instrumentalisierungen von 1968. Einerseits werden die 68er als Zerstörer der guten Werte der Bürgerlichkeit in Deutschland dargestellt. Mit langen, negativen Folgen bis hin zum "Niedergang Deutschlands". Andererseits versuchen Leute wie Götz Aly, die in den K-Gruppen gelandet waren, die ganze 68er-Bewegung als Geiseln für die Aufarbeitung ihrer eigenen Biografien zu benutzen, indem sie die These aufstellen, dass die 68er im Grunde Ausläufer des deutschen Totalitarismus mit einer gewissen Verspätung seien. Was ist von solchen Thesen zu halten? Zunächst einmal, dass Sie eingebracht werden und medial eine große Resonanz finden. Und zum anderen, wie ist das sachlich zu bewerten?

KOCKA: Beide Varianten halte ich für verfehlt. Was die These der Zerstörung der guten alten Sitten und der vorher intakten bürgerlichen Welt durch die 68er angeht: Falsch. Einerseits war diese Bürgerlichkeit in den vorangehenden Jahrzehnten tief verletzt worden und in den 50er Jahren nur in Ansätzen wieder neu entstanden, als privatisierte, skeptische und partielle. Gegen den Willen der führenden 68er-Aktivisten, und trotz der manifesten Anti-Bürgerlichkeit ihrer Ideen, Lebensformen und Feindbilder, hat die Bewegung der 60er Jahre langfristig zu einer neuen und öffentlich relevanten Form von Bürgerlichkeit in Deutschland beigetragen, zu Bürgerlichkeit in der Tradition von Citizenship und Bürgergesellschaft. - Was die angeblich totalitären Aspekte angeht, so ist nicht zu bestreiten, dass es Intoleranz, Illiberalität, Manipulation und Gewaltnähe gab. Das war sehr problematisch, aber das betraf nur einen kleinen Teil der großen Bewegung. Die K-Gruppen waren nicht repräsentativ, sondern ein dogmatisches Abfallprodukt, besonders wenn man den Blick nicht auf Berlin verengt. Im Wesentlichen handelte es sich bei den "68ern" um eine nach den Katastrophen der zurückliegenden Jahrzehnte verspätet auftauchende Emanzipations- und Modernisierungsbewegung in demokratischer Tradition. Nicht zufällig ist der Begriff der Kritik ein Zentralbegriff jener Bewegung, viel mehr als jemals zuvor und als heute. Zwischen der Praxis der Kritik und der Praxis des Totalitarismus besteht aber ein diametraler Gegensatz. Zum Totalitären gehört harte Herrschaft. Im Zentrum der 68er-Bewegung stand Herrschaftskritik.

NG/FH: Es gibt in den Medien einen Deutungskampf, der in den Leitfeuilletons schon seit ein bis zwei Jahren eine Rolle spielt. Es wird behauptet, wir stünden in Deutschland vor der Alternative, in die Kontinuität einer verhängnisvollen Bewegungspolitik gegen Bürgerlichkeit hineinzugleiten. 1933 brachte eine Bewegung die bürgerliche Ordnung zu Fall. 1968 war es abermals eine Bewegung und auch heute hätten wir die Wahl zwischen antibürgerlicher Bewegungspolitik und eben der bürgerlichen Ordnungspolitik. Ist diese Konfrontation sinnvoll, wenn man sich die deutsche Geschichte ansieht?

KOCKA: Ist diese Aversion gegen den Begriff der Bewegung und ihre einseitige Verbindung mit der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht merkwürdig? Auch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war eine Bewegung, eine intellektuell-kulturelle Bildungsbewegung. Wir kennen die Arbeiterbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als wichtige Protest- und Emanzipationsbewegungen, die zur Ausbildung der deutschen Demokratie und zur Herausbildung, Kräftigung und Liberalisierung der deutschen Gesellschaft erheblich beigetragen haben. Die Jugendbewegung des frühen 19. Jahrhunderts zeigte viele Facetten. Ohne Neue Soziale Bewegungen wäre die Umweltpolitik der Bundesrepublik rückständig geblieben wie die der DDR. Die nationalsozialistische Bewegung darf man nicht als den Prototyp sozialer Bewegungen auffassen. Es führt in die Irre, die Bewegung der 60er Jahre mit der nationalsozialistischen Bewegung zu parallelisieren. - Wenn heute in Deutschland ein Mangel an konsequenter Reform- und Ordnungspolitik zu beklagen ist, dann liegt es nicht an zuviel sozialer Bewegung, sondern an der großen Zahl von "Vetospielern" in einem politischen System, das sehr bewusst auf extreme Machtverteilung hin ausgelegt wurde, und in dem die letztlich konservative Kraft zur Verteidigung von Sonderinteressen und Status quo tief verankert ist.

NG/FH: In gewisser Weise hat die Erinnerung an 1968 und die politische Verwendung dieser Erinnerung die Rolle eines Wechselbalges gehabt. Sie hat sich einige Male geändert. Was sollten nach dem Wunsch eines Historikers die Schüler, die Jugendlichen des 21. Jahrhunderts von dem Datum 1968 lernen? Womit sollte es in einer vernünftigen, historischen Besinnung verbunden werden, wenn es als Datum der deutschen Geschichte in den Lehrbüchern behandelt wird?

KOCKA: Nicht erinnerungswert, sondern verfehlt war die Parlamentarismus- und Rechtsstaatskritik der 60er Jahre, ich sagte es schon. Es mag sein, dass an der Kapitalismuskritik der 68er-Bewegung, soweit sie über fundamentalistische Klassiker-Exegese hinausging, das eine oder andere wiederzuentdecken ist, das in einer Zeit des weltweit siegreichen Kapitalismus und wieder anschwellender Kritik an seinen sozialen Kosten von Interesse ist. Vor allem aber verdient es die Bewegung der 60er Jahre, als eine eindrucksvolle, wenn auch mit vielen Widersprüchen behaftete, zivilgesellschaftliche Bewegung erinnert zu werden, die sich in ihren besseren Teilen an den verdrängten Belastungen der deutschen Geschichte und den offenkundigen sozialen Ungerechtigkeiten ihrer Gegenwart rieb, neue Formen des öffentlichen Engagements entwickelte und - zum Teil illusionär und maßlos, zum Teil aber auch mit scharfem Urteil und starker langfristiger Wirkung - nach Demokratisierung, Emanzipation, Abschaffung überflüssiger Herrschaft und neuen kulturellen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten strebte. In heutiger Sprache erscheint die 68er-Bewegung, in ihren gelungenen Teilen, als wirkungsvolles Beispiel bürgerschaftlichen Engagements: Große Gruppen der Bevölkerung engagierten sich in eigener Regie für öffentliche Zwecke, ohne auf obrigkeitsstaatliche Vorgaben zu warten, gemeinsam mit anderen, über die Verfolgung privaten Glücks und privat-partikularer Zwecke hinaus. Wenn man in unserer Geschichte nach Anknüpfungspunkten für zukunftsgerichtetes Denken und zukunftsfähige Politik sucht, dann ist das einer.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2008, S. 21-27
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2008