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DISKURS/031: Blütezeiten der Bürgerlichkeit (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 50/Herbst 2009

Blütezeiten der Bürgerlichkeit

Von Gunilla Budde


Bei dem heute häufigen, oft unkritischen Rückgriff auf bürgerliche Wertvorstellungen und Lebensformen wird die ebenso wechselvolle wie ambivalente Geschichte des Bürgertums in der Regel außer Acht gelassen. Wenn jetzt gerade in Zeiten der Krise ein Zurück zu Bürgertum und Bürgerlichkeit beschworen wird, darf deren historische Janusköpfigkeit nicht vergessen werden.


In seinem letzten Artikel in der "Weltbühne" stimmte Carl von Ossietzky im Februar 1933 einen bitter-hämischen Abgesang an. Zielscheibe seiner Kritik war das Bürgertum. Im Opernsaal bei Wagnerklängen flüchte es sich aus der "problemhaften Wirklichkeit", aus "verschwitztem Bratenrock und qualvoller Corsage" in den "musikumbrausten Mythos". Doch "aus nächtlichem Dunkel flammt rot die Vision des Untergangs". Einmal mehr erwies sich Ossietzky als weitsichtiger Prophet, der das Ende der bürgerlichen Wertewelt kommen sah.

Und heute? In Politikerreden, Feuilletons und Talkshows erlebt der bürgerliche Wertehimmel bereits seit einigen Jahren eine ungeahnte Renaissance. Der Benimm-Büchermarkt boomt, die Tanzstunde erlebt ein Comeback, Opernpremieren sind ausverkauft, Klavierbauer schreiben schwarze Zahlen. In gesellschaftspolitischen Diskussionen erlebt, angestoßen von osteuropäischen Bürgerrechtlern der 1980er Jahre, die Zivilgesellschaft, die "Bürgergesellschaft", eine neue Blütezeit. Allgegenwärtig im wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Tagesgeschäft, steht sie für Anerkennung von Pluralität, Toleranz gegenüber Anderen, für ein vertrauensbasiertes Miteinander und die Wiederbelebung moralisch fundierter Eigen- und Gemeinschaftsverantwortung. Solche Beschwörungen einer wohlanständigen Bürgerlichkeit sind heute auf dem Hintergrund der Finanzkrise immer lauter zu vernehmen.


Rückblick ins "lange 19. Jahrhundert"

Die Wenigsten kennen die Traditionen, auf die sie sich berufen. Vergessen scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts die durchaus wechselvolle Geschichte des Bürgertums und seiner Wertewelt. Mit seinem ständigen Changieren zwischen utopischen Versprechungen und exklusiver Realität, zwischen Aufgeschlossenheit und Engstirnigkeit, zwischen Weitherzigkeit und Vorurteil zeigte sich das Bürgertum durchaus janusköpfig. Mal überwog das aufgeklärte Antlitz, mal die reaktionäre Fratze.

Als sich das "neue Bürgertum" zu Beginn des 19. Jahrhunderts anschickte, der "Alten Welt" den Kampf zu erklären, hatte es hehre Ziele im Gepäck: Neben dem Traum von einem geeinten Nationalstaat schrieb man sich den Wunsch nach Liberalisierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens, nach Meinungsfreiheit und der Aufhebung ständischer Privilegien auf die Fahnen, die während der Revolution von 1848 besonders hoch gehalten wurden. "Kein Stand", so der Historiker und Paulskirchenabgeordnete Gustav Droysen, sollte "jetzt noch Vorrechte haben, nur weil er in einem Schloss geboren ist". Ganz im Sinne des Königsberger Philosophen Immanuel Kant visierte man eine Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger an, denen der "Ausgang" aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" gelungen war.

Bildung lautete das Schlüsselwort, das den Weg dahin ebnen sollte. Zum einen meinte dies die akademische Bildung, von der das aus Beamten, Professoren, Gymnasiallehrern, Anwälten, Ärzten, Künstlern und Journalisten zusammensetzte Bildungsbürgertum seinen gesellschaftlichen Führungsanspruch ableitete. Erlangt werden sollte sie auf Universitäten, die, so formulierte es Wilhelm von Humboldt 1810, die Einheit von wissenschaftlicher Forschung und Lehre hochhalten sollten. "Gerade durch ihr Lehramt" seien, so seine Argumentation, hervorragende Wissenschaftler zu "Fortschritten in ihren Fächern gekommen". Schließlich seien unter den Zuhörern im Hörsaal "immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe", die denjenigen "sicherlich ebenso sehr an[feuere], als die einsame Muße des Schriftstellerlebens". Zum zweiten ging es bei der Bildung des Bürgers auch um Herzens- und Charakterbildung. Die "gute Kinderstube", sowohl Symbol für die "Entdeckung" kindereigener Bedürfnisse als auch Synonym für eine gelungene Erziehung, rüstete kleine Bürgerinnen und Bürger mit den notwendigen Spielregeln und Requisiten für den Auftritt auf der bürgerlichen Bühne aus.


Einheit in der Vielfalt

Bildung war demnach Herzstück einer bürgerlichen Kultur, verstanden als ein Ensemble von den Lebensstil prägenden und die Wirklichkeit deutenden Werten und Vorstellungen, die die Welt eines Hamburger Kaufmanns, eines Berliner Bankiers, eines Oldenburger Juristen und eines Heidelberger Professors im Innersten zusammenhielt. Überdies gehörte zu dieser "bürgerlichen Kultur" eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter Arbeit, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, die Hochschätzung der Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt ein spezifisches Familienideal. Auf Neigung gegründet und durch Liebe verbunden, fern von Wirtschaft und Politik, sollte die Familie eine Gegenwelt bilden, einen durch auskömmliches Einkommen des männlichen Familienoberhauptes und Dienstboten freigesetzten Raum der Muße für Frau und Kinder, einen Ruhehafen im rastlosen Getriebe der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, die sie selbst durch die Erziehung der kleinen Bürgerinnen und Bürger immer aufs Neue herzustellen half.

Großherzig und großspurig zugleich war die Vorstellung, dass der eigene Wertehimmel und Gesellschaftsentwurf über die Grenzen der eigenen sozialen Schicht ausstrahlen sollte, dass auf Dauer alle, unabhängig von Stand und Geschlecht, an den Wohltaten der "bürgerlichen Gesellschaft" partizipieren sollten. Selbstbewusst verhehlten die bürgerlichen Architekten dieses Programms nicht, dass sie in dieser Gesellschaft die Führung beanspruchten. Weniger offen wurde dabei ausgesprochen, dass man in der Realität hohe, zum Teil unüberwindliche Mauern hochzog, die weiblichen und jüdischen Bürgern und allen nicht-bürgerlichen Schichten eine gleichberechtigte Teilhabe an der Bürgergesellschaft verwehrten.


Bürgertum und Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert

Solche der bürgerlichen Gesellschaft widerstrebende Vorstellungen von Intoleranz und Illiberalität gewannen, Ossietzky konnte es bezeugen, in der vom Bürgertum so ungeliebten Weimarer Republik immer mehr Raum. In der nationalsozialistischen Diktatur, so anti-bürgerlich sie sich gab und so hämisch man von Bürgerseite über die unkultivierten Machthaber die Nase rümpfte, stellte das Bürgertum keineswegs nur Zuschauer, Mitläufer oder auch Opfer, sondern vielfach auch verantwortliche Täter. Mit der Vertreibung und Ermordung jüdischer Mitbürger hat das deutsche Bürgertum nicht nur Millionen Menschen das Leben genommen, sondern der bürgerlichen Kultur ein Kernstück seiner Seele. Die so stolze Bürgergesellschaft schien am Ende und mit ihr das sie tragende Bürgertum.

Auf der anderen Seite verweisen erste historische Forschungen in jüngster Zeit darauf, dass auch die Gesellschaft nach 1945 noch bürgerliche Züge trug. Gleichsam wie ein "Phönix aus der Asche", so Hans-Ulrich Wehler, sei das Bürgertum wieder auferstanden, habe schnell wieder Fuß gefasst an entscheidenden Positionen in Wirtschaft, Politik und Kultur - eine lange vergangenheitsblinde Kontinuität, deren Problematik die kritischen Bürgersöhne und -töchter dann 1968 anprangerten.

Doch unabhängig davon, ob man diese Kontinuität der Bürgerlichkeit begrüßte oder beargwöhnte, zeigen sich auch markante Unterschiede zum Bürgertum im 19. Jahrhundert. Zwar blieb die "nivelllierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) eine Illusion, doch nach 1945 musste sich ein Bürgerstolz nicht mehr gegen einen starken Adel behaupten, konnte sich ein Bürgerdünkel nicht mehr gegen eine erstarkte Arbeiterschaft entwickeln. Die Frontlinien, die in der Konstituierungsphase so essentiell für die Selbstfindung waren, verschwammen zusehends. Nicht jedoch die bürgerliche Exklusivität. Wie der Soziologie Michael Hartmann am Beispiel wirtschaftlicher Spitzenkräfte gezeigt hat, rekrutieren diese sich auch heute noch vornehmlich aus Kreisen, die eine "bürgerliche Kinderstube" durchlaufen haben. Gleiches gilt für die vom Bremer Soziologen Hans-Peter Blosfeld nachgewiesenen geschlossenen Heiratsmärkte vor allem unter Akademikern. Der Habitus des souveränen Auftretens und das Wissen um die "feinen Unterschiede", erlernbar allein in der familialen Sozialisation, bleiben offenbar weiterhin entscheidend.

"Wir leben jetzt wieder im Traum der bürgerlichen Renaissance. [...] Nicht mehr so exklusiv wie früher, im Gegenteil sehr kleinbürgerlich geworden. Der Bürger ist pleite, seine Ideale wehen zerfetzt in allen Winden." Diese Sätze stammen nicht aus der aktuellen Tagespresse, sondern aus dem schon eingangs zitierten Artikel Ossietzkys. Ihre Wahrheit sollte sich sehr bald sehr grausam offenbaren. Wie fragil sich die bürgerliche Wertewelt namentlich in Krisenzeiten erweisen kann, wissen wir aus der Geschichte. Ob sie standhalten wird, und vor allem, ob sie sich langfristig von ihren exklusiven Elementen befreien kann, muss die Zukunft zeigen.


Die Autorin

Prof. Dr. Gunilla Budde ist seit 2005 Hochschullehrerin für Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Institut für Geschichte. Sie studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik in Hamburg und Bielefeld und promovierte 1993 an der Freien Universität Berlin, wo sie sich 2002 habilitierte. Budde war u.a. an der Universität Bielefeld, an der Freien Universität Berlin und am Berliner Wissenschaftszentrum tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Politik und Musik in der Geschichte, die Geschichte der Familie, des Bürgertums, des Konsums, der DDR sowie die Frauen- und Geschlechtergeschichte.


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Quelle:
Einblicke Nr. 50, 24. Jahrgang, Herbst 2009, Seite 4-7
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2009