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DRITTES REICH/035: Editionsprojekt - Lageberichte rheinischer Gestapo-Leitstellen (idw)


Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf - 13.01.2010

Editionsprojekt: Lageberichte rheinischer Gestapo-Leitstellen


Mit einem Personalbestand von 170 Mitarbeitern war sie nach Berlin die größte im Reich: die Leitstelle der Geheimen Staatspolizei in Düsseldorf. Ihr Aktenbestand blieb erhalten. Jetzt wird er in einer aufwändigen, kommentierten Edition allgemein zugänglich gemacht.

Die Edition umfangreicher Aktenserien, die für die historische Forschung wichtige Quellen darstellen, ist nicht selten ein jahrelanges Unternehmen. Daher wird ein solches Projekt in vielen Fällen einem institutionellen Träger, z.B. einer Historischen Kommission oder einer wissenschaftlichen Akademie, anvertraut, um in die Arbeit die nötige Kontinuität zu bringen.

Im Fall der Lageberichte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die seit April 1934 im ganzen Reich von den Gestapostellen an das Geheime Staatspolizei-Amt (Gestapa) in Berlin gerichtet wurden, hat sich für die Berichte aus der ehemaligen preußischen Rheinprovinz die traditionsreiche Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde in Köln zur Herausgabe dieser Meldungen entschlossen. Die Gerda Henkel- sowie die Fritz Thyssen-Stiftung finanzieren das Projekt, es wird vom ehemaligen Direktor des Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchivs in Düsseldorf, Prof. Dr. Ottfried Dascher, und vom Autor betreut.

Die Edition von Gestapo-Lageberichten ist für viele andere Regionen des NS-Staats schon geleistet worden. So sind z.B. in den letzten fünfzehn Jahren die Veröffentlichungen für die preußischen Provinzen Brandenburg, Hannover, Hessen-Nassau und Sachsen (Halle-Merseburg) und daneben auch für andere Teile des Reichs wie die Freistaaten Baden und Hessen vorgelegt worden.

Eine der Hauptfragen ist dabei immer wieder: Handelt es sich bei diesen Berichten um "Abbildungen der Realität oder reine Spekulation?" Mit anderen Worten: Was geben die Lageberichte her für die Ermittlung der wahren Stimmung der Bevölkerung, aber auch für die Selbstwahrnehmung der Gestapo im Verhältnis zu anderen Formationen des NS-Regimes?

Die Berichte wurden von den Leitern der Gestapostellen meist aufgrund von Nachrichten aus den Referaten und Abteilungen der lokalen Niederlassungen verfasst. Sie sollten nur den Spitzen des NS-Regimes, vor allem aber der Gestapo-Leitung in Berlin (Himmler und Heydrich) und einem eng begrenzten inneren Kreis der NS-Führung, zugänglich sein und ihnen eine möglichst realistische Beschreibung der Volksstimmung liefern. Dazu gehörten nicht zuletzt Meldungen über die wirtschaftliche Lage und die Versorgung der Bevölkerung, die in diesen Berichten, je unterschiedlich nach Regionen, einen beträchtlichen Umfang einnehmen konnten; aber auch Nachrichten über die Observierung der "Gegner" des NS-Staats, wozu die Gestapo z.B. den Katholizismus, den Protestantismus, die Kommunisten, Juden, Sozialdemokraten und die Straßer-Bewegung (eine vom NS abgespaltene Gruppe) rechnete. Zuweilen gehörten dazu auch Meldungen über andere Gliederungen und angeschlossene Verbände der NSDAP, die der Orientierung der höchsten Gestapo-Führung in Berlin dienen sollten.

Für die jetzt zu edierenden Lageberichte aus der ehemaligen preußischen Rheinprovinz (Regierungsbezirke Düsseldorf, Köln, Aachen, Trier und Koblenz) spielten aber verständlicherweise auch Nachrichten aus den westlichen Grenzzonen, insbesondere die Observierung und Kontrolle der westlichen Reichsgrenze gegenüber den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, eine wichtige Rolle, da es hier galt, sowohl Fluchtbewegungen aus dem Reich als auch die Infiltration ausländischer Agenten zu verhindern.

Unter den rheinischen Gestapostellen nimmt die Düsseldorfer Stelle insofern eine besondere Position ein, als sie (a) nach Berlin die größte war und es sich (b) hier insgesamt um den größten Bestand an Akten handelt, der nach 1945 außerhalb von Berlin von einer Stelle erhalten geblieben ist.

Neben den Gestapo-Lageberichten selbst, die Zusammenfassungen darstellen, gehören dazu vor allem Akten über Einzelvorgänge z.B. des Referats zur "Bekämpfung der weltanschaulichen Gegner", insbesondere der Kommunisten, und die Akten des Judenreferats.

Dabei fällt generell auf, dass die Gestapostellen mit dem verhältnismäßig kleinen Personalbestand an hauptamtlichen Bediensteten eine unverhältnismäßig scharfe Kontrolle der Bevölkerung ausüben konnten, vor allem, weil es an Denunziationen aus der Bevölkerung und an Intrigen und übler Nachrede durch unzufriedene Parteigenossen nicht mangelte. Eine Formel hierfür ist in der Forschung die "sich selbst observierende NS-Gesellschaft" geworden. Diesen Anschwärzungen konnte dann auch mit geringem Personalbestand nachgegangen werden. So gab es in der Gestapostelle Düsseldorf, die 1935 einen Regierungsbezirk mit 4,15 Millionen Einwohnern zu kontrollieren hatte, nur 170 Mitarbeiter, gefolgt von den Gestapo-Stellen in Kiel mit 115 und Breslau mit 96 Mitarbeitern. Im Reichsdurchschnitt ergab sich zu dieser Zeit eine "Observierungsdichte" von 8.500 Menschen, die ein einziger Gestapo-Mitarbeiter zu kontrollieren hatte. Die Gestapostelle Berlin hatte zu diesem Zeitpunkt 410 Bedienstete und fiel insofern aus dem Rahmen.

Die vergleichsweise umfangreich erhalten gebliebenen Düsseldorfer Gestapo-Akten insgesamt sind aber auch im Hinblick auf die Frage von Interesse, inwieweit sie in die Anfertigung der eigentlichen Lageberichte Eingang bzw. darin ihren Niederschlag gefunden haben. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass diese Quellen durch besondere Nähe zur Realität ausgezeichnet waren, so dass der Gehalt der Lageberichte in Einzelfällen zu prüfen ist. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass selbst ein totalitäres Regime, dem erhebliche Terrorgewalt zur Verfügung stand, von der es brutal Gebrauch machte, dennoch wissen wollte, wie die tatsächliche Stimmung in der Bevölkerung war und wie das Volk über die Regierung und die Partei dachte. Dies zumal in einer Phase, in der die NS-Herrschaft 1934 noch keineswegs ganz gesichert schien.

Sind es also zuverlässige Quellen oder stellen sie stilisierte Fiktionen dar?

Man kann ihnen wohl zu einem beträchtlichen Teil eine realistische Berichterstattung bescheinigen. Unter anderen Aspekten wiederum, wenn es z.B. um die Rivalitäten der verschiedenen nationalsozialistischen Machtzentren untereinander ging, wurden allerdings auch manche Meldungen in die Berichte aufgenommen, die gegenüber der Partei oder einzelnen Ministern gezielt Gerüchte kolportierten, also tendenziös und für diese konkurrierenden Stellen eher von Nachteil waren. Man könnte hier zuweilen im Hinblick auf NS-interne Konkurrenten durchaus von "Binnenpropaganda" sprechen.

Aber insgesamt wird man auch den Gestapo-Lageberichten aus den rheinischen Gebieten, wie vielen aus anderen Regionen des Reichs auch, einen überdurchschnittlichen Informationsgehalt zubilligen können, der aber dennoch eine kritische Edition notwendig macht und die Herausgabe zugleich rechtfertigt. Die Berichte, voraussichtlich vier Bände, werden durch die geplante Veröffentlichung der wissenschaftlichen Forschung zugänglich. Sie können dann auch mit den anderen genannten Regionen und deren Berichterstattung an die Berliner Zentrale besser verglichen werden.

Einstweilen ist aber noch beträchtliche Arbeit zu leisten, bis der erste fertige Band in etwa einem Jahr vorgelegt werden kann. Jedoch dürfte die schwierige Phase der langwierigen Sammlung und Sichtung der lückenhaften Düsseldorfer Aussteller- bzw. der oft nicht zusammenhängenden Berliner Empfängerüberlieferung ("Rückgratüberlieferung"), wodurch für die Bearbeiter viele Suchaktionen notwendig wurden, jetzt überstanden sein, so dass endlich das Hauptaugenmerk auf die notwendige kritische Kommentierung der Lageberichte gelegt werden kann.

(Der Autor, Prof. Dr. Kurt Düwell, ist Emeritus des Lehrstuhls für Landeszeitgeschichte NRW der Heinrich-Heine-Universität.)


Zur Information:

Das am 20. April 1934 gegründete Geheime Staatspolizei-Amt (Gestapa) des NS-Staats, das sich bald zur Gewalt- und Terrorzentrale entwickelte und aus dem 1939 das berüchtigte Reichssicherheitshauptamt (RSHA) hervorging, stellt eine von der normalen deutschen Polizei separierte politische Polizei dar, die keiner anderen Staatsgewalt oder Gerichtsbarkeit untergeordnet war.

Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) war der SS-Führer Heinrich Himmler, der Leiter des Gestapa war unter Hiimmler Reinhard Heydrich. Im Berliner Gestapa liefen u.a. alle Fäden der politischen Berichterstattung zusammen. Sie stützten sich vor allem auf die Lageberichte der über das ganze Reich verteilten Gestapostellen, deren Leiter diese Berichte zu liefern hatten. Es entstand eine riesige Textüberlieferung, von der die Berichte aus der ehemals preußischen Rheinprovinz trotz ihres großen Umfanges nur einen Teil darstellen. (Kurt Düwell)

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution223


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Rolf Willhardt, 13.01.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2010