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FORSCHUNG/093: Reaktion der Staates auf Terrorismus (Uni Tübingen)


Universität Tübingen - Pressedienst Forschung Aktuell 5/2007 vom 4. Juni 2007

"Die Grundwerte der Gesellschaft standen zur Debatte"

Wie der deutsche Staat in den 1970er-Jahren und 1878 auf terroristische Taten reagiert hat


Der Terrorismus der RAF in den 1970er-Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland bis ins Mark getroffen. Obwohl der Begriff Terrorismus nach heutigem Verständnis erst in dieser Zeit geprägt wurde, ist das Phänomen nicht neu. Stephan Scheiper vom Seminar für Zeitgeschichte hat unter anderem untersucht, wie die staatlichen Akteure in Deutschland 1878 und in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre auf Attentate reagiert haben.


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Als die "Rote Armee Fraktion" (RAF) und weitere Gruppen wie die "Bewegung 2. Juni" in den 1970er-Jahren Sprengstoffanschläge, Banküberfälle, Geiselnahmen und Morde verübten, schien die Bundesrepublik Deutschland infrage gestellt, der Staat, die Gesellschaft, das Wirtschaftssystem und die Demokratie. Der Terrorismus sollte den Staat an empfindlichen Stellen treffen und erpressbar machen. Der Historiker Stephan Scheiper vom Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen hat untersucht, wie die staatlichen Akteure auf die politisch motivierte Gewalt reagierten und auf welche Erfahrungen aus früheren Ereignissen - wie zum Beispiel auf Anschläge auf Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878 - sie zurückgegriffen haben. Es ging dem Forscher dabei nicht um den Terrorismus selbst, die Motive der Attentäter oder ihre Strategien. Scheipers Arbeit wurde vom Forschungsprojekt der Volkswagenstiftung "Regieren im 20. Jahrhundert" unter der Leitung von Prof. Dr. Gabriele Metzler finanziert.

"Der Terrorismus in den 1970er-Jahren war vor allem ein Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol", sagt Stephan Scheiper. Der Staat schien nicht mehr in der Lage zu sein, die Sicherheit der Gesellschaft und der Bürger zu gewährleisten. Der Forscher hat zunächst versucht, die Ereignisse der 1970er-Jahre chronologisch zu ordnen. Dazu hat er staatliche Akten des Bundesinnen- und des Bundesjustizministeriums, des Bundeskriminalamts (BKA) und der Generalbundesanwaltschaft studiert. Diese staatlichen Akten unterliegen einer Sperrfrist und sind erst teilweise freigegeben. "Mit den Untersuchungen hätte man gar nicht viel früher beginnen können", sagt Scheiper. Der Begriff Terrorismus sei im öffentlichen Diskurs erst Ende der 1960er-Jahre aufgetreten. Darunter wurden weltweit verschiedene Phänomene zusammengefasst wie die El-Fatah in Palästina seit 1967 oder Gruppen in den USA, Japan und anderswo. In Deutschland bildete sich 1970 die RAF aus der Baader-Meinhof-Gruppe, als Andreas Baader nach der Verurteilung für einen Sprengstoffanschlag aus der Haft befreit wurde. Die RAF bejahte die Gewaltanwendung und den Schusswaffengebrauch vorbehaltlos. Erste Todesopfer waren Polizisten.

"Staatlicherseits versuchte man zunächst, diese Gewalt als normale Kriminalität zu behandeln", sagt Scheiper, "doch die Medien, allen voran die Springer-Presse und der 'Spiegel', schaukelten sich in ihren Forderungen gegenüber dem Staat, härtere und andere Maßnahmen zu ergreifen, gegenseitig auf." Die Politiker hätten versucht, die Lage zu beruhigen. Allerdings seien unter dem damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher bereits seit 1969 die Möglichkeiten zur Verbrechensbekämpfung verbessert worden. Allein die Zahl der Mitarbeiter des Bundeskriminalamts (BKA) wurde in kurzer Zeit von 600 auf 2000 erhöht und das Amt technisch besser ausgestattet. Das BKA sollte eng mit den Länderpolizeien zusammenarbeiten. Auch der Bundesgrenzschutz (BGS) wurde in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre zu einer Bundespolizei umgestaltet. 1970 gab es das erste Sofortprogramm zur Verbrechensbekämpfung, 1972 folgte das Programm für die Innere Sicherheit in erweiterter Form. "Vielen kritischen Stimmen ging dieser Ausbau nicht weit genug. Entscheidend für diese Sicht und die Folgeentwicklungen war vor allem das Olympia-Attentat von 1972. Damals redete kaum jemand von zu viel Polizeistaat - im Gegenteil. Für den Terrorismus wurde von konservativer Seite die sozialliberale Koalition in der Bundesregierung mit verantwortlich gemacht", sagt Stephan Scheiper. Es habe jedoch keine Partei gegeben, die mit der RAF sympathisierte. Grundkonsens sei gewesen, dass Gewalt kein Mittel der Politik sein dürfe. "In der Öffentlichkeit wurden die politischen und kriminellen Ziele der RAF eher vermischt, die staatlichen Akteure mussten eine Leitfunktion übernehmen und Orientierung geben."

Ihren Höhepunkt erreichte die terroristische Gewalt im "Deutschen Herbst" 1977. "Die Grundwerte der Gesellschaft standen aber schon seit einiger Zeit zur Debatte", sagt Stephan Scheiper. Der Staat reagierte unter anderem mit dem Paragrafen 129a, um den Terroristen beizukommen: Danach können auch Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, die Morde oder Geiselnahmen zum Ziel hat, zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, selbst wenn ihnen eine Tat nicht persönlich nachgewiesen werden kann. "Zum Beispiel ist bis heute nicht klar, wer Hanns Martin Schleyer ermordet hat, obwohl man die vier Personen kennt, die die Entführung vorgenommen haben." Hier die Bestrafung durchführen zu können, bedeutete, staatliche Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Die eigentliche Funktion des Paragrafen 129a habe aber in seinem symbolischen Gehalt gelegen, nämlich der Gesellschaft zu demonstrieren, wer außerhalb ihrer Grundwerte steht. "Das Bewusstsein, dass man auch bei der Bekämpfung des Terrorismus Maß halten sollte, war bei den Politikern vorhanden. Denn die staatlichen Akteure in den 70er-Jahren vollzogen ihre Politik noch stark in Abgrenzung zu den Entwicklungen in der Weimarer Republik", sagt Scheiper. Ihnen habe noch deutlich vor Augen gestanden, wohin zu viel gesellschaftliche oder eine missbrauchte staatliche Gewalt führen kann - in Unfreiheit, Diktatur und Krieg.

Mit 1977 endete jedoch diese fundamentale Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, auch wenn der letzte spektakuläre Mord der RAF erst 1991 an Detlev Karsten Rohwedder, dem Vorsitzenden der Treuhandanstalt, verübt wurde. "Die Auflösung der RAF 1998 war schließlich eine Pro-forma-Erklärung", sagt Scheiper. Doch der Terrorismus der RAF und anderer Gruppen hatte gravierende Folgen: "Die westdeutsche Identität seit 1949 hat sich deutlich gefestigt, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, der Medien und der gesellschaftlichen Teilträger wie die Kirchen hat sich im Deutschen Herbst zum Rechts- und Sozialstaat und zur repräsentativen Demokratie als ihrer Basis bekannt. Wie in einem Schutzreflex kam es zur Konservierung der staatlichen und gesellschaftlichen Zustände", erklärt der Historiker. Scheiper geht sogar noch weiter: Der "Deutsche Herbst" habe Deutschland auch international im westlichen Bündnis gefestigt. "Gerade bei der terroristischen Entführung des Flugzeugs éLandshut` nach Mogadischu gab es massive Unterstützung aus Großbritannien, Frankreich und den USA. Nach den gemeinsamen Verlusterfahrungen im Zweiten Weltkrieg wussten auch andere Staaten, dass die Bundesrepublik als freiheitliche und demokratische Gesellschaftsform nicht zuletzt wegen ihrer Frontstellung im Ost-West-Konflikt erhalten bleiben musste, dass sie nicht der Gewalt zum Opfer fallen durfte", sagt der Wissenschaftler. "Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war die Befreiung der Geiseln von Mogadischu. Dabei stellte der Staat seine Handlungsfähigkeit unter Beweis und legitimierte seine Existenz vor der Gesellschaft."

Stephan Scheiper hat die staatlichen Reaktionen auf die Gewalt der 1970er-Jahre mit jenen im Kaiserreich verglichen. 1878 vermutete man hinter den Anschlägen auf Kaiser Wilhelm I. Drahtzieher aus dem Ausland oder einen Umsturzversuch durch die Sozialdemokratie - die Ängste bei Bürgertum und Adel waren groß. "Die staatlichen Entscheidungen 1878 fielen nicht demokratisch. Generell wurde die Sozialdemokratie für die Anschläge verantwortlich gemacht, die strafrechtlich nichts damit zu tun hatte", sagt der Forscher. Mit dem "Sozialistengesetz" sei ein großer Teil der Bevölkerung als feindlich gesonnene Gruppe konstruiert und ausgegrenzt worden. "Damit zielte man auf die Erhaltung der Gesellschaftsordnung, also die Klassengesellschaft, ab." Die staatliche Herrschaft unter Reichskanzler Otto von Bismarck habe sich vor allem dadurch in der "Konservativen Wende" 1878/79 für die Zukunft stabilisiert. Handlungsdruck auf die Politiker sei auch 1878 durch die Öffentlichkeit entstanden. "Die Ziele der Attentäter waren symbolische Größen, in den 1970er-Jahren 'der Staat' und die Gesellschaft insgesamt, 1878 der Kaiser als Symbol der Nation und der Herrschaftsform Monarchie", erklärt Scheiper. "Bei der Bekämpfung solcher politischer Gewaltphänomene, die sich gegen die herrschende Ordnung richten, handelt es sich stets um Probleme der gesellschaftlichen Integration, der politischen Partizipation und sozialen Sicherheit. Seit 1878 bis in die 1970er-Jahre versuchte vor allem der Staat diese zu regeln, indem er bestimmte Personen oder Gruppen als Hauptproblem definierte und ausgrenzte", sagt Stephan Scheiper zusammenfassend. "Dadurch konnte Herrschaft erhalten werden."

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Stephan Scheiper
Seminar für Zeitgeschichte
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Telefon: 07071/2 97 73 32
Fax: 07071/29 57 93
E-Mail: stephan.scheiper@uni-tuebingen.de


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Quelle:
Pressedienst Forschung Aktuell 5/2007 vom 4. Juni 2007
Eberhard Karls Universität Tübingen
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit - Michael Seifert
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Verantwortlich für diese Ausgabe: Janna Eberhardt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2007