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FORSCHUNG/099: Handschriften des Benediktinerklosters St. Emmeram (DFG)


forschung 3/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Codex für Codex
In den Handschriften aus dem Regensburger Benediktinerkloster St. Emmeram spiegeln sich die Kultur und der Alltag des Mittelalters. Was die Mönche einst schrieben und sammelten, wird nun in detektivischer Kleinarbeit rekonstruiert

Von Bettina Wagner


Die Altstadt Regensburgs zählt zu den herausragenden Kulturdenkmalen in Deutschland: 2006 wurde das Stadtbild in das Unesco-Welterbe aufgenommen. Eindrucksvolle Gebäude der Romanik und Gotik, weitgehend verschont von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, vermitteln noch heute einen lebendigen Eindruck von der Kultur des Mittelalters. Weniger bekannt ist, dass sich auch zahlreiche Schriftdenkmäler aus Regensburgs Vergangenheit erhalten haben. Sie sind allerdings weitaus schwieriger zugänglich als die historische Stadt. Diese Dokumente werden heute in verschiedenen Bibliotheken und Sammlungen nicht nur in Regensburg aufbewahrt. Um so wichtiger ist es, die wertvollen Handschriften zu erschließen, um die ursprünglichen Zusammenhänge rekonstruieren und damit besser verstehen zu können. Die große Zahl der überkommenen Handschriften ist dabei Fluch und Segen zugleich, denn ihre wissenschaftliche Bearbeitung ist eine Aufgabe für Jahrzehnte. Sie verspricht jedoch vielfältige neue Aufschlüsse über das Geistes- und Kuturleben, ja sogar den Alltag im Mittelalter.

Alle wichtigen Orden des Mittelalters hatten in Regensburg Niederlassungen. Den Klosterbibliotheken ist zu verdanken, dass die schriftliche Überlieferung in so reichhaltiger Form erhalten geblieben ist. Besonders dem Benediktinerorden, dem mittelalterlichen Buchorden schlechthin, kam dabei eine zentrale Rolle zu. Das wichtigste Benediktinerkloster in Regensburg war das Reichsstift St. Emmeram, dessen Ursprung bis in das 8. Jahrhundert zurückreicht. Mehr als 550 Jahre bevor Regensburg das Gütesiegel der Unesco erhielt, zählte der weitgereiste Humanist Enea Silvio Piccolomini St. Emmeram zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt - gleich nach dem Dom und der steinernen Brücke. Der spätere Papst Pius II. (1458-1464) besuchte Regensburg im Jahr 1454 in einer entscheidenden Umbruchzeit. Er war auf dem Weg nach Frankfurt am Main, wo er dem Mann begegnen sollte, der die "Medienrevolution" des 15. Jahrhunderts auslöste: Johannes Gutenberg. Dieser zeigte dem späteren Papst die Druckfahnen der 42-zeiligen Bibel wohl persönlich, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass alle Exemplare bereits Käufer gefunden hätten.

An Innovationen in der Buchherstellung waren auch die Regensburger Benediktinermönche sehr interessiert: Schon seit dem Spätmittelalter beschrieben sie statt des teuren Pergaments zunehmend Papier, das seit dem Jahr 1390 auch in Nürnberg, also unweit von Regensburg, hergestellt wurde. In den 1470er Jahren begannen sie mit dem gezielten Kauf gedruckter Bücher. Beide Faktoren beflügelten das Wachstum der Klosterbibliothek, wie die Quellen zeigen: Verzeichnete der Bibliothekskatalog von 1346 noch 236 Handschriften, so waren um 1450 bereits etwa 350 Bände vorhanden. Am Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich die Zahl sogar mehr als verdoppelt: Neben 580 Handschriften standen nun schon über 200 gedruckte Bücher in der Klosterbibliothek. Im 16. Jahrhundert verlangsamte sich dann die Expansion wieder. Nachdem Regensburg 1542 protestantisch wurde, entwickelte sich das Kloster zwar zu einem Zentrum der Gegenreformation, das seine Bibliothek auch für externe Besucher öffnete. Das Zeitalter der Handschriftenproduktion war aber endgültig vorbei. Der gedruckte Bibliothekskatalog von 1748 führt insgesamt 922 Handschriften an; die Zahl der vorhandenen Drucke wird dagegen auf 20.000 - 25.000 Bände geschätzt.

Während die meisten gedruckten Bücher nach der Aufhebung des Klosters 1810/11 verkauft und so über die ganze Welt verstreut wurden, blieben die mittelalterlichen Handschriften als nahezu komplettes "historisches Ensemble" erhalten, da man die wertvollsten Bände in die zentrale Münchener Hofbibliothek verbracht hatte. In der heutigen Bayerischen Staatsbibliothek sind daher noch etwa 1000 Handschriften aus St. Emmeram vorhanden. Die lange Tradition des Klosters und die weitgespannten Interessen der dort lebenden Mönche machen den Handschriftenbestand nun zu einem einzigartigen Quellenfundus für das mittelalterliche Geistesleben und gleichermaßen zu einem lohnenswerten Forschungsgegenstand für die Mediävistik.

Das herausragende Objekt der Sammlung ist zweifellos der Codex aureus von St. Emmeram, ein 870 an der Hofschule Karls des Kahlen geschriebenes Evangeliar mit reicher Buchmalerei. Der Codex, den ein edelsteinbesetzter Prachteinband ziert, ist bereits am Ende des 10. Jahrhunderts im Regensburger Kloster nachweisbar. Zur gleichen Zeit befand sich auch schon ein recht schmuckloser, aber inhaltlich hoch bedeutender Codex im Kloster: die einzige vollständige Abschrift der Werke der frühmittelalterlichen Dichterin Roswitha (Hrotsvit) von Gandersheim (um 935 - nach 973), die der Humanist Conrad Celtis 500 Jahre später aus der Klosterbibliothek entlieh und, illustriert mit Holzschnitten Albrecht Dürers, zum Druck brachte. Schon die ältesten Handschriften des Klosters bezeugen also überregionale Kontakte sowie ausgeprägte literarische Interessen. Im 11. Jahrhundert erreichte dann das Geistesleben in St. Emmeram einen ersten Höhepunkt. Im Mittelpunkt stand der Mönch Otloh, eine spannungsreiche Persönlichkeit und ein produktiver Bücherschreiber. Unter den etwa 20 Münchener Codices von seiner Hand ist auch ein bemerkenswertes Selbstzeugnis: der 'Liber de temptatione cuiusdam monachi', eine autobiographische Schrift mit einer Aufzählung der von Otloh geschriebenen Handschriften.

Nach einer längeren Phase der Stagnation kam es erst im Spätmittelalter wieder zu einem Aufschwung. Nicht nur die Veränderungen bei der Buchherstellung, sondern auch neue inhaltliche Anstöße waren dafür entscheidend: die monastische Reformbewegung, das Universitätsstudium und der Humanismus. Im Jahr 1452 schloss sich St. Emmeram der sogenannten Kastler Reform an, die nicht nur eine Rückkehr zur strengen Befolgung der Ordensregel forderte, sondern auch Auswirkungen auf das klösterliche Bildungswesen hatte. Mehrere Mönche besuchten in der Folgezeit die neu gegründeten Universitäten von Leipzig (1409) und Ingolstadt (1472), wo sie mit neuen wissenschaftlichen Strömungen in Berührung kamen und Bücher für die Klosterbibliothek besorgten. Die Bibliothekare versuchten, die Neuzugänge adäquat benutzbar zu machen, indem sie die Sammlung neu ordneten und katalogisierten. Wenn die Angaben dieser Kataloge mit den heute noch erhaltenen Büchern zusammengebracht werden, lässt sich die Expansion der Klosterbibliothek bis zum Anbruch der Neuzeit im Detail nachvollziehen.

Voraussetzung für eine solche Rekonstruktion eines gewachsenen historischen Ensembles ist, ähnlich wie in der Denkmalpflege, zunächst eine genaue Erhebung des historischen Befunds. Dabei interessiert nicht nur der Inhalt der Handschriften, sondern auch ihre materielle Beschaffenheit. Zunächst unverständlich erscheinende Zahlen- und Buchstabencodes können vielfach als alte Katalognummern entschlüsselt werden und erlauben so eine Aussage darüber, zu welchem Zeitpunkt ein Buch in der Klosterbibliothek war. Besitz-, Kauf- und Schenkungseinträge informierten darüber, auf welchem Weg und zu welchem Zeitpunkt Bücher in das Kloster gelangten und geben so Einblick in das Beziehungsnetzwerk der Mönche. Diese schrieben nicht nur selbst Codices, sondern kauften auch Bücher oder erhielten sie von Verwandten und frommen Stiftern geschenkt. So finden sich unter den gedruckten Büchern in St. Emmeram unter anderem eine Ausgabe des Canon medicinae des orientalischen Arztes und Universalgelehrten Avicenna (980-1037), die ein Regensburger Apotheker dem Kloster im Andenken an seine verstorbene Frau übergab - ein seltenes Zeugnis für den Buchbesitz von "Praktikern".

Bei der Katalogisierung der Handschriften werden immer wieder Entdeckungen gemacht, die ältere Annahmen der Forschung revidieren. So wurde festgestellt, dass ein Abt, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts einen Neubau der Bibliothek veranlasste, für diese nicht nur in Paris, sondern wohl auch in Oberitalien Handschriften erworben hatte. Daneben konnte nachgewiesen werden, dass erheblich mehr Emmeramer Mönche im 15. Jahrhundert ein Studium absolvierten als bisher angenommen. Bei zahlreichen Codices ergab nämlich die genauere Untersuchung, dass sie im Lehrbetrieb der Universitäten Bologna, Leipzig, Ingolstadt und Wien entstanden waren. Schon das Äußere der Bücher kann ein Indiz dafür sein, denn manche dieser Vorlesungsmitschriften tragen die flexiblen und preiswerten Bucheinbände des Spätmittelalters, "Koperteinbände", die vielleicht von Studenten angefertigt wurden.

Derartige buch- und bibliotheksgeschichtliche Erkenntnisse sind nur bei der Bearbeitung einer größeren geschlossenen Handschriftensammlung zu gewinnen, da hier Vergleiche zwischen verschiedenen Schreiberhänden, Signaturensystemen oder Einbandtypen auf einer breiteren Materialbasis gezogen werden können. Selbstverständlich erschöpft sich die Katalogisierung aber nicht in solchen Detailanalysen. Erst bei der Analyse des Inhalts der Codices werden geistesgeschichtliche Zusammenhänge sichtbar, wie etwa die Aufgeschlossenheit der Mönche für monastische Reformschriften oder ihr Interesse an zeitgenössischen Naturwissenschaften. Immer wieder werden dabei auch bisher völlig unbeachtet gebliebene Textzeugen entdeckt.

Angesichts von nahezu 1000 Handschriften mit sehr vielfältigen Inhalten, deren individuelle Geschichte jeweils im Detail untersucht werden muss, erfordert die Katalogisierung einer solchen Sammlung langfristigen Einsatz. Da das Tagesgeschäft moderner Forschungsbibliotheken primär auf Dienstleistungen für Benutzer ausgerichtet ist, kann die mediävistische Grundlagenforschung, um die es sich bei der Handschriftenkatalogisierung handelt, fast nur von Spezialisten geleistet werden, die sich ganz dieser Aufgabe widmen können.

Dank der kontinuierlichen Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die das Handschriften-Katalogisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek seit über 30 Jahren mit Projektmitteln unterstützt, steht derzeit der dritte Katalogband zu Handschriften aus dem Benediktinerkloster St. Emmeram vor dem Abschluss. Damit ist allerdings noch nicht einmal die Hälfte der in München aufbewahrten Codices dieses Klosters auf dem aktuellem Stand der Forschung erschlossen. Erst wenn der gesamte Bestand neu verzeichnet ist, lässt sich aus den bisherigen Erkenntnissen ein quellenbasiertes Gesamtbild der Bibliotheks- und Geistesgeschichte eines der bedeutendsten süddeutschen Klöster des Mittelalters gewinnen.


Dr. Bettina Wagner ist in der Abteilung für Handschriften und Alte Drucke der Bayerischen Staatsbibliothek München für das Handschriftenerschließungszentrum zuständig.

Adresse: BSB, Ludwigstr. 16, 80539 München

Die DFG fördert die Neukatalogisierung der lateinischen Handschriften aus dem ehemaligen Benediktinerkloster St. Emmeram im Förderprogramm "Kulturelle Überlieferung" im Rahmen der Wissenschaftlichen Literaturversorgungsund Informationssysteme.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Farbig und kunstvoll gestaltet: Die mittelalterliche Dichterin Roswitha von Gandersheim überreicht eine Handschrift ihrer Werke an Kaiser Otto den Großen. Der Holzschnitt stammt aus dem Jahre 1501. Oben: Alte Handschriften-Signaturen sind aufschlussreiche Wegweiser zur Buch- und Bibliotheksgeschichte.

Ein wertvolles Unikat: Die einzige vollständige Abschrift der Dramen Roswithas von Gandersheim stammt aus der Bibliothek des Benediktinerklosters St. Emmeram in Regensburg.

Das mittelalterliche Gebäude-Ensemble von St. Emmeram in einem Kupferstich aus dem frühen 17. Jahrhundert. Die Klosterbibliothek - links im Bild - ist mit dem Buchstaben "P" gekennzeichnet.

Abbildungen: BSB München


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Quelle:
forschung 3/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft,
S. 10-13
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
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"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis 2007: 53,50 Euro (print),
59,50 Euro (online), 62,15 Euro für (print und online)
jeweils inklusive Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2008