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FORSCHUNG/105: Zensur in den Systemen des Ostblocks (highlights Uni Bremen)


highlights Nr. 19/Februar 2008
Informationsmagazin der Universität Bremen

Das große Versteckspiel


Es sollte nur das aufgeführt, ausgestellt und gedruckt werden, was die führende Rolle der kommunistischen Partei in Staat und Gesellschaft unterstrich. Deshalb gab es in den Systemen des Ostblocks eine scharfe Zensur. Wie diese Zensur von 1960 bis 1980 in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Polen funktionierte, wie sie organisiert war, welche Parallelen und Unterschiede es gab - das untersucht gegenwärtig ein Projekt der Forschungsstelle Osteuropa.


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Seit vielen Monaten stöbert Dr. Ivo Bock in Prager und Moskauer Archiven. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen interessiert sich für die Zensur in allen Formen und Schattierungen auf verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Ebenen. Ivo Bock hat in dieser Zeit schon vieles gelesen: Erschütterndes, Unfassbares und Lächerliches. Doch manchmal kann er den Umfang der Zensur, der sich ihm offenbart, noch immer nicht glauben: "Es wurde wirklich alles zensiert. Das 'Schwarze Brett' in der Fabrik, Leserbriefe, Todesanzeigen - sogar die Vignetten von Weinflaschen!"

In den früheren politischen Systemen sowjetischen Typs war die zentral gesteuerte Zensur institutionalisiert. Zensurbehörden gab es in fast allen Ländern des Ostblocks mit Ausnahme von Ungarn und Rumänien. Zensiert und verboten wurde massenhaft und auf allen Ebenen von Wort, Bild und Ton: Theateraufführungen, Filme, Fotografie, Malerei, Bildhauerei, Texte aller Art, Hörfunkbeiträge und vieles mehr. Allerdings längst nicht zu allen Zeiten und in allen Ländern gleich oder gleich intensiv: Es gab durchaus Schwankungen, die nicht nur von Ereignissen wie der Tauwetter-Periode unter dem sowjetischen ZK-Vorsitzenden Nikita Chruschtschow oder dem Prager Frühling bestimmt waren. Wie genau die Zensur in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Polen zwischen 1960 und 1980 funktionierte, was sie einte und was sie unterschied, das versucht das Projekt "Politiken der Zensur" im Forschungsvorhaben "Das andere Osteuropa - die 1960er bis 1980er Jahre" (siehe unten) zu erhellen. Ivo Bock untersucht dabei die Vorgänge in der UdSSR und der Tschechoslowakei.*

Warum gibt es dieses Interesse an der Zensur? "Ein politisches System, das zensiert, schafft durch die Unterdrückung einer offenen, direkten Kontroverse ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Das System erscheint nicht so, wie es ist, sondern so, wie es nach dem Willen der Mächtigen sein soll", sagt Professor Wolfgang Eichwede, langjähriger Leiter der Forschungsstelle Osteuropa und Koordinator des Gesamtprojekts. "Die Schwester der Zensur ist die Täuschung. Und wenn wir die Geschichte Osteuropas studieren und wissen wollen, woran diese Systeme gescheitert sind, dann müssen wir auch wissen, wie und womit sie sich getäuscht haben wie, wo und wann sie mit sich selbst Versteck gespielt haben."


Bestens organisierte Kontrollinstanzen

Ivo Bock ist tief in diese Welt des permanenten Versteckspiels eingetaucht - "nicht, um eine Geschichte der Zensur zu schreiben, sondern um bestimmte Fragen beantwortet zu bekommen." Wie spielten die unterschiedlichen Zensurinstanzen zusammen? Nach welchen Kriterien wurde zensiert? Welche ideologischen und kulturpolitischen Zusammenhänge beeinflussten die Zensurkriterien? Und welcher Sprache bediente sich die Zensur? Nachdem Bock zuletzt mehrere Wochen im Prager Nationalarchiv, im Archiv der Stadt Prag und im Archiv des Innenministeriums der tschechischen Republik Dokumente gesichtet hat, ist er vor allem von der Komplexität und der tiefen Durchdringung der Zensurbehörden in diesem Land überrascht. "Ein derart durchorganisiertes, ineinander greifendes System von Kontrollinstanzen hatte es bis dahin noch nie gegeben." Nach dem Schockerlebnis des niedergeschlagenen Prager Frühlings 1968 wurde in den darauf folgenden Jahrzehnten gerade in der Tschechoslowakei besonders gnadenlos und "effizient" zensiert. "Es ist schon perplex: In einem System, in dem so gut wie nichts geklappt hat, hat die perfekt organisierte Kontrolle ausgesprochen gut funktioniert", so der Wissenschaftler.

Kaum glauben mochte er, wie groß die tatsächliche Anzahl der Akteure war, die bei der Zensur in der damaligen CSSR mitmischten. Offiziell arbeiteten nur 600 Menschen in den Zensurbehörden. Doch Bock hat ein überraschend großes Ausmaß an Selbstzensur auf der Ebene der Verlage, der Journalisten und Kunstschaffenden, der Kultur- und Medieneinrichtungen festgestellt. "Es gab jede Menge Organe und Gremien in Verlagen, Filmstudios oder Redaktionen, die schon eine Vorauswahl trafen." Offen "zensiert" wurde dabei aber nie: Die Sprache der Zensur war ein "Code", der in allen Ländern mehr oder weniger gleich war. "Es wurde in einem Text nichts 'gestrichen', sondern 'verbessert'. Es wurde nicht 'zensiert', sondern 'eine Arbeit mit dem Autor durchgeführt'. Es wurden 'Anmerkungen gemacht', 'Empfehlungen ausgesprochen' oder auch 'von der Veröffentlichung abgeraten'. Aber allen Beteiligten war klar, dass es sich in Wirklichkeit und ohne Diskussionsmöglichkeit um Verbote oder Aufforderungen zum Umformulieren oder Weglassen handelte", so Ivo Bock.


"Gewisse Dinge waren einfach tabu"

Einen Kern seiner Untersuchung stellt die frage nach den Kriterien der Zensur dar. Sehr selten wurden die Eingriffe mit militärischen, wirtschaftlichen oder dienstlichen Geheimnissen begründet. Stattdessen waren es überwiegend "politisch-ideologische Mängel", die zur Zensur eines Filmes, Textes oder Stückes führten. "Gewisse Dinge waren einfach tabu", erläutert Ivo Bock. "Die Politik der Partei und des Staates durfte ebenso wenig in Frage gestellt werden wie ihre Vertreter. Der Marxismus-Leninismus, der so genannte proletarische Internationalismus oder die Beschlüsse des Zentralkomitees oder des Politbüros - alles heilige Kühe, die unantastbar waren." Das galt natürlich auch für historische Ereignisse: Die Geschichte wurde so umgeschrieben, wie die Mächtigen es wünschten. In der Sowjetunion waren es beispielsweise der Hitler-Stalin-Pakt oder das Massaker an polnischen Offizieren in Katyn 1940, die totgeschwiegen wurden. Die Folge dieser Zensur war unter anderem ein "Abwandern" dieser Themen in die alternative Samizdat-Kultur, zu der die Forschungsstelle Osteuropa in den vergangenen 25 Jahren ein weltweit beachtetes Archiv aufgebaut hat.

Der Prager Frühling und die Zeit danach zeigen in vielen Dokumenten, dass die Zensur nicht uniform war, sondern viele Schattierungen und Intensitäten hatte. Auswirkungen hatten diese geschichtlichen Ereignisse auf alle sowjetisch geprägten Systeme. "Als die Medien in Prag anfingen durchzudrehen, mussten wir die Panzer schicken", begründete in der Sowjetunion der dogmatische "Parteiideologe" und ZK-Sekretär für Organisation Michail Suslow den Einmarsch. "Wer schickt die Panzer, wenn bei uns die Medien durchdrehen?" Um dem "vorzubeugen", wurde fortan auch in der UdSSR wieder schärfer zensiert. * Die Zensur in Polen wird von Aleksander Pawlicki, dem Direktor des Cecilia Plater-Zyberk Gymnasiums in Warschau, untersucht.


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Das andere Osteuropa

Das hier vorgestellte Projekt "Politiken der Zensur ist eines von vier Teilprojekten innerhalb des umfassenden Forschungsvorhabens "Das andere Osteuropa - die 1960er bis 1980er Jahre. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur. Das Gesamtprojekt will im Kern Wesen und Wirken, Bedingungen, Behinderungen und Chancen des "anderen bzw. "inoffiziellen Osteuropas erforschen, das es trotz aller Verbote oder Einschränkungen im Verborgenen gab - mal brutal verfolgt, mal gnädig toleriert, je nach politischer Wetterlage. Zusammen mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen bilden Institute aus Budapest, Moskau, Posen und Prag einen Verbund, der "das andere Osteuropa erforscht. Das Gesamtprojekt läuft vom 1. Juli 2006 bis 31. Dezember 2008 und wird von der VWStiftung gefördert. Die Ergebnisse werden in vier Bänden publiziert.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, aufbewahrt im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa: Abschriften von Alexander Solschenizyns Brief an den IV. Kongress des sowjetischen Schriftstellerverbands (Mai 1967) mit der Forderung nach Abschaffung der Zensur.

"Warum?" - gefragt auf tschechisch und auf russisch. Fotos von der Okkupation der Tschechoslowakei, die im August 1968 in Prag als Flugblätter zirkulierten.

Untergrund-Kultur: Kirill Uspenskijs Tagebuch aus der Untersuchungshaft in Leningrad (1960)

Osteuropa-Forschung ist Arbeit in den Archiven. Hier hält Ivo Bock von der Forschungsstelle zwei Ausgaben der Memoiren des tschechischen Literatur-Nobelpreisträgers Jaroslav Seifert in den Händen. Der größere Band ist das "Untergrund-Original", der kleinere die zensierte Version.

Foto-Dokument aus der Forschungsstelle: Treffen von Unterzeichnern der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77.


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Die Forschungsstelle Osteuropa

an der Universität Bremen besteht seit mehr als 25 Jahren. Sie untersucht zeitgenössische Entwicklungen in Kultur, Politik und Gesellschaft der Länder Ostmittel- und Osteuropas. Dabei hat sie innerhalb der deutschen Forschungslandschaft ein eigenes Profil: Sie rückt in ihrer Arbeit die kulturellen Traditionen und Potenziale der Länder selbst ins Zentrum, um ein Verständnis dieser Länder von innen heraus zu ermöglichen. In den 1980er Jahren standen Zeugnisse unabhängigen künstlerischen Schaffens und intellektueller Produktion des Untergrunds im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Ergebnis war unter anderem ein weltweit anerkanntes und umfassendes Archiv an "Samizdat-Literatur. Seit den 1990er Jahren werden an der Forschungsstelle zunehmend auch die politische und ökonomische Kultur der jeweiligen Länder untersucht. Neben den Bereichen Forschung und Bibliothek/Archiv bildet die Öffentlichkeitsarbeit in Form von internationaler Kultur- und Politikberatung einen Arbeitsschwerpunkt der Forschungsstelle.

Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen
Dr. Ivo Bock
Tel. (+49) 0421 / 218-3483
E-Mail ibock@uni-bremen.de
www.forschungsstelle.uni-bremen.de


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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
Heft 19 - Februar 2008, S. 8-12
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen,
Redaktion: Universitäts-Pressestelle
Postfach 33 04 40, 28334 Bremen
Telefon: 0421/218-60150
E-Mail: presse@uni-bremen.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2008