Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

FORSCHUNG/106: "Achtung, Zigeuner!" (DFG)


forschung 2/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

"Achtung, Zigeuner!"

Zwischen Verklärung und Vernichtung: Der gesellschaftliche Umgang mit dem "fahrenden Volk" wandelte sich über Jahrhunderte immer wieder. Bis heute prägen Stereotype die Wahrnehmung der Sinti und Roma

Von Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut


Wie sind die Menschen in den letzten beiden Jahrhunderten mit Armen und Fremden umgegangen? Neben den Juden gehören die "Zigeuner" zu den ältesten Minderheiten in Europa. Die Geschichte beider Gruppen ist über Jahrhunderte hinweg eine des unberechenbaren Wechsels von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen - bis hin zum menschenverachtenden Völkermord im 20. Jahrhundert.

Die gesellschaftliche Stellung der "Zigeuner" wurde geprägt von einer Fülle sich wandelnder Projektionen, Bilder und Stereotypen der Mehrheit. So spiegelt die europäische Zigeunerromantik des 19. Jahrhunderts die Sehnsucht nach Ausbruch aus den engen bürgerlichen Konventionen der Zeit. Von der bekanntesten imaginären "Zigeunerin", Bizets Carmen, gingen für das zeitgenössische Bürgertum sowohl Faszination als auch Bedrohung aus. Die Kriminologen des frühen 20. Jahrhunderts wiederum sahen in jedem "Zigeuner" rundweg einen geborenen Verbrecher. Im Rückblick wurde der soziale Status der "Zigeuner" umso prekärer, je weiter die Staatenbildung auf dem europäischen Kontinent voranschritt und je effizienter das Territorium kontrolliert werden konnte. Zu einer Wende kam es erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Bei ihrer Ankunft im spätmittelalterlichen Europa waren die "Zigeuner" zunächst leicht in das herrschende Weltbild einzugliedern: Fahrendes Volk, an dessen Spitze ein "Fürst" stand, das sein Brot mit der Darbietung von Kunststücken verdiente und dessen Umherziehen religiöse Gründe hatte. Das war damals nichts Ungewöhnliches. Dennoch blieb die gesellschaftliche Position der "Zigeuner" schlecht und Bleiberechte waren leicht wieder rückgängig zu machen. "Zigeuner" galten als Arme und Fremde. In den Augen der Mehrheit rechtfertigte dies schon bald ihre Vertreibung, in Osteuropa sogar ihre Versklavung.

Als "Zigeuner" bezeichnete man schon im 15. Jahrhundert Menschen, die der damaligen Auffassung zufolge aus dem fernen, unbekannten Ägypten kamen oder, so die herrschende Meinung ab 1800, aus Indien - ein "fremdes Volk" also. Gleichzeitig erhielt das Wort eine zweite Bedeutung im Sinne von "umherziehende Menschen", "Gauner" und "Vaganten". So verstanden, waren "Zigeuner" kein fremdes Volk mehr, sondern "Diebe" und "Gesindel" aus der Nachbarschaft, wie der Rechtsgelehrte Camerarius die um 1600 in Europa geltende Lehrmeinung formulierte. Diese beiden unterschiedlichen Bedeutungen - "Zigeuner" als Volk und als soziale Randgruppe - ermöglichten durch ihre Unschärfe auch die spätere Verfolgung und Ausgrenzung eines möglichst großen Personenkreises.

Die als "Zigeuner" Stigmatisierten, zu denen später oftmals alle Nichtsesshaften gerechnet wurden, stimmen also allenfalls zum Teil überein mit den Sinti und Roma, die Anfang der 1980er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland offiziell als ethnische Minderheit anerkannt wurden. Auf den rechtlichen und sozialen Status der "Zigeuner", wie er sich in historischen Lexika, Reisebeschreibungen, polizeilichen und literarisch-künstlerischen Darstellungen spiegelt, wirkten sich die jeweils herrschenden Vorstellungen von "Zigeunern" unterschiedlich aus.

Während die sozialen Stigmata der Heimatlosigkeit, Asozialität und Arbeitsscheu die gesellschaftliche Ausgrenzung vorbereiteten und vorantrieben, waren die Vorstellungen von den "Zigeunern" als einem eigenen Volk nicht nur negativer Art. Für den Geschichts- und Kulturphilosophen Johann Gottfried Herder etwa, der "Zigeuner" zu den "fremden Völkern in Europa" rechnete, waren sie eine Nation, die sich einem strengen Assimilationsprozess unterziehen müsse, wenn sie in Deutschland bleiben wolle. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dagegen sah man in den "Zigeunern" aufgrund ihrer indischen Herkunft zunehmend ein frühes "Arier"-Volk, das zumindest entfernt mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft verwandt sei und seinen Charakter beibehalten sollte. Das führte zu einer positiveren Wahrnehmung und Aufnahme der "Zigeuner" in die "arisch"-germanische Welt der Mythen und Kunst. Dabei handelte es sich freilich nur um einen symbolischen Einschluss, den die spätere Rassenpolitik der Nationalsozialisten zurücknahm.

Auskunft über die Formen und Funktionen gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses der "Zigeuner" bietet ein gesamteuropäischer Vergleich, der facettenreiche Entwicklungen in einzelnen Staaten rekonstruieren muss. Die Geschichte der Sinti und Roma in Europa, die heute auf etwa acht Millionen Menschen geschätzt werden, war stets verknüpft mit pauschalen "Zigeuner"-Stereotypen und dem sogenannten "Zigeuner-Wissen", das seit Jahrhunderten über den gesamten Kontinent zirkulierte. Diese Zuschreibungen gilt es näher zu erforschen. In der populären Kultur zeigt sich, dass sich unterschiedliche "Zigeuner"-Vorstellungen in west- und osteuropäischen Ländern und Kulturräumen entwickelten. Die "Zigeuner"-Idole Preciosa, Carmen, Esmeralda und Quasimodo (der Glöckner von Notre Dame) stammen auffälligerweise samt und sonders aus der romanischen, also westeuropäischen Tradition. Offensichtlich hat nur diese einprägsame Figuren hervorgebracht, deren Charakter so beschaffen war, dass sie bis heute verbreitet und bekannt sind. Ein ähnliches Ergebnis ergibt der Blick in die Werke eines populären deutschen Autors: Wenn der Schriftsteller Karl May im späten 19. Jahrhundert positiv gezeichnete "Zigeuner" beschreibt (was nicht selten ist), sind es in der Regel "Gitanos".

Osteuropäische "Zigeuner" sind im kollektiven Bewusstsein hingegen meist als abgewertete, primitive und willensschwache Gruppe präsent. Das mag eine Erklärung in dem "Sklaven"-Status der "Zigeuner" in den rumänischen Fürstentümern haben. Diese werden meist als elend und arm beschrieben, und auch vordergründig romantisierende Gemälde und frühe Fotografien zeigen sie oft in Lumpen gekleidet und in dürftigen Zelten hausend, zumeist in schicksalsergebener Haltung. Auch Reiseaufzeichnungen schildern sie hungernd und bettelnd. Dennoch gab es in Osteuropa trotz aller negativen Bilder auch Ansätze zur Idealisierung der "Zigeuner-Freiheit" oder "Zigeuner-Kunst". Das Beispiel der in Österreich populär gewordenen ungarischen "Zigeuner-Musik" steht dafür.

Das im deutschsprachigen Raum entstandene Wissen über Zigeuner nimmt häufig Bezug auf diese stark abgewerteten "Zigeuner"-Gruppen aus Osteuropa. Markante Beispiele dafür sind Heinrich Moritz Grellmanns "Historischer Versuch über die Zigeuner" (1787), dessen Bedeutung für Osteuropa kaum überschätzt werden kann, und die Arbeiten des Ethnographen Heinrich von Wlislocki aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Wlislocki untersuchte die Sitten und die Bräuche osteuropäisch-siebenbürgischer "Wanderzigeuner" und versuchte, ihre Mythen, Lieder und Tänze einem breiten deutschen Publikum als "echt zigeunerisch" nahezubringen.

Beim sozialen und politischen Umgang mit "Zigeunern" sind neben vielen Gemeinsamkeiten von Land zu Land zum Teil gravierende Unterschiede festzustellen. Dies hängt zusammen mit unterschiedlichen Herrschaftsformen, der jeweiligen ökonomischen Lage, der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung und nicht zuletzt mit den sich verändernden Selbstbildern der Mehrheit. In den rumänischen Fürstentümern etwa galten "Zigeuner" zwischen dem 15. Jahrhundert und 1855/56 als Sklaven, sie konnten verkauft und versteigert sowie zu jeder Arbeit gezwungen werden. Die "Zigeuner" waren zwar gesellschaftlich akzeptiert (nicht zuletzt, weil man auf ihre Arbeitsleistung angewiesen war), hatten jedoch einen sehr niedrigen gesellschaftlichen Status inne.

Auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs wurden bis ins 19. Jahrhundert kaum Versuche unternommen, Umherziehende in die wirtschaftlichen Strukturen einzubinden. Mit diesem ökonomischen Ausschluss ging ein zeitweiliger symbolischer Einschluss einher - mittels der Phantasien von "echter Zigeuner-Kunst" und mythischem Ur-Ariertum. Da auf dem Gebiet Deutschlands "Zigeuner" in erster Linie als fremdes und umherziehendes Volk galten, wurden diejenigen Sinti, denen es gelang, ökonomische Nischen für sich zu nutzen und sich in Dörfern oder Städten niederzulassen, meist nicht mehr als "Zigeuner" betrachtet. Für sie galt auch kein Sonderrecht. In den Augen der Mehrheit gab es keine dazugehörenden, sondern nur fahrende, unangepasste "Zigeuner".

In der österreichisch-ungarischen Monarchie hatten bereits im 18. Jahrhundert unter Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Joseph II. ökonomisch motivierte Zwangsassimilationsversuche stattgefunden, die jedoch weitgehend scheiterten. Die Stellung der "Zigeuner" blieb prekär: Als Knechte, Tagelöhner, Soldaten und "Hofzigeuner" standen sie auf einer niedrigen gesellschaftlichen Stufe. Wie überall im Europa des 19. Jahrhunderts lieferten sie die musikalische Begleitung zu den Freiheitsphantasien der Mehrheitsgesellschaft. Es waren interessanterweise gerade diese "Zigeuner-Orchester", die, zunächst in Österreich-Ungarn, nicht wenigen "Zigeunern" eine soziale Perspektive boten. Die damit zusammenhängenden Fragen gilt es in vergleichender Perspektive weiter aufzuklären.

Bisherige Ergebnisse des DFG-Forschungsprojektes "Fremde im eigenen Land. Zur Semantisierung der 'Zigeuner' von 1850 bis zur Gegenwart" sind in drei Sammelbänden ("Fremde Arme - arme Fremde", 2007, "Europa und seine 'Zigeuner'", 2007; "'Zigeuner' und Nation", 2008) veröffentlicht worden sowie im Katalog zur Ausstellung "Achtung, Zigeuner! Geschichte eines Missverständnisses", die im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas von März bis Oktober 2007 im Musée d' Histoire de la Ville in Luxemburg zu sehen gewesen ist.


Prof. Dr. Herbert Uerlings und Dr. Iulia-Karin Patrut
forschen und lehren am Fachbereich Germanistik der Universität Trier.

Adresse:
Universität Trier, FB II Germanistik
Neuere deutsche Literaturwissenschaft, 54286 Trier

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Projekt im
Rahmen des Trierer Sonderforschungsbereichs "Fremdheit und Armut".

www.sfb600.uni-trier.de/?


*


Quelle:
forschung 2/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 9-12
mit freundlicher Genehmigung der Autoren
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Kennedyallee 40, 53175 Bonn
Telefon: 0228/885-1, Fax: 0228/885-21 80
E-Mail: postmaster@dfg.de
Internet: www.dfg.de

"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis: 56,71 Euro (print),
63,07 Euro (online), 66,67 Euro für (print und online)
jeweils inklusive Versandkosten und MwSt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2008