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FORSCHUNG/127: Babylon - Zentrum der Welt (epoc)


epoc 3/10
Geschichte · Archäologie · Kultur

Babylon - Zentrum der Welt
Die legendäre Metropole im Licht der modernen Forschung

Von Eva Cancik-Kirschbaum


Mythos Babylon - Einführung

Wohl nur wenige Städte haben sich so nachdrücklich ins Gedächtnis der Menschheit eingeprägt wie Babylon, die am Euphrat gelegene Metropole Mesopotamiens. Allerdings weniger als Ort der Gelehrsamkeit, der maßgeblich zur Entwicklung von Mathematik und Astronomie beigetragen hat. Schon antike Autoren diskutierten vor allem die enormen Dimensionen der Stadt (siehe den folgenden Beitrag). Fast 90 Kilometer sei ihre Mauer lang gewesen, berichtete Herodot, zudem gut 100 Meter hoch. Und der Philosoph Aristoteles bezweifelte gar, dass ein derart gigantischer Komplex überhaupt als Staatsgebilde begriffen werden könne, benötigte die Nachricht von der Eroberung Babylons durch persische Truppen doch mehr als drei Tage, um vom einen Ende der Stadt zum anderen zu gelangen.

Von der Monumentalität zum Frevel: Biblischen Autoren diente die Kapitale am Euphrat sogar als Gegenmodell, als hervorstechendes Beispiel eines Götzen anbetenden Staats. Hochmütig versuchten die Babylonier, einen Turm bis zum Himmel zu bauen (mit der bekannten Folge: Gott verwirrte ihre Zungen, und so entstanden die Sprachen der Welt); Generationen später eroberten sie das heilige Jerusalem und entführten das Volk Gottes in die Gefangenschaft. Als verruchtes "Babel", als Chiffre für Laster- und Sündhaftigkeit, blieb die Stadt schließlich dem christlichen Abendland in Erinnerung (siehe den Beitrag S. 24 in der Printausgabe von epoc 3/10).

Wie aber war Babylon wirklich? Archäologische Grabungen haben seine legendären Dimensionen zwar widerlegt, dennoch umfasste das gesamte Stadtgebiet an die 450 Hektar (zum Vergleich: Das antike Rom stand Jahrhunderte später auf einer etwa dreimal so großen Fläche). Monumentalität war also wirklich ein Kennzeichen Babylons, das seinen Einwohnern als Nahtstelle zwischen der Götter- und der Menschenwelt galt. Nicht zuletzt dieser Umstand aber reduziert selbst die beste, an moderner Forschung orientierte Beschreibung auf ein Stückwerk, denn allein die Ausmaße der Ruinenstätte verhinderten bislang eine umfassende Erschließung, von der schwierigen politischen Lage im Irak bis hin zum Ausbruch des Kriegs gegen Saddam Hussein ganz zu schweigen (siehe S. 16 und 32). So bleibt Babylon ein mythischer Ort und seine historische Wirklichkeit eine Landkarte, auf der noch so mancher weiße Fleck die Forscher lockt.

Raute

Zentrum der Welt

Jahrtausendelang galt die Metropole im Zweistromland als größte Stadt der Welt und als Achse zwischen den Reichen der Menschen und der Götter.

Babylon - Sitz des Lebens!
Babylon - Macht der Himmel!
Babylon - Licht der Himmel!
Babylon - von den Himmeln ins Dasein gerufen!
Babylon - Stadt des Königs der Götter!
Babylon - Stadt von Wahrheit und Gerechtigkeit!
Babylon - Stadt des Überflusses!
Babylon - Schöpfe von Gott und Mensch!
Babylon - Stadt, deren Bewohner beständig feiern!
Babylon - Band der Länder!

(aus der 1. Tafel der Stadtbeschreibungen)

Babylon am Euphrat galt den Völkern der Alten Welt als Inbegriff einer Stadt mit vielerlei Identitäten: auf der einen Seite Abbild des Kosmos, Tor der Götter und prunkvolle Residenz mächtiger Könige, auf der anderen ein urbaner Moloch, Sitz korrupt-dekadenter Tyrannen, nicht zuletzt Ort menschlicher Hybris und göttlichen Gerichts.

So unterschiedlich die Vorstellungen auch sein mochten - das Motiv der gewaltigen Dimensionen und die architektonische Monumentalität Babylons bestimmten das Bild der Stadt. Zwei Strukturen nahmen dabei einen besonderen Platz ein: die Mauern und der Turm von Babylon. Anders als die legendären Hängenden Gärten zählten sie nicht zu den Weltwundern der Antike, doch waren sie es, die Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung dieser Stadt entscheidend prägten. Keine andere der großen Städte des alten Vorderasien, mochte sie auch mit gewaltigen Mauern und Tempeltürmen ausgestattet gewesen sein, hat je eine vergleichbare Rezeption erfahren.


ANTIKES WELTWUNDER

Im 2. Jahrhundert v. Chr verfasste Antipatros von Sidon einen Reiseführer zu den größten Sehenswürdigkeiten seiner Zeit. Dass die "Hängenden Gärten" von Babylon wirklich existiert haben, wird heute von den meisten Experten bezweifelt. Denkbar wäre aber eine ausgedehnte Dachgartenanlage, was durchaus üblich war.


Der griechische Philosoph Aristoteles diskutierte im 4. Jahrhundert v. Chr. eine Reibe von politischen Grundbegriffen und -bedingungen des Staats. Dabei kam er auch auf die Frage zu sprechen, wie sich dieses vielschichtige Gebilde räumlich konkretisiere. Aristoteles versuchte sich dem Problem über das Phänomen der Polis, also der "Stadt" als "Stadtgemeinschaft" und "Staat", zu nähern:

"Wenn denn Menschen denselben Platz bewohnen - unter welchen Bedingungen kann man annehmen, dass es sich (dabei) um eine Polis handelt? Jedenfalls doch wohl nicht auf Grund der Ummauerungen, denn dann könnte man ja den Peloponnes mit einer Mauer umgeben (und ihn als Polis bezeichnen)! So verhält es sich vermutlich mit Babylon und mit jeder anderen Polis, die eher die Ausmaße eines Volks als einer Polis hat. Wo man ja doch sagt, als diese (gemeint ist Babylon) eingenommen worden war, dass ein Teil der Polis noch am dritten Tag keine Kenntnis davon hatte."

Die Funktionstüchtigkeit des Staats war nach Aristoteles offenbar auch eine Frage der Größenordnung. Die griechische Tradition mit ihren Stadtstaaten wie Athen, Sparta oder Argos bot ihm jedoch gerade kein Anschauungsmaterial für die Problematik; das Beispiel eines per Ummauerung zur Stadt mutierten Peloponnes führte zunächst ad absurdum. Doch es gab ummauerte Siedlungen von dieser Größenordnung - im Orient, und Babylon war das beste Beispiel: eine derartig große Stadt, dass die Nachricht von der Übernahme durch den persischen Großkönig Kyros II. am 22. Oktober des Jahres 539 v. Chr. (falls Aristoteles auf dieses Ereignis anspielte) angeblich mehrere Tage brauchte, bis sie alle Einwohner erreicht hatte. War Babylon überhaupt noch eine Stadt?

Das Babylonbild der Griechen war maßgeblich geprägt durch eine Beschreibung, die der Historiograf Herodot um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. verfasst hatte:

"Sie ist in einer großen Ebene gelegen, lang ist jede Seite 120 Stadien, wobei sie ein Viereck ist. Zunächst umgibt sie ein tiefer, breiter Wassergraben; dahinter aber eine Mauer, deren Breite 50 Königsellen ist, die Höhe aber 200 Ellen. Oben auf der Mauer hat man eingeschossige Türme errichtet, zwischen den Türmen einen Durchgang für ein Vierergespann; die Stadt darin ist voll von Häusern mit drei oder vier Stockwerken und wird durchschnitten von geraden Straßen, die längs des Flusses oder quer auf ihn zulaufen; der Euphrat, ein großer, tiefer, reißender Fluss, der aus Armenien kommt, fließt durch die Mitte hindurch. In der Mitte jedes Teils der Stadt steht ein gewaltiges Gebäude: in der einen der Königspalast, mit einer großen Ringmauer; in der anderen ein Tempel des Zeus Belos. Der Tempelbezirk bildet ein Quadrat, dessen Seite zwei Stadien lang ist, darin ein fester Turm, ein Stadion lang und breit. Darauf steht ein zweiter Turm, darauf wiederum ein dritter, insgesamt acht Türme übereinander. Der Aufgang zu ihnen ist eine Treppe, die außen im Kreis herum hinaufführt."

Im Bericht über die Genese des persischen Weltreichs nahm Herodot die Eroberung Babylons zum Anlass, einen äußerst farbenfrohen Bericht über das Zweistromland, seine Bewohner, deren Sitten und Gebräuche zu zeichnen. Es waren - vor allen anderen Merkwürdigkeiten - wieder und wieder die gewaltigen Dimensionen der Stadt Babylon und ihrer Architektur, die der Grieche aus Kleinasien seinen Lesern vor Augen führte. Herausragend: die umgerechnet 89 Kilometer lange und etwa 102 Meter hohe Mauer, die Herodot zufolge das Stadtgebiet einschließlich Gartenflächen und Brachgebieten umfasste; und dazu die gewaltige achtstöckige Stufenpyramide (Zikkurat) im Tempelbezirk des Stadtgottes Marduk, des Herrschers über Götter und Menschen. Ob Herodot Babylon je selbst gesehen oder Berichte aus zweiter und dritter Hand verwertet hat, ist unter Historikern umstritten.


DAS RÄTSEL DER GROSSEN MAUER

Von diesem einstigen Stufentempel zeugt heute nur noch ein gewaltiger 90 mal 90 Meter großer Graben. Die Backsteine, die einst den aus gestampften Lehm gebildeten Kern des Turms umgaben, sollen auf Geheiß Alexanders des Großen 323 v. Chr. abgetragen worden sein, um den Turm, der den Griechen als Grabmal des Stadtgründers galt, prächtiger wieder aufzubauen. Es blieb jedoch beim Vorhaben: Die Steine wurden später von den Einwohnern beim Hausbau verwendet. Die Versuche, die Gestalt und den inneren Aufbau des Turms - auch anhand von Parallelen aus anderen mesopotamischen Städten - zu rekonstruieren, endeten mit erbitterten Debatten und nicht weniger als 13 verschiedenen Modellen (siehe S. 20 in der Printausgabe von epoc 3/10).

Auch von der von Herodot und anderen beschriebenen Ummauerung sind nur Spuren geblieben; sie zeichnet sich als Erhebung im Gelände ab. Der erste Ausgräber der Stadt, der deutsche Archäologe Robert Koldewey, gab Anfang des 20. Jahrhunderts als Länge etwa 18 Kilometer an, Rekonstruktionen zum aufgehenden Mauerwerk ergaben Höhen von maximal 30 Metern. Wie Herodot zu seiner wesentlich höheren Zahl kam, ist unklar, doch nannten auch andere antike Autoren wie Ktesias von Knidos Ende des 5. oder Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. und, gut ein Jahrhundert später, Kleitarchos aus Kolophon mit jeweils etwa 67 Kilometern auffällig hohe Werte. Man vermutet heute, dass sie eine Angabe zu einer zweiten babylonischen "Mauer" einrechneten, einer wallartigen Anlage von nachweislich etwa 50 Kilometer Länge, die nördlich der Stadt zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris verlief und so den Zugang aus dem Norden abriegelte (siehe Grafik S. 35 in der Printausgabe von epoc 3/10).

Durch die Ausgrabungen der Ruine Babylon, systematisch durchgeführt seit 1899 - mit kriegsbedingten Unterbrechungen -, haben wir Kenntnis vor allem von den späten Phasen der Stadt, also ihren Strukturen seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert. Das hoch stehende Grundwasser lässt für gewöhnlich das Vordringen in die älteren Schichten nicht zu (siehe Interview S. 38 in der Printausgabe von epoc 3/10). Nur an wenigen Stellen ließen sich in günstigen Jahren frühere Perioden der Stadtgeschichte ergraben, die - so wissen wir es aus Texten bis in das ausgehende 3. Jahrtausend v. Chr. - möglicherweise noch weiter zurückreichen dürfte. Die von den Einwohnern "Enlil-Schutzwall" genannte Außenmauer umschloss ein Stadtgebiet von 450 Hektar; das entsprach etwa einem Drittel der Fläche Roms zur Zeit seiner größten Ausdehnung. Doch davon sind heute nur etwa sechs Prozent durch Grabungen untersucht. Zu den wichtigsten und schönsten Funden gehören das Ischtar-Tor und die Mauern der so genannten Prozessionsstraße, die im Vorderasiatischen Museum in Berlin gezeigt werden. Nach vorsichtigen Schätzungen dürften zwischen 50.000 und 80.000 Menschen permanent in Babylon gelebt haben.


MARDUKS TURM

Sehr viel unmittelbarer noch und anschaulicher als die archäologischen Ausgrabungen vermitteln die erhaltenen Schriftquellen ein Bild der antiken Stadt. Eine der wichtigsten ist die "Stadtbeschreibung von Babylon", ein kommentiertes Inventar aller zentralen Anlagen. Der ursprüngliche Text dürfte auf das 12. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen; die erhaltenen Keilschriftmanuskripte des insgesamt fünf Tontafeln umfassenden Werks sind allerdings aus dem 1. Jahrtausend v. Chr., also deutlich jünger. Eingeleitet durch eine Folge von Lobpreisungen listet der Autor den eindrucksvollen Bestand an Tempeln, Straßen, Plätzen, Mauern und Toren auf:

"43 Kultzentren der großen Götter in Babylon, 55 Kultsockel des Marduk, 2 umschließende Mauern, 3 Flüsse, 8 Stadttore, 24 Straßen von Babylon; ... Babylon ist der Ort der Erschaffung der großen Götter! ­...; (das Quartier) vom Markt-Tor zum Großen Tor heißt Eridu; das vom Markt-Tor zum Urasch-Tor heißt Schuanna; das vom Großen Tor zum Ischtar-Tor heißt Kadingirra; das vom Ischtar-Tor zum Belet-Eanna-Tempel am Kanalufer heißt Neustadt; das vom Belet-Eanna-Tempel am Kanalufer zum Marduk-Tor heißt Kullab; das vom Zababa-Tor bis zur Kapelle Die-Götter-achten-Marduk heißt Te-e: (das sind die) 6 Stadtteile auf dem Ostufer; (das Quartier) vom Adad-Tor bis zum Aku-Tor (heißt) ...; vom Aku-Tor zu Enamtila, wo Eschmah gebaut ist, heißt Kumar; Bogen des Belet-Ninua-Tempels bis zum Flussufer (heißt es) Bab-Lugalirra; vom Schamasch-Tor zum Fluss heißt es Tuba: (das sind die) vier Stadtteile auf dem Westufer. (Insgesamt) zehn Stadt(-bezirke), die Überfluss hervorbringen." (In Klammern stehen Ergänzungen, drei Punkte geben nicht mehr lesbare Stellen an.)

Auf welch detaillierte Kataster sich die Stadtverwaltung stützen konnte, zeigt ein kleines Tontafelfragment, das einen Ausschnitt aus einem beschrifteten Plan zeigt. Die legendäre Mauer ist darauf als durchgezogene Linie markiert, das Schamasch-Tor ist eingezeichnet, ferner der Name des zugehörigen Stadtviertels Tuba sowie ein Kanal. Reduziert auf einfache geometrische Formen wurde so der Stadtraum visualisiert. Auf der anderen Seite der Tontafel finden sich exakte Maßangaben für wichtige Bauwerke, so die Mauern, ihre Tore, die Abstände zu den Hauptgebäuden. Es handelt sich vermutlich um eine Lehrtafel, die zu Unterrichtszwecken eingesetzt wurde. Die maßgetreue Abbildung von Städten basiert auf jahrhundertealten Techniken der Grundstücks- und Gebäudevermessung, die in Mesopotamien entwickelt wurden. In der keilschriftlichen Dokumentation zu Babylon (aber auch zu anderen babylonischen Städten wie Sippar oder Nippur) finden sich zudem Detailaufmaße von Mauern und Toren sowie Kalkulationen zum Materialbedarf für die Wiederherstellung baufälliger Strukturen.

Auch über den Turm von Babylon haben sich entsprechende Unterlagen erhalten. So gibt die aus dem frühen 7. vorchristlichen Jahrhundert stammende "Esangila-Tafel" (erhalten in zwei späten Manuskripten aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert) seine Außenmaße mit rund 90 mal 90 mal 90 Metern an und führt sodann die Detailmaße der insgesamt sieben übereinandergestellten Plattformen auf. Format und Werte stimmen mit den Rekonstruktionen der Archäologen überein - und widerlegen Herodot, der von einem kreisförmigen Bauwerk mit acht Stockwerken sprach. Der Stufenturm mit dem Hochtempel des Götterherrn Marduk ragte wie ein Berg über der flachen Landschaft des Zwischenstromlands auf und war von weither zu sehen. So wie die gewaltigen Mauern die Fläche, also die horizontale Ausdehnung markierten, so symbolisierte der Turm die vertikale Achse, sein Haupt reichte scheinbar an den Himmel heran. Der Name des Tempelturms lautete Etemenanki - "Haus, Fundament von Himmel und Erde". Babylon war nach damaliger Vorstellung der Sitz und Versammlungsort der Götter. Das Weltschöpfungslied Enuma Elisch erzählt, wie Marduk selbst Babylon im Mittelpunkt des Kosmos gründete: "Die Anunna-Götter schwangen die Hacke. Ein Jahr lang strichen sie die nötigen Ziegel. Als das zweite Jahr herankam, errichteten sie Esagil, eine Nachbildung des (Süßwasserozeans) Apsu. Sie erbauten den hohen Tempelturm."

Die religiöse Dimension der Stadt wurde mit dieser im 2. Jahrtausend v. Chr. begründeten Tradition als Sitz des Götterkönigs und als mythische Urstadt zur zentralen Ideologie der Menschen. Des Weiteren vereinnahmte Babylon andere sakrale Orte, und es ist sicher kein Zufall, dass die beiden wichtigsten Identitätsgeber der Stadt die beiden altsumerischen Städte Eridu und Nippur waren. Eridu, einst am Ufer des Persischen Golfs gelegen, galt als die erste Gründung der Götter nach der Erschaffung der Erde. Ähnliches nahm das weiter nördlich gelegene Nippur für sich in Anspruch - mehr noch, diese Stadt galt als Weltenachse: Sie trug auch den sumerischen Prunknamen "Duranki", Band zwischen Himmel und Erde.

Zahlreiche Anklänge an die sakrale Namensgebung Nippurs finden sich in den Lobpreisungen, welche die Einleitung der oben zitierten Stadtbeschreibung bilden. Babylon übernahm offenbar die theologisch-kosmologische Identität dieser beiden bedeutsamen Städte und fügte der konkreten räumlichen Wirklichkeit eine weitere, eine theologische hinzu, schuf einen geheiligten Raum, dessen Inhalt und Mittelpunkt die Stadt selbst war. Ihre Mauern, Marduk in seiner Funktion als oberstem Gott zugeeignet, waren Bestandteil dieser sakralen Topografie.


GÖTTLICHER REGIERUNGSSITZ

Gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. war Babylon die mächtigste Stadt Mesopotamiens. So erhielt der Stadtgott Marduk die zentrale Rolle im Pantheon des Zweistromlands, bezeugt durch den Schöpfungsmythos Enuma Elisch. Dem zufolge verhalf Marduk einer jungen Göttergeneration zum Sieg, verlangte dafür aber die Herrschaft. Seine Idee war es auch, die Menschen zu erschaffen, auf dass sie künftig den Göttern dienen sollten.


Babylon als Mittelpunkt des Erdkreises dieses Motiv bestimmte auch den Darstellungsmaßstab der mappa mundi, einer Tontafel aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., möglicherweise ursprünglich in Babylon hergestellt (siehe Foto links). Die Karte stellte die Stadt ins Zentrum der Welt, geometrisch, politisch und mythologisch. Wie aus der Perspektive eines ungeheuer weit entfernten Betrachters, der die Stadt nur noch in den Umrissen ihrer Mauern wahrnehmen konnte, wurde Babylon als Rechteck dargestellt; ein Punkt in dieser Figur symbolisierte vermutlich den Turm. Beischriften identifizierten Orte, Landschaften, Sumpfgebiete, Gewässer, Gebirge, welche der Erdscheibe eingeschrieben waren. Es handelt sich um politisch-geografische Realitäten, die ein Kräfteverhältnis abbildeten, das im Wesentlichen dem frühen 6. vorchristlichen Jahrhundert zugeordnet werden kann, in dem die so genannten chaldäischen Herrscher auf dem Thron Babylons ein Weltreich beherrschten, das große Teile Vorderasiens umspannte.


HERRIN DER ERDE

Dieses "Königtum über die vier Weltgegenden", wie es in der babylonischen Lobrede hieß, wurde mit der Herrschaft über die bewohnte Erde gleichgesetzt. Ihre Grenze fand sie in der "Bitteren", dem Salzwasserozean, der die feste Landmasse nach jener Vorstellung ringförmig umschloss. Um den Erdozean herum ist ein Kranz von (einst) insgesamt acht Zacken in regelmäßigen Abständen angeordnet, die gemäß den erhaltenen Beischriften schwer zugängliche oder weitestgehend unbekannte Gebiete darstellen. Genannt wurde zum Beispiel "die Große Mauer", die in einer Region liegen sollte, in der die Sonne nicht sichtbar war. Hinter der scheinbar nüchternen, so wenig detailgetreuen, vielmehr hochabstrakten babylonischen Weltkarte entfaltete sich die gesamte Ideologie einer Stadt, die nach eigener Anschauung gleichermaßen Mittelpunkt der Welt war und die ganze Welt in sich trug. Urbane Realität und mythische Geografie, sakrale und politische Landschaften verbanden sich in Innen- und Außenansichten zu einem Raumgebilde enormer Komplexität.


Eva Cancik-Kirschbaum lehrt Altorientalische Philologie und Geschichte an der Freien Universität Berlin. Ihr Beitrag basiert auf dem Artikel "Babylon - Dimensionen einer Stadt", der 2009 in "fundiert" erschien, dem Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin.


LITERATURTIPP

Barthel Hrouda
MESOPOTAMIEN
Die antiken Kulturen zwischen Euphrat und Tigris
Ein kurzer Abriss des Alten Orients
[C.H. Beck, 5. Auflage 2008, 126 S., € 7,90]


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 14-15:
Als Ausdruck des Hochmuts stellte sich der "Turmbau zu Babel" im Alten Testament dar. Die Strafe dafür, nach dem Himmel greifen zu wollen, folgte auf dem Fuße die "babylonische Sprachverwirrung".

Abb. S. 16-17:
Eine riesige, quadratisch angelegte Stadt, umgeben von einer mit Türmen gespickten hohen Mauer samt breitem Wassergraben, überragt von einem gewaltigen Tempelturm - das ist das überlieferte Bild Babylons seit der griechischen Antike (hier eine Kinderbuchillustration von 1792).

Abb. S. 19:
BABYLONIEN UND ANGRENZENDE GEBIETE IM 6. UND 7. JAHRHUNDERT V. CHR.
Aus einer kleinen Siedlung im 3. Jahrtausend v. Chr. erwuchs eine Metropole, die nach einem wechselvollen Schicksal im 3. Jahrhundert n. Chr. endgültig zerstört wurde. Seine größte Ausdehnung erreichte das von Babylon aus regierte Reich im 6. Jahrhundert v.Chr.

Abb. S. 20:
Die Vorlage für den biblischen "Turm zu Babel" lieferte der Stufentempel des Stadtgottes Marduk, von dem aber nur Fundamente geblieben sind (siehe Foto oben). Auf Grundlage der Daten und Vergleiche mit den Ausgrabungsbefunden besser erhaltener Zikkurate in anderen Städten des Zweistromlands haben Forscher im Lauf des 20. Jahrhunderts nicht weniger als 13 verschiedene Rekonstruktionen erstellt (Modell nach Hansjörg Schmid, 1991, links; Modell nach Robert Koldewey, 1913, rechts)

Abb. S. 22:
Aus der Blütezeit des neubabylonischen Reichs stammt auch die mappa mundi, eine als Weltkarte gedeutete Keilschrifttafel mit Babylon im Zentrum.


© 2010 Eva Cancik-Kirschbaum, Spektrum der Wissenschaft
Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 3/10, Seite 14 - 22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2010