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FORSCHUNG/133: USA - Die (Un-)Heilige Familie (wissen leben - WWU Münster)


wissen leben - Nr. 5, 6. Oktober 2010

Die Zeitung der WWU Münster

Die (Un-)Heilige Familie

Historikerin untersucht US-amerikanische Gesellschaft im 20. Jahrhundert

Von Brigitte Nussbaum


Vater, Mutter und zwei Kinder - das war und ist das Idealbild von Familie, das die US-amerikanische Gesellschaft beherrscht. Doch die Realität sieht anders aus: Kinder, die in Familien mit nur einem Elternteil aufwachsen, Großfamilien, denen der Ernährer fehlt. Warum aber hält sich dieses Idealbild so hartnäckig und was sagt es über die USA aus? Wie werden Normen ausgehandelt und verändert? Das versucht die Historikerin Prof. Isabel Heinemann mit der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe "Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel: Die US-amerikanische Familie im 20. Jahrhundert" zu klären.

"Wir untersuchen den Zeitraum von 1890 bis in die 1990er Jahre. Da hat sich viel geändert, aber die Themen, die diskutiert werden, sind die gleichen geblieben", erläutert die Junior-Professorin. Ehescheidung, Frauenarbeit, selbstbestimmte Reproduktion sind die großen Komplexe, die das Familienleben in den USA bestimmen. Auf Phasen der Liberalisierung folgten immer wieder Gegenbewegungen, in denen die alten Argumente neu formuliert wurden. "So ist die Frauenarbeit natürlich eine gesellschaftliche Realität, aber die Diskussion darum hat nie aufgehört", sagt Isabel Heinemann.

Am Ideal der weißen Mittelklasse-Familie hatten und haben sich alle auszurichten, auch wenn die soziale Realität deutlich diverser ist. Egal ob alleinerziehende afro-amerikanische Mutter oder mexikanische Großfamilie, wer von diesem Idealbild abweicht, bekommt Probleme in der Gesellschaft. Die Doktorandin Claudia Roesch untersucht die eingewanderten mexikanischen Familien, die eine andere religiöse Bindung und einen anderen kulturellen Hintergrund haben als die meisten Amerikaner. "Die unterschiedlichen Familienkonzepte dienten als Ansatzpunkt für Ausgrenzung", erklärt sie. "Die Großfamilie galt als Grund für Armut und Kriminalität und wurde als Gefahr für die nationale Sicherheit der USA gesehen." Die Einwanderer wiederum begriffen ihre Familienkultur als Schutz vor Diskriminierung und als soziale Sicherung. Sozialarbeit, die darauf angelegt war, die amerikanische Norm zu unterstützen, produzierte zwangsläufig Konflikte.

Die ideale Familie ist so kaum in der Realität zu finden. Wie aber wurde das Bild millionenfach in die Köpfe projeziert? Andre Dechert untersucht für seine Promotion Serien und Filme der 1980er Jahre. "Hier kann man die Auseinandersetzung zwischen konservativen und progressiven Werten besonders gut verfolgen", sagt er. Aus dem nationalen Niedergang der 1970er mit dem Vietnamkrieg und dem Watergate-Skandal um die Bespitzelung von Oppositionspolitikern folgte für konservative Kreise die Forderung nach Rückkehr zu traditionellen Werten, bei der die Figur des Vaters eine zentrale Rolle einnahm. Im folgenden Jahrzehnt standen die gebrochenen Familien im Mittelpunkt von Komödien wie "Eine schrecklich nette Familie". "Eine Kommission des Weißen Hauses bemängelte, dass es nur noch eine Serie gab, die die traditionellen Familienwerte vermittelte: die Cosby Show", erzählt Isabel Heinemann. Und deren Darsteller sind allesamt - schwarz.

Die Diskussion um Werte und Struktur der schwarzen Familien steht im Mittelpunkt der Dissertation von Anne Overbeck. Sie untersucht die Debatten um die reproduktiven Rechte der Frauen, denn immer wieder versuchte der Staat, sich einzumischen. Soziale wie rassistische Vorurteile prägten ein sehr negatives Bild der schwarzen Mütter. Diese wurden beispielsweise in den 1980er Jahren sowohl als Wohlfahrtsbetrügerinnen, sogenannte "Welfare-Queens", als auch als Mütter von künftigen Drogenabhängigen oder Kriminellen porträtiert.

Als kleinste Einheit des gesellschaftlichen Lebens lassen die Vorstellungen von Familie zugleich Rückschlüsse auf die tiefer gehenden Wandlungsprozesse innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu. Und nicht nur dort: Zwar gibt es wichtige Unterschiede zwischen den USA und den einzelnen westeuropäischen Gesellschaften, aber auch Gemeinsamkeiten. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Zusammenhalt beispielsweise prägte nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl die deutsche als auch die amerikanische Gesellschaft. Die Suche nach Sicherheit und privaten Werten stand im Vordergrund. In Deutschland, weil man nichts mehr hatte, worauf man hätte stolz sein können, in den USA, weil man in einem "Klima der Besorgnis", hervorgerufen durch den Kalten Krieg, zumindest in der Familie Sicherheit spüren wollte.

Die scheinbar so privaten Vorstellungen von Familie mündeten immer wieder in Debatten über Abtreibung, Frauenarbeit und die Struktur der afro-amerikanischen und der mexikanischen Familie. Die Diskussion um letztere erinnert an die aktuelle Debatte um türkische Familien in Deutschland, denen mangelnder Integrationswille aufgrund ihrer anderen Familienstruktur unterstellt wird. "Ja, natürlich, die Argumente sind nicht neu, aber das macht sie nicht richtiger oder besser", sagt Historikerin Isabel Heinemann.


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Quelle:
wissen leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 5, 6. Oktober 2010, S. 5
Herausgeberin:
Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Redaktion: Brigitte Nussbaum (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2010