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KULTUR/079: Mit Müsli die Welt verändern (DFG)


forschung 1/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Mit Müsli die Welt verändern

Von Florentine Fritzen


Die Lebensreformer warben für naturnahes Leben. Passende Produkte gab es im Reformhaus. Heute ist die Bewegung Geschichte, doch hat sie das Gesundheitsbewusstsein geprägt


Marie Ernst und Robert Boermel lernten sich am Arbeitsplatz kennen. Im Naturheilsanatorium Stolzenberg zwischen Spessart und Vogelsberg massierte die junge Frau die Patienten, und der junge Mann brachte ihnen bei, wie sie richtig kneippten. Das passte auch privat gut zusammen: Marie und Robert waren Lebensreformer.

Die beiden teilten eine Weltanschauung, über die viele andere Menschen im wilhelminischen Kaiserreich lächelten: Reformer wie Robert und Marie warben dafür, "natürlicher" zu leben. Sie empfahlen Saft statt Alkohol, mehr Frischkost und weniger Fleisch, viel Bewegung, am besten in Wald und Feld, wallende Gewänder statt Korsettkleidern, Licht und Luft statt muffiger Wohnstuben. Menschen wie Marie und Robert empfanden sich als Vorreiter. Sie hofften auf die Zukunft - auf eine Zeit, in der ihre Ideen für ein gesünderes Leben Allgemeingut geworden wären.

Bis dahin aber gab es noch viel zu tun, und so eröffnete das junge Paar nach seiner Hochzeit am Theaterplatz in Frankfurt am Main ein Reformgeschäft mit dem Namen "Boermel-Ernst". Dort verkauften die beiden seit 1904 Waren der Leipziger Thalysia-Werke, eines Unternehmens, das Reform-Nahrung, Reform-Kleidung und Mittel zur Körperpflege herstellte. Maries und Roberts Kunden bekamen in dem kleinen Laden alles, was sie für ihre Lebensweise brauchten: Fruchtpasten, getrocknete Bananen, unpolierten Reis, Pflanzenfett, Reformschuhe, poröse, also "atmungsaktive" Leibwäsche.

Die Reformhausinhaber und die Reformhauskunden sahen sich nicht als Einzelgänger, sondern als Teil einer gesellschaftlichen Strömung, für die schon um die Jahrhundertwende der Name "Lebensreformbewegung" aufkam. Auch Vegetarier, Naturheiler, Kleidungsreformer, Abstinenzler und Nudisten gehörten dazu. Als Teil eines großen Ganzen fühlten sich die Reformer aber auch, weil sie hofften, die Welt verbessern zu können: Wenn möglichst viele Einzelne ihr Heim in einen "Reformhaushalt" verwandelten, dann, so glaubten die Lebensreformer, würde auch die deutsche Gesellschaft eine andere werden.

Das Frankfurter Reformgeschäft war eines der ersten im Deutschen Reich. Ebenfalls um die Jahrhundertwende entstanden die ersten Herstellerbetriebe für Reformwaren. Die Eden-Genossenschaft in Oranienburg verarbeitete Obst zu Mus und Säften, das Henselwerk in Cannstatt produzierte Mineralsalze, das Unternehmen Steinmetz in Flensburg Brot und Mehl. Die junge Reformwarenbranche wuchs schnell und schloss sich in den zwanziger Jahren zur Neuform-Genossenschaft zusammen. Auch die Ideen der Lebensreformer begannen sich zu verbreiten. Viele deutsche Städte richteten in der Weimarer Zeit Licht-Luft-Bäder ein, legten Volksparks an oder engagierten Architekten, die sich dem "Neuen Bauen" verpflichtet sahen.


Aus heutiger Sicht behielten die Lebensreformer, die davon träumten, dass ihre Ideen einst die ganze deutsche Gesellschaft durchwirken und diese Gesellschaft verändern würden, einerseits recht - und lagen andererseits völlig falsch. Über eine gesunde Lebensweise wissen heute mehr Menschen Bescheid denn je, und die Reformhäuser sind längst nicht mehr der einzige Ort, an dem Gesundheitsbewusste einkaufen können. Zugleich ist die Idee einer Gesellschaftsreform verblasst: Wer heute gesund lebt, will in der Regel ausschließlich sich selbst etwas Gutes tun. Mit der Lebensreformbewegung aber, auf die viele auch heute noch aktuelle Theorien und Praktiken gesunder Lebensweise zurückgehen, weiß inzwischen kaum noch jemand etwas anzufangen.

Was Menschen wie Marie und Robert aber tatsächlich zu Vorreitern des Gesundheitsbewusstseins der Moderne macht, ist in erster Linie ihr Pragmatismus. Das Ideal des gesunden Lebens gab es schon in der Antike, der Kompromiss eines gesünderen Lebens ist hingegen eine Idee der Moderne. Der Gedanke, mit Müsli und Gymnastik die Welt oder wenigstens die Gesellschaft verändern zu können, lebte viele Jahrzehnte lang fort - bis ans Ende des 20. Jahrhunderts. Er prägte sich aber zu jeder Zeit auf andere Weise aus. Denn die Lebensreformbewegung war stets eng mit der deutschen Gesellschaft verknüpft. So wie die Reformer versuchten, die Gesellschaft zu verbessern, so waren sie zu jeder Zeit auch von den Moden und vom Denken ihrer Zeit beeinflusst.

Die lebensreformerisch orientierten Zeitgenossen von Marie und Robert neigten zur Utopie. Sie sprachen oft vom Jahr 2000 und stellten sich darunter ein "goldenes Zeitalter" vor, das so ziemlich das Gegenteil war vom wilhelminischen Deutschland. Dessen überfüllte Krankenhäuser und Irrenanstalten empfanden die Reformer als dekadent, gar degeneriert. Das irdische Paradies hingegen würde von zufriedenen, gesunden Menschen bevölkert sein, die vornehmlich Reigen in freier Natur aufführten - bei einer täglichen Arbeitszeit von nur mehr drei Stunden.

Damit diese Kultur des Glücks aber kommen konnte, das war ganz klar, mussten sich erst die Menschen ändern. Und dafür gaben die Lebensreformer ihren Mitmenschen sehr konkrete, handfeste Hinweise. Von ihren hehren Zielen einmal abgesehen, profitierten Reformer wie Marie und Robert aber auch geschäftlich von der Idee der Lebensreform: Sie verkauften die Produkte, die das Glück verhießen.

In der Zwischenkriegszeit, in der Muskeln Mode wurden und die ersten Vitaminprodukte auftauchten, war auch unter Lebensreformern viel vom vitalen Körper die Rede. Sie sahen den Leib als Ganzheit: Er sollte mit Geist und Seele im Einklang sein und darüber hinaus auch mit seiner natürlichen Umgebung. Die Lebensreformer sprachen viel von "innerer" und "äußerer" Natur. Sie meinten damit zum einen die Natur, die der Mensch selbst verkörperte, eben mit seinem Körper, und zugleich die natürliche Umwelt des Menschen. Beide, das war im gesamten 20. Jahrhundert das Bestreben der Lebensreformer, hatten ein harmonisches Miteinander zu bilden.

In den zwanziger und dreißiger Jahren interessierten sich die Reformer aber ganz besonders für die innere Natur und dafür, mit welcher Nahrung, welchen Abreibungen und welchen Übungen man den Körper am besten kräftigte. Zugleich kam die Vorstellung vom "Volkskörper" auf. Denn so wie jeder Einzelne seinen Körper pflegen sollte, so galt es auch, das deutsche Volk zu stählen, um es zum gesündesten aller Völker zu machen. Diese Vorstellung passte gut zum Gedankengut und zu den Zwecken der Nationalsozialisten. Insbesondere die Reformhäuser sollten helfen, das deutsche Volk zu stärken. Die Branche wurde schnell gleichgeschaltet. Die Lebensreformer passten sich dem neuen Regime willig an, meinten sie im "Dritten Reich" doch die "neue Zeit" zu erkennen, die sie seit Jahrzehnten wie eine "warme Welle" heranfluten gesehen hatten.

Wenige Wochen nach der Machtübernahme Hitlers, am 5. April 1933, teilte der Vorstand der Neuform-Genossenschaft in der Mitgliederzeitschrift mit: "Unter unseren 1200 Mitgliedsgeschäften befinden sich nur vier in jüdischen Händen. Ämter als Mitglieder des Vorstandes, Aufsichtsrats oder als Gruppenobleute haben nur solche Mitglieder, die weder jüdischer Abstammung sind noch staatsfeindlichen Parteien angehören." Was mit den vier jüdischen Reformhausinhabern geschehen war, teilte die Genossenschaft nur verklausuliert mit: Eine "sofort vorgenommene Prüfung in der Verwaltung" habe ergeben, "dass der Vorstand die notwendigen Maßnahmen getroffen hat, die in der heutigen Zeit erforderlich sind".


Nach der nationalsozialistischen Perversion der Körperkultur zum Körperkult, vor allem aber nach der Reduktion des Körpers auf Rasse und Blut, aus der der Mord an Millionen von Menschen gefolgt war, wandte sich die Lebensreform stärker der äußeren Natur zu, die bald den Namen "Umwelt" bekam. Das zeigt sich auch in der Bebilderung der Kundenzeitschrift der Reformhäuser. Während die Hefte, die seit 1925 monatlich erschienen, vor dem Krieg voll von Bildern wohlgeformter, meist spärlich bekleideter Körper gewesen waren, druckte die "Reform-Rundschau" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lieber Fotos von Bergen, Seen und Pflanzen. Zugleich war nach dem Krieg der Glaube an eine bessere Zukunft gedämpft. Von einer "neuen Zeit" war nicht mehr die Rede. Stattdessen galt es, die Natur zu schützen und den als konkrete Gefahr empfundenen ökologischen Kollaps zu verhindern.

Auch die Reformhausprodukte standen jetzt stärker für Natürlichkeit und biologischen Anbau als dafür, den Körper zu kräftigen. Die meisten Reformbetriebe hatten inzwischen eine jahrzehntelange Tradition. Sie mussten seit den siebziger Jahren erfahren, dass immer mehr andere Anbieter auf den Markt für Gesundheitsprodukte drängten: Bioläden, Drogerien und sogar der Lebensmitteleinzelhandel. Konkurrenz für die Lebensreform gab es aber auch auf dem Markt der Ideen und Ideologien.


Die nach 1968 entstandene Öko-Bewegung teilte viele Vorstellungen mit der Lebensreformbewegung. Zugleich verbreiteten sich diese Ideen auch in der gesamten Gesellschaft immer weiter. Zeitungen und Zeitschriften berichteten über Robbensterben und das Roden im Regenwald. In den Wäldern entstanden Trimmdich-Pfade. Ratgeber über gesunde Ernährung, Entspannungstechniken und Stressvermeidung überfluteten den Buchmarkt.

Viel zu sagen aber hatten sich die Lebensreformer und die "Alternativen" nicht, jedenfalls nicht viel Gutes. Die "Reform-Rundschau" schimpfte 1966 über die Jugendkultur der "Gammler" und kritisierte 1968 die "Jugend in Aufruhr". Die Protagonisten der Lebensreform und der Reformwarenbranche selbst waren zu diesem Zeitpunkt meist Herren, die sich allmählich aufs Rentenalter zu bewegten. Sie gehörten der zweiten, besonders wirkmächtigen Generation der Lebensreformbewegung an, der Generation der Kinder von Marie Ernst und Robert Boermel.

Viele dieser Verfechter der Lebensreform starben am Ende des 20. Jahrhunderts. Mit ihnen starb das Bestreben, mithilfe der Lebensführung möglichst vieler Menschen die Gesellschaft zu verändern. Das Reformhaus Boermel-Ernst in Frankfurt gibt es noch - die Familie führt es in vierter Generation. Viele andere Reformhäuser mussten schließen, weil die Konkurrenz zu groß geworden war. Das Wissen über ein gesünderes Leben aber, das einst nur ein paar wenige, oft belächelte Lebensreformer verbreiteten, ist inzwischen für jeden verfügbar.


Dr. Florentine Fritzen hat über die Lebensreformbewegung promoviert. Die Publikation ihrer Studie "Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert" (Verlag Franz Steiner) wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Nach ihrer Promotion ist die Autorin in die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eingetreten.

Adresse: FAZ, Hellerhofstraße 2-4, 60327 Frankfurt am Main


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Quelle:
forschung 1/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 18-22
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009