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KULTUR/082: Druiden - Mistelzweig und Menschenopfer (epoc)


epoc 6/10
Das Magazin für Archäologie und Geschichte

Mistelzweig und Menschenopfer

Von Bernhard Maier


Die Chronisten der Antike schildern uns druidische Rituale in allen Fassetten. Doch mit der Wahrheit scheinen sie es nicht immer genau genommen zu haben. Nur langsam lüften Historiker und Archäologen den Schleier, der die Druiden noch immer umgibt.


Mit ihren wilden Kriegerscharen hielten die Kelten in den vier Jahrhunderten vor Christi Geburt Griechen und Römer in Atem. Doch wenn zeitgenössische Autoren von den Kelten berichteten, durften sie nicht fehlen: die Druiden, jene mysteriösen Priester, die mit ihrer politischen Macht und ihrem geheimen Wissen auf eine Mischung aus Argwohn und Faszination stießen. »Manche behaupten, die Beschäftigung mit der Philosophie habe ihren Anfang bei den Barbaren genommen«, schrieb vor rund 1800 Jahren der griechische Autor Diogenes Laertios in seinem Buch über Leben und Meinungen berühmter Philosophen. »Es habe nämlich bei den Persern die Magier, bei den Babyloniern und Assyrern die Chaldäer, bei den Indern die Gymnosophisten und bei den Kelten die so genannten Druiden gegeben.«

Doch wie so oft, wenn es um die Erforschung der Druiden geht, liefert uns auch Diogenes Laertios nur Wissen aus zweiter Hand. Und dessen Ursprünge sind unsicher. Gewiss ist aber, dass die keltischen Priester spätestens seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. bei den Griechen und Römern durchaus als Philosophen geachtet waren.

Eines der ältesten Zeugnisse der druidischen Weltanschauung stammt aus der Feder von Julius Cäsar. In seinem »Gallischen Krieg« heißt es: »Viel disputieren sie über die Gestirne und ihren Lauf, die Größe der Welt und der Erde, die Natur der Dinge und das Walten und die Macht der unsterblichen Götter und geben das dann an die Jugend weiter.« Funde wie der Bronzekalender von Coligny (siehe Bild S. 52 der Printausgabe) bestätigen diese Aussagen.

Auch über die keltische Götterwelt gibt Cäsar Auskunft. »Von den Göttern verehren sie am meisten Merkur. Von ihm gibt es die meisten Bilder, ihn hält man für den Erfinder aller Künste und einen Führer auf Wegen und Reisen. Man glaubt, er habe in Geld und Handelsangelegenheiten den größten Einfluss. Nach ihm kommen Apollo, Mars, Jupiter und Minerva. Von diesen haben sie fast dieselbe Auffassung wie andere Völker: Apollo vertreibe Krankheiten, Minerva lehre die Anfänge des Handwerks und der Künste, Jupiter habe die Herrschaft über die Himmel, und Mars lenke die Kriege«, berichtet der römische Feldherr. Sieht man einmal davon ab, dass er die Götter nur über ihre vermeintliche Entsprechung im römischen Götterhimmel identifiziert, könnte seine Darstellung zuverlässig und unverdächtig erscheinen. Immerhin hatte er ausgiebig Gelegenheit, die Kulte aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Aber können wir ihm trauen? Leider haben uns die Kelten selbst nur spärliche Anhaltspunkte über ihren Glauben hinterlassen. Eine Vielzahl von Götternamen findet sich zwar auf Weihinschriften allerdings stammen sie fast ausnahmslos aus späterer Zeit, als längst die Römer in Gallien Fuß gefasst hatten. Vergleicht man diese gallorömischen Nennungen mit Cäsars Schilderung, fallen sogleich Ungereimtheiten ins Auge. Anders als Cäsars über sichtliches Pantheon erwarten ließe, finden sich Namen in Hülle und Fülle. Dass ein Name doppelt vorkommt, ist die Ausnahme, und noch seltener trifft man einen Namen an mehreren, weit voneinander entfernten Orten an. Wo das der Fall ist, könnte es sich tatsächlich um einen im ganzen Land verehrten Gott handeln, sofern die Erklärung nicht wesentlich banaler ist: Eine in Rom aufgetauchte Weihinschrift für die keltische Göttin Arduinna erklärt sich beispielsweise dadurch, dass ihr Stifter aus der gallischen Heimat der Göttin stammte.


Vielfalt am Götterhimmel

Viele keltische Götternamen mögen darüber hinaus nur Beinamen mit sprechender Bedeutung gewesen sein, die folglich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten immer wieder neu gebildet werden konnten (siehe Kasten S. 51 der Druckausgabe). Dafür spricht nicht zuletzt der Umstand, dass auffallend viele Namen ganz im Unterschied zu den Verhältnissen im griechisch römischen Kulturraum sowohl als Personen wie auch als Götternamen bezeugt sind. So bietet der Gegensatz zwischen Cäsars Darstellung einer einheitlichen, dem römischen Pantheon nicht unähnlichen keltischen Götterwelt und dem so ganz anderen Bild der gallorömischen Inschriften ein noch immer ungelöstes Problem. Zugespitzt könnte man es so formulieren: Entweder bietet Cäsar eine realistische Schilderung, und dann verbirgt sich hinter der scheinbaren Vielfalt ein einheitlicher, überregionaler Götterhimmel oder aber Cäsars Schilderung ist das Produkt politisch militärischen Wunschdenkens.

Allein anhand der Indizien zwischen beiden Erklärungen zu unterscheiden, fällt schwer: Dass Abbildungen des Gottes Merkur im römischen Gallien so gehäuft auftreten, scheint einerseits die Aussagen Cäsars nachträglich zu bestätigen. Hält man andererseits die zweite Alternative für plausibler, deuten die gallorömischen Weihinschriften darauf hin, dass es nach der Romanisierung Galliens Bevölkerungsgruppen gab, die die Angleichung der keltischen Götter an das römische Pantheon mit aller Macht vorantrieben. Dann wäre es lediglich deren Religion, die uns heute dank der Dauerhaftigkeit ihrer Steindenkmäler überliefert ist, während der verbreitetere Volksglaube womöglich nur in vergänglicheren Materialien Ausdruck fand.

Mögen es nun einige wenige oder viele regionale Gottheiten gewesen sein - wie die Kelten ihnen huldigten, schildern die antiken Autoren in allen, mitunter schaurigen Details. Vor allem von Opferhandlungen zur Erkundung des göttlichen Willens ist die Rede sowie von Bitt- und Dankesopfern. Hauptakteure waren dabei die Druiden. So schrieb etwa im 1. Jahrhundert v. Chr. der griechische Chronist Diodor von Sizilien: »Es ist Sitte bei ihnen, kein Opfer ohne einen Philosophen zu vollziehen, denn sie sagen, man müsse den Göttern Dankopfer darbringen mit Hilfe von Personen, die des göttlichen Wesens kundig seien und gleichsam dieselbe Sprache sprächen, und mit deren Hilfe, so glauben sie, müsse man auch die guten Dinge erbitten.« In ähnlicher Weise lesen wir bei Cäsar über die Aufgaben der Druiden: »Sie gestalten den Götterkult, besorgen die öffentlichen und die privaten Opfer und legen die religiösen Vorschriften aus.« Wie man sich solche Opfer vorzustellen hat, erläutert wiederum Diodor: »Verbrecher halten sie fünf Jahre lang gefangen, pfählen sie dann zu Ehren der Götter und verbrennen sie zusammen mit vielen anderen Opfergaben, indem sie riesige Scheiterhaufen errichten. Sie verwenden auch die Kriegsgefangenen als Opfergaben zu Ehren der Götter. Einige von ihnen töten auch die im Krieg erbeuteten Tiere zusammen mit den Menschen oder verbrennen sie oder bringen sie auf andere Weise um.« In ähnlicher Weise schrieb in den Jahren um Christi Geburt der viel gereiste griechische Geschichtsschreiber und Geograf Strabon: »Sie opferten nicht ohne Druiden. Wie man sagt, praktizierten sie auch andere Arten von Menschenopfern. Die einen erschossen sie mit Pfeilen, die anderen pfählten sie in ihren Heiligtümern, oder sie fertigten aus Stroh und Holz ein riesiges Standbild und steckten dann Vieh, wilde Tiere und Menschen hinein, um so ein Brandopfer darzubringen.«


Rinderopfer und Schädelkult

Noch vor einem halben Jahrhundert erschöpfte sich unser Wissen über keltische Opferhandlungen in der Kenntnis solcher Schilderungen. Dann aber entdeckten Forscher die Kultstätte von Gournay-sur-Aronde, einem kleinen Dorf rund 75 Kilometer nördlich von Paris. Seit diesem Fund aus dem Jahr 1977, der in den darauf folgenden Jahren vollständig freigelegt wurde, rückt der Kult der Kelten zusehends in den Blickpunkt archäologischer Forschung.

Auf einem Hügel kam eine kleine quadratische Grube mit Tongefäßen zum Vorschein, die vermuten lässt, dass der Ort bereits im 4. vorchristlichen Jahrhundert als Kultplatz diente. Rund zwei Jahrhunderte später wurde er ausgebaut: Ein hölzerner Tempel mit quadratischem Grundriss entstand, dessen Eingang einen monumentalen, mit menschlichen Schädeln geschmückten und auf sechs Pfeilern ruhenden Portalvorbau erhielt. Den Mittelpunkt des Heiligtums bildete schon seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. eine ovale Opfergrube von drei Meter Länge und zwei Meter Tiefe. Hier deponierten die Kelten geschlachtete Opfertiere - hauptsächlich Rinder -, bis sich das Fleisch zersetzt hatte, und stellten anschließend die Schädel im Eingangsbereich zur Schau. Daneben opferten sie auch Schweine und Schafe, deren Fleisch sie bei gemeinsamen Opfermahlzeiten verzehrten.

Weitere 50 Kilometer nordöstlich lag an einem Abhang unweit des kleinen Flusses Ancre das Heiligtum von Ribemont-sur-Ancre, das ebenfalls aus dem 3. bis 2. Jahrhundert v. Chr. stammt. Auch hier zogen die Erbauer ein monumentales Eingangsportal für ihre 40 auf 40 Meter große Anlage hoch, die sie obendrein mit einer drei Meter hohen Palisade und einem ebenso tiefen Graben umgaben. Genau wie beim Portal in Gournay-sur-Aronde zierten auch hier die Kelten den Eingangsbereich mit Menschenschädeln. Überhaupt scheint der Umgang mit menschlichen Opfern zu den besonderen Obliegenheiten der Druiden von Ribemont- sur-Ancre gehört zu haben: Auf einer angrenzenden Fläche kamen über 10 000 menschliche Knochen - ohne Schädel - zum Vorschein und mehrere hundert Waffen. Forscher vermuten, dass die Gebeine von gefallenen feindlichen Kriegern stammen, die die Kelten hier nach ihrer Enthauptung an der Luft mumifizieren ließen. Anschließend stellten sie sie auf einem Holzgerüst zur Schau.

Ein ähnliches Bild offenbarte sich den Entdeckern des gallischen Heiligtums nahe dem heutigen Acy-Romance in den französischen Ardennen. Neben den Überbleibseln rituell geschlachteter und gemeinschaftlich verzehrter Rinder und Pferde fanden sie auf einem freien Platz die Skelette von 19 jungen Männern, die man in stark gekrümmter Haltung mit dem Kopf zwischen den Beinen in kreisförmigen, flachen Gruben beigesetzt hatte. Obschon der schlechte Erhaltungszustand der Knochen es unmöglich machte, die Todesursache festzustellen, lässt die fehlende oder jedenfalls nur spärliche Bekleidung der Leichen sowie das Fehlen von Grabbeigaben oder anderen Habseligkeiten darauf schließen, dass in dem weitläufigen, von einer Palisade begrenzten Kultplatz keine gewöhnlichen Bestattungen stattgefunden haben. Vielmehr dürfte es sich auch hier um Menschenopfer handeln.

Die bei Weitem bekannteste, einflussreichste und zugleich ausführlichste Schilderung eines religiösen Rituals der Druiden verdanken wir indessen nicht den Archäologen, sondern dem römischen Naturforscher Plinius dem Älteren: »Nichts ist den Druiden - so nennen sie ihre Magier - heiliger als die Mistel und der Baum, auf dem sie wächst, wofern es nur eine Eiche ist. Schon deswegen wählen sie Eichenhaine und vollziehen kein Opfer ohne Eichenlaub, so dass sie vielleicht deswegen in griechischer Deutung >Druiden< zu heißen scheinen (altgriechisch d..., drus, »Eiche«, die Red.). Sie meinen wahrhaftig, dass alles, was auf jenen Bäumen wächst, vom Himmel gesandt und ein Kennzeichen des von der Gottheit selbst erwählten Baums sei. Eine solche Mistel wird jedoch einigermaßen selten entdeckt und wird, wenn man sie findet, mit großer Ehrfurcht aufgesucht, und zwar vor allem am sechsten Tag nach Neumond, also zu einem Zeitpunkt, an dem bei ihnen die Monate und Jahre beginnen, sowie nach Ablauf von 30 Jahren eine Generation. Zu diesem Zeitpunkt habe der Mond schon reichlich Kraft gesammelt, seine Höhe aber noch nicht überschritten. Sie bezeichnen die Mistel mit einem Wort ihrer Sprache als >Allheiler<.

Nachdem man das Opfer und das Festmahl unter dem Baum feierlich vorbereitet hat, führen sie zwei Stiere von weißer Farbe herbei, deren Hörner dann zum ersten Mal bekränzt werden dürfen. Ein Priester in weißem Gewand steigt auf den Baum und schneidet die Mistel mit einer goldenen Sichel ab. In einem weißen Leinentuch wird sie aufgefangen. Dann schlachten sie alsbald die Opfertiere und beten, der Gott möge seine Gabe denen zum Segen gereichen lassen, denen er sie verliehen habe.«

Plinius schrieb das 16. Buch seiner »Naturgeschichte « im Jahr 77 n. Chr., also zwei Jahre vor seinem Tod beim Ausbruch des Vesuvs. Dass er hier nicht als Augenzeuge spricht, sondern nur eine ältere Quelle referiert, ist kaum zu bezweifeln. Denn zu seinen Lebzeiten war den gallischen Druiden ihre Macht längst zum Verhängnis geworden: Nach anfänglichen Gängelungen durch die Kaiser Augustus und Tiberius, die den einheimischen Kult in den Hintergrund zu drängen versuchten, war es schließlich Claudius (41 - 54), der sie von der Bildfläche verschwinden ließ, indem er ihnen die Ausübung ihrer Tätigkeit in vollem Umfang untersagte.


Mythos goldene Sichel

Woher bezog also Plinius seine Informationen über das Ritual mit dem Mistelzweig? Vielleicht geht sein Bericht direkt oder indirekt auf den Philosophen und Historiker Poseidonios zurück, der zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. Südgallien bereiste und eine in der Antike oft zitierte Schilderung der keltischen Kultur verfasste. Der griechische Universalgelehrte hatte in seinen Schriften nicht nur die zentrale Bedeutung der Druiden für die Opfer hervorgehoben, sondern sich auch lebhaft für die keltischen Bezeichnungen der von ihm beobachteten Einrichtungen interessiert. Doch gegen diese Vermutung spricht erstens, dass augenscheinlich weder Diodor noch Strabon die betreffende Stelle zitierten. Zweitens kommt Poseidonios im Quellenverzeichnis des 16. Buchs der »Naturgeschichte« nicht vor, und drittens zitiert Plinius sonst zwar die philosophischen Werke des Poseidonios, nicht aber dessen »Historien«, die den Abschnitt über die Kelten enthalten. Sollte der römische Naturforscher hier eine uns Unbekannte, noch vor Poseidonios zu datierende Quelle über die Druiden verwertet haben?

Was die Einzelheiten der Schilderung betrifft, so hat die »goldene Sichel« zweifellos die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kaum eine neuzeitliche Abbildung eines Druiden kommt ohne dieses Attribut aus. Dabei ist jedoch anzumerken, dass die von Plinius verwendete lateinische Bezeichnung falx nicht notwendigerweise eine Haken- oder Bogensichel bezeichnet, sondern sich auch ganz allgemein auf eine Hippe, ein Laubmesser mit gebogener Klinge, beziehen kann. Da eine Hippe aus Gold zum Schneiden von Misteln jedoch viel zu weich ist, dürfte es sich bei Plinius' falx aurea wohl eher um ein rituelles Messer aus - vielleicht vergoldeter - Bronze gehandelt haben. Vermutlich war es den Kelten aus rituellen Gründen wichtig, das im profanen Bereich übliche Eisen zu vermeiden, wie es auch von anderen Kulturen der antiken Religionsgeschichte überliefert ist.

So ausführlich seine Beschreibung ist, bei näherer Betrachtung fällt schnell auf, wie viele eigentlich wesentliche Aspekte Plinius unerwähnt lässt. Er nennt weder Zweck des Opfers noch dessen Ort noch die Rolle der Kultgemeinschaft - all das bleibt völlig im Dunkeln. Einmal mehr haftet so den Druiden die Aura des Geheimnisvollen und Undurchschaubaren an.

Noch ein weiterer Aspekt zieht seit jeher die Aufmerksamkeit auf sich: die Seelenwanderungslehre der Druiden. So etwa heißt es bei Diodor: »Sie haben auch die Gewohnheit, während eines Mahls aus nichtigem Anlass in Streit zu geraten und sich gegenseitig zum Zweikampf herauszufordern, da sie sich aus dem Verlust des Lebens nichts machen. Bei ihnen herrscht nämlich die Lehre des Pythagoras, dass die Seelen der Menschen unsterblich seien und nach einer bestimmten Zahl von Jahren noch einmal lebten, wobei die Seele in einen anderen Körper eingehe.« Ähnliches berichtet Cäsar, allerdings ohne den Hinweis auf Pythagoras: »Vor allem wollen sie davon überzeugen, dass die Seelen nicht vergehen, sondern nach dem Tod von den einen auf die anderen übergehen, und sie glauben, dass dies ganz besonders zur Tapferkeit ansporne, weil die Furcht vor dem Tod entfalle.«

Auch wenn an diesen Zeugnissen auf den ersten Blick angesichts so großer Übereinstimmungen kaum zu deuten ist - bei genauerem Nachforschen fallen einige Punkte ins Auge, insbesondere was die unterstellte Ähnlichkeit zur Philosophie des Pythagoras angeht. So hielten es die Pythagoräer für möglich, in tierischer Gestalt wiedergeboren zu werden, weshalb sie es vorzogen, sich vegetarisch zu ernähren. Nicht so die Kelten: Antike Beobachter und archäologische Funde legen beredtes Zeugnis dafür ab, dass Haus- und Wildtiere nicht nur als Opfer und Grabbeigaben beliebt waren, sondern auch in beachtlichen Mengen auf dem Teller landeten.

Vor allem aber kann die überwältigende Übereinstimmung in den Textpassagen einfach darin begründet liegen, dass die Verfasser voneinander abschrieben oder dieselbe Quellen benutzten - was die meisten Autoren jener Zeit über die keltische Wiedergeburtslehre wussten, dürften sie ihrerseits bei Poseidonios gelesen haben. Und schließlich verrät auch der Umstand, dass eine vergleichbare Vorstellung bei den Kelten nirgendwo sonst nachzuweisen ist: Man sollte die Zitate nicht allzu wörtlich nehmen. Weder die früheren griechischen noch die späteren inselkeltischen Schriften überlieferten irgendetwas, was man in diesem Sinn interpretieren könnte.


Spuren von Pythagoras

Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass Poseidonios ohne jeden triftigen Grund den Kelten eine pythagoräische Seelenwanderungslehre andichtete. Die Erklärung könnte in der Tatsache zu suchen sein, dass der Gelehrte vor allem die keltischen Bewohner im Marseiller Hinterland kennen lernte, wo seit 600 v. Chr. eine griechische Kolonie bestand. Vielleicht fühlte sich der philosophisch gebildete Grieche von einer hier zufällig verbreiteten Wiedergeburtslehre an Pythagoras erinnert. Andererseits sind kulturelle Einflüsse der griechischen Kolonisten auch archäologisch vielfach nachgewiesen, und womöglich gelangte so tatsächlich die Philosophie der Pythagoräer ins gallische Umfeld der Kolonie und darüber hinaus. Neue Nahrung fanden solche Spekulationen, als man in den vergangenen Jahren ein weiteres Element ihrer Überlieferung bei den vorrömischen Kelten glaubte nachweisen zu können. Und nicht eben irgendeines: Forscher entdeckten bei den Galliern Anwendungen des berühmten Satzes des Pythagoras - unter anderem in der Konstruktion eines Wasserbeckens im gallischen Oppidum Bibracte auf dem Mont Beuvray ungefähr 20 Kilometer westlich von Autun.

Allerdings stellt der von Pythagoras beschriebene Zusammenhang zwischen den Seitenquadraten in einem rechtwinkligen Dreieck lediglich die abstrakte, theoretische Formulierung einer handwerklichen Praktik dar, die auch im alten Ägypten und in Altchina bekannt war: Monumentalarchitektur steht und fällt mit der genauen Kenntnis des rechten Winkels. Und Ägypter wie Chinesen wussten, dass man einen solchen erhält, wenn man zwölf gleichlange Teile eines Seils durch Knoten im Verhältnis 5:3:4 unterteilt und dann aus diesem Seil mit Hilfe von Pflöcken ein Dreieck bildet. Ob die bloße Kenntnis des Satzes des Pythagoras oder gar nur dessen praktische Anwendung ausreicht, um auf einen weiter gehenden Einfluss der Pythagoräer auf die Kelten zu schließen, ist somit fraglich.

Was glaubten also die Druiden? Glaubten sie an die Wiedergeburt oder nur an ein Leben nach dem Tod? Wem galten ihre Opfergaben? So viel über die Druiden geschrieben und nachgedacht wurde, so schwer zu fassen sind sie auch: Unser Bild von den vorchristlichen Religionen Europas ist nicht auch nur annähernd vollständig. Wer die Druiden waren, was sie taten und was sie lehrten, bleibt trotz - oder vielleicht gerade wegen - aller Fortschritte der Archäologie und Philologie umstritten. Stellt man die entscheidenden Fragen, verweigern die Quellen die Auskunft und lassen den Leser ratlos zurück.

Angefangen bei der Frühen Neuzeit und bis in unsere Tage bleibt es so ein Leichtes, die Druiden zur Projektionsfläche unserer wechselnden zeittypischen Wunschbilder zu machen: der gewaltfrei-ökologische Neodruide des New Age, der genial-visionäre Druide der Romantik, der rational-deistische Druide der Aufklärung und der naturreligiös-monotheistische Druide des Humanismus. Sie alle sind epochenspezifische Varianten ein und desselben Typus, dessen Funktion letztlich darin besteht, die eigenen Ideale in die Geschichte zurückzuspiegeln und unter Hinweis auf - zur Not geschönte oder gefälschte - historische Quellen gleichsam zu beglaubigen.



Informationskasten:

Wie hießen die Götter der Druiden?

Aus der Zeit der Druiden selbst sind keltische Götternamen nicht überliefert. Viele Hundert solcher Namen oder Beinamen findet man allerdings in den nur wenig jüngeren lateinischen Weihinschriften der römischen Kaiserzeit. Manche bezeichnen positive Eigenschaften oder Funktionen (zum Beispiel Amarcolitanus, »der Weitblickende« oder iovantucarus, »der die Kinder liebt«), andere drücken den Bezug zu einer bestimmten Tierart aus (epona zu keltisch epos, »Pferd«, Artio zu artos, »Bär« oder Damona zu damos, »Rind«). Auch Örtlichkeiten (Abnoba, »Schwarzwald« oder Arduinna, »Ardennen«) und Flüsse (Sequana, Seine«, Matrona, »Marne« oder icauna, »Yonne«) tauchen auf. Leider verhindert unsere angelnde Kenntnis der keltischen Sprache vielfach die sichere Deutung. einen Fingerzeig, wer ich hinter einem solchen Namen verbergen könnte, gibt es dann nur, wenn in den Weihreliefs die keltischen mit wesensverwandten römischen Gottheiten - wie Mars, Merkur oder Minerva - gleichgesetzt werden.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Seit Jahrhunderten spielen die Druiden die Rolle der mystischen Geheimpriester - so wie hier in einer Szene der Oper »Norma« von Vincenzo Bellini. Zu Recht? Auch Römern und Griechen waren die mächtigen Männer nicht geheuer.
Das Bildnis des Gottes Esus, der Äste schneidet, erinnert an das Mistelritual. Doch Forscher streiten noch darüber, ob die gallorömischen Darstellungen überhaupt den älteren, druidischen Volksglauben wiedergeben.
Ob das Silberrelief auf dem im dänischen Gundestrup gefundenen Kessel wirklich ein Menschenopfer zeigt, ist unklar. Als sicher gilt hingegen, dass die Kelten immer wieder ihre Gefangenen den Göttern darbrachten.
Der Kalender von Coligny zeigt, dass Cäsars Erwähnung astronomischer Kenntnisse einen wahren Kern haben könnte: Die im Jahr 1897 entdeckten Bronzetafeln sind zwar rund 200 Jahre jünger als der »Gallische Krieg«, doch gehen die vielen - größtenteils unverständlich - Eingravierungen auf vorrömische Bezeichnungen in gallischer Sprache zurück.

Bernhard Maier forscht an der Universität Tübingen unter anderem zur Religionsgeschichte der Kelten und Germanen und ihrer Rezeption seit der Frühen Neuzeit.

Literaturtipp
Bernhard Maier, Die Druiden,[C.H. Beck, München 2009,127 S., . 8,95]

Literaturhinweise im Internet
www.epoc.de/artikel/1045814

© 2010 Bernhard Maier, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 6/10, Seite 48 - 53
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010