Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

MEMORIAL/016: Eine Enzyklika begründete 1891 das Bündnis von Kurie und Kapital (Gerhard Feldbauer)


Rerum novarum

Die Enzyklika Leo XIII. begründete vor 120 Jahren das Bündnis von Kurie und Kapital

Von Gerhard Feldbauer, Mai 2011


Als die bürgerliche Revolution in Italien 1870 die feudale und weltliche Herrschaft des Papstes stürzte, protestierte Pius IX. auf das schärfste und schleuderte gegen alle am "Raub des Patrimonium Petri" Beteiligten den Kirchenbann (Exkommunikation). Zwar nahm sein Nachfolger Leo XIII., der sein Pontifikat am 20. Februar 1878 antrat, die Verdammung nicht zurück, vollzog aber auf der Stelle einen Frontwechsel. Mit dem Gespür, das aus dem Jahrtausende alten Hass gegen alles Fortschrittliche erwuchs, hatte der Klerus die Gefahr erkannt, die mit der 1876 durch die Gründung der sozialistischen Arbeiterföderation in Italien entstand, und reagierte. Der Hauptfeind waren nunmehr die marxistische Arbeiterbewegung und alle, die sich an ihre Seite stellten oder auch nur mit ihr sympathisierten, darunter selbst Reformer in den eigenen Reihen.


Ein unversöhnlicher Feind

In Gestalt des Katholizismus und seiner Zentrale, des Vatikanstaates, erwuchs der italienischen Arbeiterbewegung ein unversöhnlicher und gut organisierter Feind. Den Boden hatte die Kurie bereits mit der 1846 von Pius IX. herausgegebenen Enzyklika Qui Pluribus bereitet, die noch vor Erscheinen des Kommunistischen Manifest von Marx und Engels den Kommunismus zu den "monströsen Irrtümern" zählte. 1864 rangierte er im Syllabus mit dem Liberalismus, Sozialismus und der Freimaurerei unter den "Pestilenzen".

Die Kurie bezog nunmehr offen Position für das kapitalistische Ausbeutungssystem als von Gott gewollter Ordnung. Das hieß nicht, dass der Feudalismus aufgegeben wurde. Dort, wo seine Überreste in Form von vorbürgerlichen Monarchien oder auch nur deren Überbleibseln, aber auch von politischen Strömungen und Sammelbecken reaktionärer Kreise weiter existierten, hatten (und haben sie noch heute) die volle Unterstützung aus Rom. Die Hinwendung zum bürgerlichen Staat setzte als erstes gegenüber Deutschland und noch zu Lebzeiten Pius IX. ein. Der Kurswechsel wurde hier erleichtert, weil die staatliche Einheit im Gegensatz zu Italien unter der Hegemonie Preußens und seiner Junkerkaste erfolgt war und es keine Säkularisierungen päpstlichen Besitzes gegeben hatte. Nach dem "Kulturkampf" und der antiklerikalen Periode (1873-1875) versöhnte die Notwendigkeit, einen Damm gegen die Sozialdemokratie zu errichten, Bismarck und den Papst. Die endgültige Wende erfolgte mit dem 1878 an den Erzbischof von Köln gerichteten berüchtigten Brief, in dem Leo XIII. dem Staat nicht nur in Italien, sondern ebenso in Deutschland und Frankreich die Unterstützung der Kirche "zugunsten der durch die aufrührerischen und unmoralischen Doktrinen - den Marxismus - gefährdeten sozialen und politischen Ordnung" zusicherte.(1)


Unerbittlichen Hüter des Privateigentums

Am 15. Mai 1891 erließ dieser Papst die Enzyklika Rerum novarum (Über die neuen Dinge), mit der die Grundlagen der katholischen Soziallehre gelegt wurden. Sie forderte, "der Staat muss sich zum unerbittlichen Hüter des Privateigentums machen" und ihm durch "die öffentlichen Gesetze (...) Schirm und Schutz bieten". Wer dessen Aufhebung fordere, müsse "im Namen der Moral, deren Fundament er zerstört, als außerhalb des Gesetzes stehend erklärt werden". In scharfer Form machte Rerum novarum Front gegen die sozialistischen Arbeiterorganisationen und lieferte bereits die Begründung für das nach deutschem Beispiel später auch in Italien erlassene Sozialistengesetz, wenn es hieß: "Sollte eine Vereinigung einen Zweck verfolgen, der in flagrantem Gegensatz zur Rechtschaffenheit, zur Gerechtigkeit und zur Sicherheit des Staates steht, dann haben die öffentlichen Gewalten das Recht, deren Bildung zu verhindern oder, falls sie schon bestehen, sie aufzulösen." Die Enzyklika wandte sich gegen "jede Form des Sozialismus", den sie als "Pest" brandmarkte und forderte: "Wenn die Massen sich von üblen Doktrinen hinreißen lassen, darf der Staat nicht zögern, mit starker Hand zuzufassen". Ignazio Silone charakterisierte die päpstliche Schrift als "konterrevolutionäre Waffe im Schoße der Massen". Fortan bildete sie die politische Grundlage des Bündnisses der Kurie mit Reaktion und später Faschismus und ist es bis heute.

Im Kampf gegen die aufstrebende Sozialistische Partei schuf die katholische Kirche ihre eigene Bewegung, deren Grundlage katholische Gewerkschaften bildeten. 1903 zählten sie 400.000 Mitglieder. 1910 existierten 374 lokale Organisationen mit annähernd 170.000 Mitgliedern, davon 67.500 in Industrie, Handel, Verkehr und 100.000 in der Landwirtschaft. Erste nationale Berufsgewerkschaften entstanden in der Textilindustrie, danach unter den Eisenbahnern, den Metallarbeitern, den Post- und Telegrafenarbeitern. Ein Kongress in Bologna betonte, dass ihre Aufgabe, obwohl sie sich nur aus proletarischen Elementen zusammensetzten, darin bestehe, dem Zusammenwirken von Arbeit und Kapital zu dienen. Dabei ging die Kurie höchst demagogisch vor. Leo XIII. kleidete seine rigorosen Forderungen nach Zerschlagung der revolutionären sozialistischen Arbeiterbewegung in kritische Bemerkungen am wachsenden Reichtum der Bourgeoisie und gab sich verständnisvoll für die Empörung der Arbeiter. So schrieb er, "das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewusstsein, ihre Organisation erstarkt; dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten. Dies alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir stehen." Dies verhalf ihm in der Kirchengeschichte zum Ruf eines "Arbeiterpapstes".(2)


Unerbittlich gegen eigene Abweichler

Die marxistische Arbeiterbewegung übte einen großen Einfluss auf das geistige Leben aus und befruchtete auch das Wirken liberaler Persönlichkeiten, die sich gegen die Verfolgung jeglichen Fortschrittsdenkens durch den Klerus wandten. Gegen Abweichler in den eigenen Reihen ging die Kurie in inquisitorischer Weise vor. Der Syllabus "Lamentabile sane exitu" verurteilte 1907 die 65 Thesen des Hauptes der Modernisten, des großen französischen Theologen und Denkers Alfred Loisy. Die dem Syllabus folgende Antimodernisten-Enzyklika "Pascendi Dominici Gregis" zeichnete ein Bild völliger Dämonisierung nicht konformer theologischer Denker. Einer der herausragendsten Vertreter der Reformkatholiken war der deutsche Theologe, Professor für christliche Kunstgeschichte und vergleichende Religionswissenschaft in Würzburg, Hermann Schell. Seine Schrift "Der Katholizismus als Princip des Fortschritts" (1897) wurde sofort auf den Index verbannt. Mit einem Motu proprio bedrohte der Papst alle mit der Exkommunikation, die es wagen sollten, der Enzyklika zu widersprechen.(3)

Um dem politischen Katholizismus eine Verankerung im Parteiensystem zu verschaffen und sowohl unter der katholischen Arbeiterbewegung als auch in kleinbürgerlichen Schichten ein Gegengewicht zur Sozialistischen Partei zu bilden, gründete der Priester Don Luigi Sturzo im Auftrag des Vatikans 1919 die Katholische Volkspartei (Partito Popolare). Als ihre Basis gegen das Mussolini-Regime antifaschistische Positionen bezog, setzte der Vatikan 1924 ihre Auflösung durch. Aus ihren Rudimenten entstand 1942/43 die Democrazia Cristiana, die in der Nachkriegsgeschichte bis zu ihrem Untergang im Korruptionssumpf 1991/92 die führende Regierungspartei bildete.


Helfershelfer des "Duce"

Als im Ergebnis der revolutionären Massenkämpfe 1919/20 eine linke Machtergreifung drohte, stellte sich der im Januar 1922 als Pius XI. neu gewählte Papst offen an die Seite führender Kapitalkreise, des Königs und Militärs, welche Mussolini mit einem Militärputsch an die Macht hievten. Die katholische Volkspartei trat auf Betreiben des Vatikans in die Regierung des "Duce" ein und verhalf dessen Kabinett zu einem demokratischem Aushängeschild. Nach der Ermordung des Sozialistenführer Giacomo Matteotti stürzte der antifaschistische Widerstand das Mussolini-Regime in eine existenzielle Krise. Durch ihr sofortiges Eingreifen retteten Kapital und Klerus die Diktatur. Im Zentralorgan des Vatikans "Osservatore Romano" ließ der Papst die "feste Haltung" des "Duce" würdigen und verurteilte die antifaschistischen Aktionen. Zum Dank schloss Mussolini mit dem Vatikan 1929 die Lateranverträge, welche die weltliche Herrschaft des Papstes wiederherstellten, die Trennung von Kirche und Staat in wesentlichen Punkten aufhoben und dem Heiligen Stuhl eine immense Entschädigung (1,75 Mrd. Lire) für die 1860/70 erfolgten Säkularisierungen gewährten. Pius XI. nannte daraufhin Mussolini "einen Mann, mit dem uns die Vorsehung zusammenführte", der "nicht die Vorbehalte der liberalen Schule" habe.


Klerikaler Faschismus

Zum 40. Jahrestag von "Rerum novarum" erließ derselbe Pius XI. im Mai 1931 die Enzyklika "Quadragesimo anno", die gegenüber den Kommunisten "eine schonungslose Unterdrückung" forderte und die Untätigkeit bestimmter Regierungen ihnen gegenüber scharf verurteilte. Sie ebneten "auf diese Weise den Weg zum Umsturz und zum Ruin der Gesellschaft". Unzweideutig brachte der Papst zum Ausdruck, dass die Rettung im Faschismus liege. Silone nannte Quadragesimo anno ein "Manifest des katholischen Faschismus, der sich als Retter der kapitalistischen Zivilisation auf die Kandidatenliste setzt". Es war eine Konzeption, die sein Nachfolger, Pius XII., nach dem Sturz Mussolini 1943 mit der Umwandlung der faschistischen Diktatur in eine klerikal getarnte zu verwirklichen suchte. Knapp sechs Monate nach dem Machtantritt Hitlers schloss der Vatikan ein Reichskonkordat, auf dessen Basis von den Kanzeln herab mit Kardinal Faulhaber an der Spitze "ein Vaterunser für den Führer" gebetet wurde. Derselbe Faulhaber, den der heutige deutsche Papst Benedikt übrigens als sein großes Vorbild sieht, feierte Pius XI. als "besten Freund" des deutschen Volkes.

Der Bogen des kurialen Bündnisses spannt sich von der Unterstützung der faschistischen Aggressionskriege der Regime Hitlers und Mussolinis über die Rettung von Nazi- und Kriegsverbrechern vor ihrer Bestrafung nach 1945 über den Beitrag zur Reorganisation des Faschismus in Italien und seiner Aufnahme in die Regierungen unter dem Medientycoon Berlusconi bis zur durch Karol Wojtyla vorgenommenen Seligsprechung des Gründer-Präsidenten des klerikal-faschistoiden Opus Dei, Escriva de Balaguer, des früheren Erzbischofs von Zagreb, Kardinal Stepinac, in dessen Bistum zwischen 1941 und 1945 über eine halbe Million Serben ermordet wurden oder der 498 an der Niederschlagung der spanischen Republik 1936-39 beteiligten Kreuzritter Francos durch Benedikt XVI. und dessen Versöhnung mit den klerikalfaschistischen Piusbrüdern.

Wie sein Vorgänger, der 1991 in Centesimus annus die sozialistische Niederlage in Europa feierte, hat Benedikt gleich in mehreren Enzykliken, so in Caritas in veritate (Die Liebe in der Wahrheit) die entschiedene Frontstellung in Rerum novarum gegen jedwede Äußerungen sozialistischer Ideen unmissverständlich bekräftigt. Es gehe Benedikt, so verbreitete Radio Vatikan, um die "Fortführung der katholischen Soziallehre für das Zeitalter der Globalisierung".


Ausführlich zum Thema siehe das Buch unseres Autors Der Heilige Vater. Benedikt XVI. - Ein Papst und seine Tradition. PapyRossa, Köln 2010.


Anmerkungen:

(1) Zit. In: Ignazio Silone: Der Faschismus. Frankfurt/M. 1984 (Reprint der Erstausgabe von 1934), S. 242 f.

(2) Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer 1992.

(3) Hans Kühner: Lexikon der Päpste. Kirchengeschichte, Weltgeschichte, Zeitgeschichte von Petrus bis heute. Zürich 1977, S. 363 ff.


*


Quelle:
© 2011 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2011