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MEMORIAL/029: Italiens koloniale Eroberungspolitik und ihr Scheitern - Teil 1 (Gerhard Feldbauer)


Großmachthunger und Expansionsdrang - Ausbruch aus der "Gefangenschaft im Mittelmeer"

Eine historisch-aktuelle Betrachtung in drei Teilen

von Gerhard Feldbauer, 15.01.2012


Mit einem "Schulterschluss" mit Berlin sucht das italienische Kapital derzeit einen Ausweg aus der Wirtschafts- und Finanzkrise, um seine eigenen Positionen zu stärken und teilzuhaben am weltweiten Kampf um Einflusssphären und Rohstoffressourcen.(1) Dass es hier mitmischen will, hat es in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits mit der Beteiligung am NATO-Überfall auf Jugoslawien, der Entsendung von Truppenkontingenten nach Albanien, Irak, Afghanistan, Somalia und jüngst der Teilnahme an der NATO-Intervention in Libyen bewiesen. Ein Blick auf die expansionistische Politik Italiens seit Ende des 19. Jahrhunderts zeigt, dass die deutsche EU-Großmacht hier durchaus einen nützlichen Verbündeten gewinnen könnte.


Berliner Konferenz 1878 gab freie Hand für die noch "weißen Flecken" in Nord- und Ostafrika

Als Italien Ende des 19. Jahrhunderts den Ausbruch aus seiner "Gefangenschaft im Mittelmeer" suchte, waren dessen Ausgänge schon besetzt. Die Straße von Gibraltar kontrollierten die Engländer, zusammen mit Frankreich desgleichen den Suezkanal. Die Dardanellen überwachten die Türken. Um sich ein Sprungbrett für eine expansive Mittelmeerpolitik zu schaffen, wollte Rom vor allem an der nordafrikanischen Küste Fuß fassen. Es liebäugelte mit dem von der Türkei beherrschten Tunis, der "alten römischen Provinz Karthago".

Auf der Berliner Konferenz 1878 konnte Italien seine Ansprüche auf türkische Gebiete nicht durchsetzen. Es versuchte, über eine Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie nach Tunis zum Ziel zu kommen, stieß aber auf eine stärkere Konkurrenz. Die Pariser Baugesellschaft Batignol hatte 1876 den Bau einer Strecke von Sukh-el Arba nach Tunis durchgesetzt. Der italienische Bewerber, die Schifffahrtsgesellschaft Floro-Rubattino, zog den Kürzeren. Batignol sicherte sich auch die Konzession zur Ausbeutung der Bleierze von Djerba und für den Hafenausbau in Tunis. 1881 besetzte Frankreich Tunis, um seine "Rechte" zu sichern. Rom reagierte ein Jahr später mit dem Beitritt zum Dreibund mit Deutschland-Österreich/Ungarn. Von den neuen Verbündeten erhoffte es sich mehr Unterstützung für seine kolonialen Ambitionen. Es erhielt zwar freie Hand für die wenigen noch "weißen Flecken" in Nord- und Ostafrika, jedoch nicht die von Umberto I. (König von 1860 bis zu seinem Tod 1900) während eines Staatsbesuches in Berlin angesprochene militärische Rückendeckung. In untertäniger Weise buhlte Umberto um diesen Beistand und sagte auf das 13. preußische Husarenregiment anspielend, dessen "schlechtester Soldat" sei "immer noch besser als der beste Soldat des italienischen Heeres".(2) Bismarck entgegnete schroff: "Der Dreibund ist keine Gesellschaft für Eroberungen im Interesse Italiens."(3)


Günstige äußere Bedingungen

Die Mitgliedschaft im Dreibund hatte für Rom den Nachteil, dass es die Irredenta (Bewegung Unerlöstes Italien), die sich auf die größtenteils italienischsprachigen Gebiete im Trentino, auf Triest und an der dalmatischen Küste richtete, zügeln musste. So wandte es sich Afrika und Kleinasien zu. Die äußeren Bedingungen waren günstig. Der antiägyptische Mahdistenaufstand im Sudan 1881-85 und die britische Intervention 1882 zwangen Kairo zum Rückzug von der Küste des Roten Meeres. Zunächst scheiterte Rom als es 1887 versuchte, von Dogali im nördlichen Eritrea aus ins äthiopische Hochland vorzustoßen. (4) 1889/90 nahm es dann das Küstengebiet am Roten Meer zwischen den Häfen Assab und Massaua in Besitz und bildete mit Eritrea seine erste Kolonie. Danach annektierte es den Südteil der Somalia-Halbinsel. Das geraubte Gebiet am Durchgang zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean war vor allem von strategischer Bedeutung und wertete die Rolle Italiens gegenüber den Großmächten auf.

Danach setzte Umberto erneut zur Eroberung Äthiopiens an. Um das Land in Sicherheit zu wiegen, griff er zu einer altbekannten Methode und schloss am 2. Mai 1889 mit Kaiser Menelik II. (Kaiser seit 1889 bis zu seinem Tode 1913) einen Freundschaftsvertrag. Äthiopien erkannte darin den italienischen Kolonialbesitz am Roten Meer an. Der italienische König interpretierte die "Freundschaft" dahingehend, dass Äthiopien nunmehr unter seinem Protektorat stehe. Nachdem Rom der Forderung von Addis Abeba, die Protektoratserklärung zurückzunehmen, nicht nachkam, kündigte Menelik 1893 den "Freundschaftsvertrag". Italien schlug den Weg des Krieges ein. Seine Flotte blockierte die Küste und versuchte, Äthiopien von Waffenzufuhren abzuschneiden. Außerdem schürte Rom Stammesgegensätze und versorgte vermeintliche Gegner des Kaisers mit Waffen. Umberto wähnte sich des Sieges so sicher, dass er bereits neues Silbergeld, das ihn mit der Kaiserkrone zeigte, prägen ließ.


Vernichtender Rückschlag

Die Eroberung scheiterte ein weiteres Mal. Am 1. März 1896 kam es bei Adua, einer kleinen Stadt im nordäthiopischen Hochland in der Provinz Tigre, zur Schlacht. 18.000 italienische Kolonialsoldaten mit 56 Geschützen trafen auf 60.000 äthiopische Krieger mit 42 Kanonen. Italien erlitt eine vernichtende Niederlage, die erste dieses Ausmaßes einer Kolonialmacht in Afrika. Nur 2.500 Soldaten entkamen. 3.000 gerieten in Gefangenschaft. Die äthiopischen Verluste betrugen 10.000 Mann. Die flüchtenden italienischen Truppen ließen die gesamte Kriegstechnik zurück.(5)

In Italien löste die Niederlage neue Proteste gegen die Kolonialpolitik aus. Von den Sozialisten in Rom, Turin, Neapel und in zahlreichen weiteren Städten organisierte Kundgebungen verhinderten die Entsendung weiterer Truppen nach Äthiopien zur Fortsetzung des Krieges. Ministerpräsident Francesco Crispi musste zurücktreten.

Im Friedensvertrag vom Oktober 1896 anerkannte Italien die Unabhängigkeit Äthiopiens, während Menelik die Zustimmung zur italienischen Kolonialherrschaft in Eritrea erneuerte. Im Widerspruch zu seiner vertraglich eingegangenen Verpflichtung schloss Rom 1906 mit Paris und London einen Vertrag, der Äthiopien zur gemeinsamen Einflusszone erklärte. Mussolini nahm ihn 1935 zum Vorwand, die Eroberung Äthiopiens zu rechtfertigen.


"La Grande Italia" und das "Mare Nostrum"

Neben Triest und Albanien blieben nicht nur türkische Gebiete weiterhin im Blickfeld. Es war die Zeit des Übergangs des Kapitalismus ins imperialistische Stadium. Die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland eroberten weltweit Kolonien. Italien wollte es ihnen gleich tun und meldete seinen Großmachtanspruch an. Es suchte Rohstoffreservoire, Anlagefelder und Absatzmärkte. Zu Kernsätzen der imperialistischen Propaganda wurden die Losungen von "La Grande Italia" und dem Mittelmeer als "Mare Nostrum". Die Ideologen des Kolonialismus traten als Interessenvertreter der "Erben des antiken Rom" auf, die dazu berufen seien, die italienische Zivilisation in die Welt zu tragen. Forschungsreisende halfen mit verlogenen Reiseberichten, die kolonialen Eroberungen vorzubereiten. Obwohl die entstehende Rassenideologie sich graduell von der späteren der Hitlerfaschisten unterschied, gingen die in dieser Zeit geborenen Theorien von der generellen Überlegenheit der europäischen Völker aus und klassifizierten die Afrikaner als "minderwertige Menschengruppe", als eine verwandte Form von Antropoiden oder Affen, die eine besondere Neigung zu Kriminalität, Lug und trug hätten. Während der kolonialen Eroberungsfeldzüge in den folgenden Jahrzehnten dienten die rassistischen Theorien zur Rechtfertigung barbarischen Terrors. Parallel dazu wurde der Mythos vom "guten Italiener" in die Welt gesetzt, der sich durch seine "humanen Züge" deutlich von den Praktiken der übrigen Kolonialmächte unterscheide.(6)


Lenins Prophezeiung: "die Araberstämme werden sich nicht unterwerfen"

Nachdem Österreich-Ungarn 1908 Bosnien und die Herzegowina annektiert hatte, setzte Rom 1911 an, seine Forderungen nach der Vorherrschaft im Mittelmeer und der Besitzergreifung von weiteren Kolonien in Nordafrika in die Tat umzusetzen. Die Türkei, das historische Osmanische Reich, befand sich seit der Niederlage im Krieg 1877/78 mit Russland in einer Zerfallskrise. So überfiel Italien das von den Osmanen abhängige Tripolitanien und die Kyrenaika (zusammen mit dem Fessan das heutige Libyen). Durch den erstmaligen Einsatz von Luftschiffen und Flugzeugen für Bombardements gelang es, Tripolis, Bengasi und das Küstengebiet rasch einzunehmen. Trotz der brutalen Kriegsführung kostete der Feldzug 1.405 Italiener das Leben. Ihnen standen 14.800 tote Araber gegenüber, darunter viele massakrierte Zivilisten, Frauen und Kinder.(7) In der "Prawda" vom 28. September 1912 schrieb Lenin, der Krieg werde fortdauern, "denn die Araberstämme im Inneren des afrikanischen Kontinents, weitab von der Küste, werden sich nicht unterwerfen. Man wird sie noch lange 'zivilisieren' - mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen." Lenins Voraussicht bewahrheitete sich. Die Partisanen brachten den weiteren Vormarsch in den Wüsten zum Stehen. Den Widerstand in der Nähe der Oasen von Dscharabub und Siwa sowie im Fessan konnten die Italiener nie völlig brechen. Die Oasen von Kufra im Süden der Kyrenaika erreichten sie erst Anfang der dreißiger Jahre.

Mit stillschweigender Billigung Russlands, Großbritanniens und Frankreichs besetzte Italien noch den Dodekanes. Die Entente-Mächte ließen Rom gewähren, um es dem Dreibund zu entzweien. Die Türkei anerkannte im Friedensvertrag von Lausanne am 18. Oktober 1912 die Eroberungen, die Rom zur Kolonie Libyen zusammenschloss. Als die italienische Flotte auch noch zum Überfall auf die Dardanellen ansetzten wollte, geboten London, Paris und Petersburg jedoch Einhalt. Das Geschwader musste abdrehen.

Entgegen den Bestimmungen von Lausanne behielt Italien den Dodekanes besetzt.(8) Nachdem es sich im Ergebnis des Ersten Weltkrieges auf der Seite der siegreichen Entente befand, erhielt es 1920 die Inselgruppe zugesprochen. Auf der Londoner Konferenz vom Dezember 1912 erhielt Italien zusammen mit Deutschland, Österreich/Ungarn, Russland, Frankreich und Großbritannien das Mandat über Albanien. Das Londoner Geheimabkommen der Entente von 1915 legte die Aufteilung Albaniens unter Italien, Griechenland, Serbien und Montenegro fest.


Fußnoten:

(1) Siehe Beitrag im Schattenblick vom 28. November 2011:
Italiens neuer Premier Mario Monti regiert mit einer Troika aus EU, FMI und EZB.

(2) Dietmar Stübler: Geschichte Italiens. 1789 bis zur Gegenwart. Berlin 1987, S. 62.

(3) Heinz Meinicke-Kleint: Algerien, Marokko, Tunesien. Unterjochung und Befreiung. Berlin (DDR), S. 25 f.

(4) Am 26. Januar 1887 wurde das 500 Mann starke Expeditionskorps von den einheimischen Stämmen völlig vernichtet. I Giorni della Storie d'Italia. Dal Risorgimento a Oggi, Novara 1997, S. 214.

(5) Heinrich Loth: Geschichte Afrikas. Berlin (DDR), S. 24 f. Die offiziellen italienischen Angaben bezifferten die italienischen Verluste auf 4.000 Tote. I Giorni, S. 252 f.

(6) Gabriele Schneider: Mussolini in Afrika, Köln 2000, S. 12 u. 38 ff.

(7) Siehe Italiens Tornados auf historischer Route. 100 Jahre nach dem Überfall auf Libyen will der römische Imperialismus sich erneut seinen Anteil an der Beute sichern. Schattenblick, 4. März 2011

(8) In dem nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 in Paris geschlossenen Friedensvertrag musste Italien den Dodekanes an Griechenland zurückgeben, die Adriainseln und Fiume an Jugoslawien abtreten, das Gebiet von Triest als Freistaat anerkennen und auf alle Kolonien verzichten. Über Somalia wurde bis 1960 die UNO-Treuhandverwaltung übertragen.


Bücher unseres Autors zum Nachschlagen: Marsch auf Rom. Faschismus und Antifaschismus in Italien. Papyrossa Verlag, Köln 2002; Mussolinis Überfall auf Äthiopien. Eine Aggression am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Pahl Rugenstein Verlag, Bonn 2006; Geschichte Italiens. Vom Risorgimento bis heute. Papyrossa Verlag, Köln 2008.


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Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2012