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MEMORIAL/037: Februar 1992 - Ermittlungen der Mailänder Staatsanwälte "Mani Pulite" (Gerhard Feldbauer)


Die Ermittlungen der Mailänder Staatsanwälte "Mani Pulite"

Sie bewirkten vor 20 Jahren einen politischen Erdrutsch in Italien

von Gerhard Feldbauer, 20. Februar 2012


Am 17. Februar 1992 wurde in Mailand der Direktor des Altenheims "Pio Albergo Trivulzio",(1) Mario Chiesa, verhaftet. Er hatte von einer Firma, welche die Reinigung des Heimes vornahm, für die Auftragserteilung umgerechnet 7000 DM kassiert. Mit der Verhaftung Chiesas wurden die Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft öffentlich bekannt. Wie sich bald herausstellte, war Chiesa nur ein kleiner Fisch in dem Netz der Korruption, dem Tausende hochgestellte Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung und öffentlichen Ämtern angehörten.


Der Zusammenbruch des alten Parteiensystems

Was waren die auslösenden Faktoren die zur Entlarvung dieser ungeheuerlichen Korruption führten? Als Folge der Niederlage des Sozialismus 1989/90 in Europa und der damit einhergehenden Umwandlung der IKP in die sozialdemokratische Linkspartei verschwanden die von den USA und ihren italienischen Verbündeten im Kalten Krieg stets beschworene "kommunistische Gefahr" und der "kommunistische Hauptfeind", wenn auch nur für kurze Zeit, von der Bildfläche. Das führte zu einer vorübergehenden kritischen Auseinandersetzung mit der Korruptionspraxis der Democrazia Cristiana (DC), deren Hauptverbündeten, der ISP, und, wenn auch in geringerem Umfang, weiterer Koalitionspartner. Das traditionelle System der Regierungsparteien, deren führende Kraft in der gesamten Nachkriegsgeschichte die DC bildete, brach einem Erdrutsch gleich zusammen. Es begann mit dem im Februar 1992 einsetzenden rigorosen Durchgreifen der Mani pulite (Saubere Hände) genannten Ermittlungsgruppe der Mailänder Staatsanwaltschaft unter Leitung der Untersuchungsrichter(2) Antonio Di Pietro und Saverie Borrelli.(3)


1.356 Senatoren und Abgeordnete, Minister, hohe Regierungsbeamte und Manager verhaftet

Die Ermittlungen erfassten etwa 6.000 Politiker, darunter ein Drittel der 945 Senatoren und Abgeordneten, ehemalige und im Amt befindliche Minister, unzählige Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte. Anfang 1993 saßen 1.356 Staats- und Parteifunktionäre sowie Wirtschaftsmanager in Haft. Ob es sich um Bauunternehmen, Verkehrsbetriebe, Kliniken oder wie im Falle des Mario Chiesa ein Altersheim handelte, die Beschuldigten hatten für die Vergabe von Bau- und Beschaffungsaufträgen oder auch nur für behördliche Genehmigungen Milliardensummen an Bestechungsgeldern kassiert. In der Region Venedig kontrollierten die ehemaligen Minister Carlo Bernini (DC) und Gianni De Michelis (ISP) die Vergabe aller öffentlichen Aufträge und kassierten die entsprechenden Bestechungsgelder. Ebenso führten Manager der Staatskonzerne an ihre Parteiführungen, die ihnen diese Posten verschafft hatten, ihre Tagenten (zukommender Teil, Schmiergelder) ab.


Jährlich zehn Milliarden Dollar Schmiergelder

Das Turiner Einaudi-Institut errechnete die Summe von jährlich zehn Milliarden Dollar gezahlter Schmiergelder. Auf Schweizer Konten wurden Bestechungserträge von umgerechnet 30 Milliarden Dollar vermutet. Besonders empört reagierte die Öffentlichkeit auf einen Bestechungsskandal in dem ob seines maroden Zustandes berüchtigten Gesundheitswesens. Der in Neapel ansässige damalige Gesundheitsminister, Francesco De Lorenzo, (Liberale Partei) hatte für die Freigabe von Medikamenten und die Genehmigung von Preiserhöhungen immense Bestechungsgelder eingestrichen. Es kam ans Licht, dass DC und ISP ihren Parteiapparat fast ausschließlich aus illegalen Einkünften finanzierten.(4)


Sozialistenführer Craxi erhielt 26 Jahre Gefängnis

Vom Schock, den führende Repräsentanten des Kapitals erlitten, zeugte, dass während der Voruntersuchungen über ein Dutzend der Beschuldigten Selbstmord begingen, darunter der Präsident des Feruzzi-Konzerns, Raul Gardini, und der frühere Chef des staatlichen Energiekonzerns ENI, Gabriele Cagliari. Beide hatten unter anderem eine etwa 400 Millionen Dollar umfassende Betrugsaffäre eingefädelt. Der Sozialistenführer Bettino Craxi, angeklagt unter anderem der Kassierung von 200 Millionen DM Bestechungsgeldern, erhielt in mehreren Verfahren insgesamt 26 Jahre Haft. Zur Sprache kamen seine Beziehungen zu führenden Leuten der faschistischen Putschzentrale P2. Dass er neben Berlusconi deren Dreierdirektorium angehörte, wurde erst später bekannt und nachgewiesen. Bevor der Haftbefehl gegen ihn vollstreckt werden konnte, floh er nach Tunesien, wo er im Januar 2000 verstarb.


Berlusconi zehn Jahre

Für das herrschende System entstand eine ernste Gefahr. Direkt bedroht war auch Silvio Berlusconi, als Chef der Fininvest-Holding von rund 300 Unternehmen mit einem Betriebswert von 30 Milliarden Euro der reichste Kapitalist des Landes, mit rund 13 Milliarden Euro persönlichem Vermögen an 14. Stelle der Weltrangliste der Reichen stehend. Obwohl er zu dieser Zeit als "Saubermann" demagogisch gegen die Bestechungspraxis auftrat, wurde er später in insgesamt 13 Verfahren der gleichen Praktiken, der Geldwäsche, des illegalen Waffenhandels, der Führung von Tarnfirmen, des illegalen Kapitaltransfers und zahlreicher weiterer Delikte angeklagt und zu über zehn Jahren Freiheitsstrafe und zehn Millionen DM Geldstrafe verurteilt, deren Aufhebung seine Anwälte bereits vor seiner erneuten Berufung ins Amt des Premiers 2001 teilweise durchgesetzt hatten. Als Berlusconi zur Wahl kandidierte, warteten indes immer noch fünf Prozesse auf ihn.(5) Rolf Uessler schrieb damals in der Berliner Wochenzeitung "Freitag" in den Prozessen werde zur Sprache kommen, dass Berlusconi "als Unternehmer korrumpiert, bestochen, unterschlagen, Geld gewaschen, mit der Mafia und den Geheimdiensten so manches Ding gedreht hat". Beweismaterial der Schweizer Behörden werde "gravierendere Vergehen als die jetzigen 'Kavaliersdelikte' zum Vorschein bringen: Illegalen Waffenhandel und Kollaboration mit der Mafia zum Beispiel". Der Verfassungsrichter Alessandro Pace sagte: "Es gibt niemanden, der so tief wie er in das alte System verstrickt war."(6)

Ein derart kriminell belasteter Politiker hätte bei einer einigermaßen funktionierenden bürgerlichen Demokratie gar nicht zur Kandidatur für das höchste Regierungsamt zugelassen werden dürfen. Was diese Demokratie dann zur Makulatur werden ließ, war, dass dieser korrupte Mediendiktator und faschistoide Regierungschef mit Unterbrechungen vom Frühjahr 1994 bis zum Oktober 2012 ein tyrannisches Regierungsregime ausüben konnte.(7)


Die Lex Berlusconi

Bereits während seiner Regierungszeit 1994 hatte Berlusconi, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen, die Ermittlungen und laufenden Verfahren, welche durch die Mailänder Staatsanwälte angestrengt worden waren, generell abzuwürgen versucht. Nach seinem zweiten Amtsantritt im Juni 2001 war eine seiner ersten Amtshandlungen als Premier, Regierungsdekrete einzubringen, um zu erreichen, dass die fünf gegen ihn noch laufenden Strafverfahren bzw. Urteile der ersten Instanz eingestellt oder kassiert wurden. Dazu verhalf ihm zum Beispiel die Änderung eines Rechtshilfeabkommens mit der Schweiz, wonach Beweise aus der Eidgenossenschaft, die dort gegen ihn vorlagen, nicht mehr zulässig waren oder ihre Einbringung erschwert wurde. Bilanzfälschungen, deren Berlusconi in großem Stil angeklagt wurde, unterlagen nicht mehr der strafrechtlichen Verfolgung oder fielen unter Verjährung. Allenfalls wurde ein Bußgeld verhängt. Milliarden Euro konnte Berlusconi "einsparen", wenn er im Rahmen einer Lösung des so genannten "Interessenkonflikts"(8) seine Fernsehsender auch nur pro forma an seine Kinder übergeben hätte (was später teilweise erfolgte). Dazu hatte er ein Gesetz verabschieden lassen, das die Erbschafts- und Schenkungssteuer abschaffte. Der Chef der Exekutive profitierte ebenso von einem Dekret, das satte Steuerersparnisse auf reinvestierte Unternehmensgewinne festlegte. Wer seine Profite steuerfrei ins Ausland transferiert hatte - Berlusconi wurde wiederholt beschuldigt, Milliarden Euro außer Landes gebracht zu haben - wurde von Strafverfolgung freigestellt, wenn er die Gelder nach Italien zurückbrachte. Es wurde lediglich eine lächerliche Steuer von 2,5 Prozent auferlegt, wenn die Gelder in staatlichen Schutzbriefen angelegt wurden. Da keine Kontrolle der Herkunft der Gelder stattfand, konnten auf diese Weise Schwarzgelder gewaschen werden, wovon auch die Mafia profitiert haben dürfte. Die Freisprüche für Berlusconi wurden vor allem mit seinen gegenwärtigen "gesellschaftlichen Lebensbedingungen" und seiner "objektiv herausragenden Position" begründet, was im Klartext so kommentiert wurde: "Einen Premier zerrt man nicht vor Gericht." Der Volksmund nannte das schlicht und einfach: "Regieren heißt abkassieren." Selbst die in solchen Fragen nicht gerade prüde "Financial Times" kommentierte damals, die in den ersten Wochen der Regierungszeit erlassenen oder auf den Weg gebrachten Dekrete nützten überwiegend den persönlichen oder geschäftlichen Interessen Berlusconis.(9) Als mutige Richter dennoch weiter gegen Berlusconi ermittelten und Anklage erheben wollten, ließ der Premier durch seine Parlamentsmehrheit die sogenannte Lex Berlusconi beschließen, ein Gesetz, das ihm Immunität vor Strafverfolgungen verschaffte. Nach einer Ungültigkeitserklärung wegen Verfassungswidrigkeit durch das Oberste Verfassungsgericht, ließ er es sofort erneut im Parlament beschließen.


5.000 Strafverfahren abgewürgt

Die Strafverhinderungsgesetze nützten auch Berlusconis Klientel. Sie bewirkten, dass rund 5.000 Strafverfahren, größtenteils im Ergebnis der Ermittlungen der Mani-pulite-Anwälte eingeleitet, eingestellt wurden. In Hunderten von Fällen handelte es sich dabei auch um Mafiaverbrechen, illegalen Waffenhandel, Drogengeschäfte und Bandenkriminalität. Aus dem Bauministerium verlautete, man müsse eben auch "mit der Mafia zusammenarbeiten". "Die Cosa nostra bedankt sich", kommentierte die "Liberazione" die skandalösen Vorgänge. In Brüssel kam es zum Eklat. Um Ermittlungen gegen seine Person seitens der EU-Behörden zu verhindern, verlangte der italienische Regierungschef allen Ernstes, aus den Vorschriften für den Erlass von EU-Haftbefehlen Verbrechen wie Korruption, Betrug und Geldwäsche zu streichen. Nachdem das abgelehnt wurde, forderte er, die entsprechenden Haftbefehle erst 2005 in Kraft zu setzen, zu einem Zeitpunkt, da die gegen ihn noch laufenden Ermittlungen wegen Verjährung endgültig vom Tisch seien. Erst nach Protesten der EU-Kommissare lenkte Berlusconi unter dem Vorbehalt ein, vorher müssten entsprechende gesetzliche Zustimmungen durch das italienische Parlament beschlossen werden. Dazu kam es nicht mehr, denn auch das wurde von der Regierungsmehrheit abgelehnt.

Fazit dieser Entwicklung war, dass die Tausenden von den Mani pulite eingeleiteten Ermittlungen und Strafverfahren im Sande verliefen.


Anmerkungen:

(1) Pio Albergo, das fromme Haus (Obdach) des Trivulzio, Name einer Mailänder Adelsfamilie, seit dem Ende des 11. Jahrhunderts Angehörige des städtischen Patriziat. Die Trivulziana in Mailand enthält die kostbare Sammlung der T. an Gemälden, Münzen, Handschriften, Urkunden und Inkunabeln.

(2) Nach dem italienischen Strafrecht können die zuständigen Juristen sowohl als Staatsanwälte als auch Untersuchungsrichter tätig werden.

(3) Der Chef der Ermittlungsgruppe war Di Pietro.

(4) Repùbblica, 19. Sept. 1993. Eine ausführliche Darstellung in:
G. Feldbauer, Von Mussolini bis Fini. Die extreme Rechte in Italien. Berlin 1996, S. 140 ff.

(5) Veltri, Elio; Travaglio, Marco: L'Odore dei Soldi. Origini e Misteri delle Fortune di Silvio Berlusconi. Rom 2001; passim, bes. S. 345 ff.

(6) Interview mit der TAZ, 16. Februar 1996.

(7) Gegenwärtig wird vor dem Mailänder Gericht einer der noch anhängigen Korruptionsprozesse gegen den Ex-Premier wegen Anwaltsbestechung in Höhe von 600.000 Euro wieder aufgenommen.

(8) Hohen Regierungsvertretern war zu dieser Zeit untersagt, gleichzeitig Betriebe und Unternehmen zu besitzen und zu leiten.

(9) FTD, 18. Dez. 2001 und 8. Jan. 2002


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Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2012