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MEMORIAL/227: Italienische Kommunistische Partei bestätigte 1926 Gramscis Kampfkonzept gegen die Mussolini-Diktatur (Gerhard Feldbauer)


Vor 95 Jahren leitete der in Lyon illegal tagende Kongress der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP) eine strategische Wende ein

1926 bestätigte der Kongress Antonio Gramscis Konzeption des Kampfes gegen die 1922 errichtete faschistische Diktatur Mussolinis und wählte ihn zum Generalsekretär

von Gerhard Feldbauer, 25. Januar 2021



Foto: Antonio Gramsci, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Gefängnishefte Antonio Gramscis - hier eine Vielzahl seiner in der Haft geschriebenen Notizbücher
Foto: Antonio Gramsci, Public domain, via Wikimedia Commons

Vor 95 Jahren, am 23. Januar 1926, begannen in Lyon die illegalen Beratungen des III. Parteitages der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP), die eine strategische Wende im Kampf der Partei gegen den mit Mussolinis "Marsch auf Rom" im Oktober 1922 erfolgten Machtantritt des Faschismus einleiteten. 90,8 Prozent der Delegierten beschlossen die von Antonio Gramsci ausgearbeiteten "Thesen von Lyon" als Parteiprogramm und wählten ihn als Nachfolger von Amadeo Bordiga zum Generalsekretär. Bei der Gründung der IKP am 21. Januar 1921 war kein Programm beschlossen worden, da die Trennung von den Sozialisten nicht geplant war. Auf dem II. Parteitag im März 1922 in Rom war ein Programm vor allem wegen der Meinungsverschiedenheiten zur faschistischen Gefahr nicht zustande gekommen. Der auf dem Gründungskongress zum Generalsekretär gewählte Amadeo Bordiga war der Ansicht gewesen, "die Bourgeoisie wünsche keine Änderung ihres politischen Systems" und werde "den Parlamentarismus verteidigen". Gramsci dagegen hatte den Faschismus als eine "degenerierte Kraft der Bourgeoisie", als eine "bewaffnete Garantie des Klassenstaates" und "Phänomen der bourgeoisen Reaktion" eingeschätzt und vor einem "Staatsstreich der Faschisten" gewarnt.


Die Erringung der Hegemonie

Ende 1923 kehrte Gramsci aus Moskau zurück, wo er seit März 1922 Vertreter der IKP im Exekutivkomitee der Komintern war. Lange vor deren VII. Weltkongress erarbeitete er als Erster Grundsätze einer Analyse des Faschismus und die für seinen Sturz erforderliche nationale Bündniskonzeption und erwies sich damit, wie Domenico Losurdo schrieb, als "ein kommunistischer Führer ersten Ranges" (Der Marxismus Antonio Gramscis. Hamburg 2000).

Gramsci zeigte die Widersprüche innerhalb der herrschenden Kreise auf und definierte den "Faschismus als Instrument einer Industrie-Agraroligarchie", die in ihren Händen "die Kontrolle des gesamten Reichtums des Landes" konzentriert. Die herrschende Klasse besitze "in den kapitalistisch hochentwickelten Ländern politische und organisatorische Reserven, die sie z. B. in Russland nicht hatte". Das bedeute, dass "auch schwerste Wirtschaftskrisen keine unmittelbare Rückwirkung auf das politische Leben haben, sondern die Politik immer eine Verspätung, eine große Verspätung gegenüber der ökonomischen Entwicklung aufweist". Diese Situation erfordere "von der revolutionären Partei eine sehr viel komplexere Strategie und Taktik, die weit von der entfernt ist, die für die Bolschewiki zwischen März und November 1917 notwendig war".

Den entscheidenden Anstoß dazu hatte die Matteotti-Krise gegeben. So benannt nach dem Führer der Einheitssozialisten (SEP), der die von Mussolini begangenen Verbrechen während der 1924 inszenierten Parlamentswahlen, die ihm eine Mehrheit sicherten, in der Öffentlichkeit unerschrocken anprangerte und forderte, diese für ungültig zu erklären. Am 10. Juni überfiel daraufhin ein Mordkommando Matteotti auf offener Straße, verschleppte und ermordete ihn. Der ungeheuerliche Mord steigerte den Widerstand auf der Straße und im Parlament. Die IKP schlug der Italienischen Sozialistischen Partei (ISP) und der SEP sowie den Gewerkschaften einen Generalstreik vor und forderte: Weg mit der Regierung der Mörder! Entwaffnung der faschistischen Garden! Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung! Die Losung nach einer Arbeiter- und Bauernregierung schloss die bürgerliche Opposition faktisch aus. Der Vorschlag wurde zurückgewiesen.


Foto: unknown (original uploader: Xylon), Public domain, via Wikimedia Commons

Giacomo Matteotti, 1924 von italienischen Faschisten ermordet
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Daraus schlußfolgernd konzipierte Gramsci, dass nach der Machtergreifung des Faschismus die proletarische Revolution zunächst nicht mehr auf der Tagesordnung stand. Die Arbeiterklasse ihre "politische Hegemonie" auf der Grundlage der Freiwilligkeit und Überzeugung erringen müsse. Ihr Masseneinfluss setze voraus, das Sektierertum zu überwinden. Auch müsse sie die Eigenständigkeit der Bündnispartner respektieren. Gramsci verband den Kampf für den Sozialismus mit der Verteidigung bzw. der Eroberung der Demokratie.


Der Blòco stòrico

Den Kern der Bündnispolitik Gramscis bildete seine These vom "Historischen Block", die er später aus dem Kerker heraus vervollständigte. "In keinem Land ist das Proletariat in der Lage, allein die Macht zu erobern und aus eigener Kraft zu behaupten. Es muss sich also Verbündete schaffen, das heißt, es muss eine solche Politik betreiben, die es ihm erlaubt, sich an die Spitze der anderen Klassen, die antikapitalistische Interessen haben, zu stellen und sie in den Kampf zum Sturz der bürgerlichen Gesellschaft führen." Ausgehend vom Bündnis der Arbeiter und Bauern entwarf Gramsci ein System von Bündnissen der Arbeiterklasse mit den Mittelschichten und der Intelligenz, in dem er dem Zusammengehen mit den katholischen Volksmassen einen hohen Stellenwert beimaß. Er ging von Lenins Hinweisen für die italienischen Kommunisten auf dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale (KI) aus, dass die Partei im revolutionären Kampf "die Massen", die "Mehrheit der Arbeiterklasse" gewinnt.

Gramsci hielt fest, dass die bürgerlichen Bündnispartner des "Historischen Blocks" eigene politische Ziele verfolgen, was seitens der KP Zugeständnisse erfordere. In seinen Gefängnisheften präzisierte er später, was oft übersehen wird, es müsse sich um einen "ausgeglichenen Kompromiss" handeln, bei dem die Zugeständnisse der KP "nicht das Wesentliche", nämlich "die ökonomischen Aktivitäten der führenden Kraft" betreffen dürften, worunter er die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft und die Errichtung einer sozialistischen Ordnung verstand. Das zu verstehen war bzw. ist, wie Losurdo hervorhob, für das Proletariat besonders schwierig, weil es sich um Schichten handelt, die zwar die politische Macht verloren hatten, aber weiterhin eindeutig über bessere Lebensbedingungen und sogar skandalöse Privilegien verfügten.

Zur Grundlage dieses antifaschistischen Bündnisses wurde das 1934 mit der ISP geschlossene Aktionseinheitsabkommen, wofür Gramsci mit der Ablehnung der 1928 vom VI.-KI-Kongress aufgestellten Sozialfaschismus-These die Voraussetzungen geschaffen hatte. Die IKP hatte der These zunächst, wenn auch sehr zögernd, zugestimmt, sie aber in der Praxis nicht angewandt.


Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Palmiro Togliatti (um 1920)
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Was verwirklicht wurde

Unter Palmiro Togliatti, seit Gramscis Verhaftung im November 1926 amtierender Generalsekretär und nach dessen Tod 1937 sein Nachfolger, wuchs auf der Basis dieser Bündniskonzeption in den 30er Jahren Schritt um Schritt der antifaschistische Widerstand an. Das 1937 während des gemeinsamen Kampfes zur Verteidigung der Spanischen Republik gegen die von Mussolini-Italien und Hitler-Deutschland unterstützten Franco-Faschisten erneuerte Aktionseinheitsabkommen zwischen Kommunisten und Sozialisten beeinflusste die Haltung des bürgerlich oppositionellen Lagers und mit der 1942 beginnenden Krise des Faschismus auch herrschende Kreise des Lande. Im Herbst 1942 bildeten verschiedene antifaschistischen Gruppen mit der IKP und ISP ein Komitee der nationalen Einheit.

Nach dem Sturz Mussolinis schlossen sich die bürgerlichen Parteien dem von der IKP initiierten Nationalen Befreiungskomitee (CLN) an, das IKP und ISP dominierten. Mit der im April 1944 mit den CLN-Parteien gebildeten Nationalen Einheitsregierung (Wende von Salerno) wurde Gramscis Blòco stòrico in einer größeren Dimension verwirklicht, als sein Theoretiker ihn konzipiert hatte. Dabei folgte Togliatti Stalin, der nach dem Überfall auf die UdSSR die Parteien der Komintern im Interesse einer Antihitlerkoalition angewiesen hatte, "die Frage der sozialistischen Revolution nicht aufzuwerfen".

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2021

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