Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

NEUZEIT/143: Global City Chicago (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 118/Dezember 2007
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Global City Chicago
Das Labor des 19. wird zur Metropole des 21. Jahrhunderts

Von Jan C. Behrends


Die Geschichte Chicagos steht für den amerikanischen Weg in die Moderne. Schon im 19. Jahrhundert faszinierte der rasche Aufstieg der Stadt am Michigansee die Zeitgenossen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Max Weber Chicago während seiner Amerikareise mit einem Menschen verglichen, dem man die Haut abgezogen hat, damit man Muskeln und Organe bei ihrer Arbeit sehen kann: roh und ohne Firnis, direkt und offen. Der amerikanische Parvenü unter den Metropolen büßte im 20. Jahrhundert viel von dieser ursprünglichen Faszination ein; nach dem 2. Weltkrieg schien es, als könne sich auch Chicago dem industriellen Niedergang des früh industrialisierten Rust Belt nicht entziehen. Doch seit einigen Jahren erlebt die Stadt einen Wiederaufstieg. Sie wandelt sich von der amerikanischen Industriestadt zu einer Global City, die von ihrer zentralen Lage zwischen Ost- und Westküste profitiert.

Die urbane Renaissance der Metropole des Mittleren Westens mag auch damit zusammenhängen, dass hier in den Jahren ihres Niedergangs der genetische Kode der Globalisierung entworfen wurde. Als Reaktion auf die totalitäre Herausforderung und den Keynesianismus entwickelte sich die neoklassische Ökonomie der Chicago School, die wie kaum ein anderes intellektuelles Konstrukt die Welt in den letzten 30 Jahren revolutioniert hat. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bietet es sich an, einen vergleichenden Blick auf die Geschichte Chicagos zu werfen. Ihr Wandel vom Symbol der klassischen Moderne zur global vernetzten Stadt ist ein Prozess, der auch die europäische Gegenwart prägt.

Kaum eine andere Stadt expandierte im 19. Jahrhundert in einem Tempo von der kolonialen Siedlung zur Millionenstadt, das dem Chicagos glich. Im Jahre 1837 gegründet, profitierte die Stadt von ihrem Hinterland, dem amerikanischen Westen, das mit dem Bau transkontinentaler Eisenbahnen erschlossen wurde. Schon um 1860 eröffnete die Eisenbahn Verbindungen in alle Himmelsrichtungen - Chicago saß wie die Spinne im Netz des Kontinents. Die neuen Verbindungen brachten Zuwanderer - aus dem Osten der USA und vor allem aus Europa. Diese Zentralität ermöglichte den ungebremsten Aufstieg seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Selbst das große Feuer von 1871, das ein Drittel der 300.000 Einwohner besitz- und obdachlos machte, konnte den Boom nicht aufhalten. Um 1890 war Chicago Millionenstadt und zugleich eine amerikanische Stadt, in der 40 Prozent der Bevölkerung nicht in den Vereinigten Staaten geboren waren. Im Jahre 1910 hatte sich die Bevölkerung auf zwei Millionen verdoppelt. Dabei ist Chicago als Teil eines größeren Systems zu verstehen, das mit der Kolonisierung und häufig gewaltsamen Zivilisierung die neuen Landschaften des amerikanischen Westens erst schuf. Hier wurden die Rohstoffe der westlichen Territorien dem amerikanischen und dem Weltmarkt zugänglich gemacht. Der schnelle Reichtum Chicagos - bzw. seiner Eliten - wurzelte im Handel mit Getreide, Fleisch und Holz, das hier umgeschlagen wurde. Südlich der Stadt entstanden die Union Stock Yards, wo 1870 bereits 3 Millionen Stück Vieh jährlich verarbeitet wurden - hauptsächlich von europäischen Emigranten. Nur 20 Jahre später waren es 12 Millionen Tiere. Um 1900 arbeiteten allein in den Schlachthäusern Chicagos 25.000 Menschen.

Die Expansion im Zeichen der Schlachthäuser begründete den ambivalenten Ruf der Stadt: Durch ihren beispiellosen Aufstieg und die oft katastrophalen Lebensbedingungen, die sie ihren Zuwanderern bot, wurde die Stadt über die Grenzen der USA hinaus zu einem Symbol für die Ambivalenzen der Moderne. Wer gegen Ende des 19. Jahrhunderts über die Verwerfungen und Meriten des modernen Lebens und eines ungeregelten Kapitalismus sprechen wollte, benutzte die Stadt oft als Beispiel für diese Zustände. Vor 1914 war die Chiffre "Chicago" nicht nur in Deutschland, sondern auch an den Peripherien der Moderne präsent, wie etwa im russischen Zarenreich. Die Stadt war mehr als das Eingangstor zum amerikanischen Westen, sie avancierte über Amerika hinaus zum Symbol für die moderne Gesellschaft.

1893 wurde diese zwischen Arm und Reich, Amerikanern und Einwanderern geteilte Metropole zum Symbol einer besseren Zukunft stilisiert. Eine Stadt, die für große Teile der Öffentlichkeit in den USA und auch darüber hinaus zum Symbol einer aus dem Ruder gelaufenen Expansion, eines neuzeitlichen Babylon geworden war, sollte zum Jerusalem der modernen Welt werden. Dies war das Ziel der World's Columbian Exposition, der Weltausstellung auf amerikanischem Boden. Diese Leistungsschau der jungen Nation wurde zu einer Zäsur in der Geschichte Chicagos und auch der Vereinigten Staaten: Sie bedeutete den symbolischen Triumphzug der amerikanischen Moderne. Am Ufer des Michigansees entstand die White City, die der Stadt ein neues Bild, einen besseren Ruf verschaffen sollte. Woraus bestand diese neue Zivilisation, die in der Weltausstellung gezeigt wurde? Es handelte sich um gigantische neoklassische Paläste, in denen die neuesten Errungenschaften der Technik zu bestaunen waren. Außerdem gruppierten sich rund um den zentralen Ehrenhof Kunstausstellungen und zahlreiche moderne Vergnügungen wie etwa das erste Riesenrad der Welt, denen sich die Besucher hingeben konnten.

Im anthropologischen Teil der Ausstellung wurden "primitive" Völker aus Asien und Afrika gezeigt; sie waren der implizite Maßstab, an dem sich die idealisierte neue Zivilisation maß. Schwarze Amerikaner und auch die armen Zuwanderer, die wenige Meilen entfernt lebten, waren auf der Ausstellung kaum repräsentiert. Die Werte und Vorstellungen der etablierten Mittelschichten blieben jedoch maßgebend. Trotz dieser Einseitigkeit ist der Einfluss der Ausstellung auf die Vorstellungen von Urbanität, Schönheit und Modernität kaum zu unterschätzen. Und sie verfehlte ihren Eindruck auch auf die Einwanderer nicht. So erinnerte sich Hilda Polachek, eine polnische Einwanderin, die erst wenige Jahre zuvor in Chicago angekommen war: "My father decided to take a day off from his work to take us to the fair. We were speechless with excitement. The fair was a world of enchantment to us." Insbesondere die elektrischen Illuminationen, die Millionen Besucher bewunderten, waren ein Versprechen für die Zukunft moderner Städte. Letztlich verschwieg die Columbian Exposition die Gegensätze Chicagos: den Widerspruch zwischen der sozialen Realität und den Versprechen von Gleichheit und Wohlstand. Inmitten der rauen Wirklichkeit wurde eine artifizielle, konfliktfreie Moderne inszeniert. Sie faszinierte die internationale Öffentlichkeit nicht weniger als die Eindrücke der Stadt Chicago.

Gerade wegen der schroffen Gegensätze, die Chicago auf engem Raum vereinte, lohnt sich eine Beschäftigung mit den Versuchen ihrer Bürger, ihre sozialen Bedingungen zu verbessern. Chicago zerfiel in unterschiedliche Bezirke, die jeweils eine spezifische soziale oder ethnische Prägung aufwiesen. In der Innenstadt bedeutete die Entstehung des neuen Chicago zugleich die Geburt der amerikanischen Architektur. Hier entstanden nach 1890 die ersten Wolkenkratzer. Es waren Baumeister wie Louis Henri Sullivan und Dankmar Adler, die ein neues Geschäftsviertel im Zentrum schufen. Mit zwanziggeschossigen Stahlskelettgebäuden emanzipierte sich die amerikanische Baukunst von ihren europäischen Vorbildern. Auch optisch und ästhetisch entstand ein amerikanischer Stadttyp, der damals in Europa breite Debatten auslöste. Seit den 1880er Jahren schoben sich die Stadtgrenzen immer weiter in die Ebenen hinaus; die Unterscheidung zwischen der Stadt als Heimat der Immigranten und den Vorstädten der neuen Mittelklasse wurde immer sichtbarer. Die Innenstadt beherbergte um die Jahrhundertwende bereits kulturelle Institutionen, von denen einige später Weltrang erreichen sollten: die Public Library, das Art Institute und die Orchestra Hall.

Die Wohlhabenden begannen jedoch die Innenstadt als Wohnort zu meiden. Durch den Ausbau des innerstädtischen Transportsystems begünstigt, zogen sie in den Westen und an das nördliche Seeufer und entzogen sich damit den Zumutungen des Großstadtlebens. Die Entstehung von suburbia dokumentierte den Trend zur räumlichen Segregation, der für amerikanische Metropolen bis heute charakteristisch ist. Transnationale Räume blieben beschränkt - die Segregation förderte die Ausprägung lokaler Unterschiede. Die Masse der Einwanderer hingegen lebte in Wohnvierteln, die sich um die Innenstadt, den loop, gruppierten. Die Topographie Chicagos war immer auch eine ethnische Landkarte. Sie war im 19. Jahrhundert eine Global City, bevor dieser Ausdruck sich einbürgerte. Im Westen wohnten die Böhmen im Stadtteil Pilsen; dem Südwesten drückten die Iren ihren Stempel auf. Andere Viertel wurden von Polen, Italienern oder Skandinaviern geprägt. Ebenfalls im Süden lag der Bereich, in dem die schwarze Bevölkerung wohnte.

Jedes Viertel war auch durch seinen eigenen Umgang mit Gewalt und Kriminalität geprägt - die Bedrohung durch Kriminalität war insbesondere an den Rändern der Innenstadt groß. In den Einwanderervierteln entstanden in diesen Jahrzehnten die zivilgesellschaftlichen Strukturen ethnischer communities. Diese waren aufgrund der weitgehenden Abwesenheit staatlicher oder kommunaler Fürsorge notwendig. Eine zentrale Rolle kam den Kirchen zu, die zusammen mit den Schulen das religiöse, soziale und karitative Leben organisierten. Im Zeitalter der urbanen Expansion existierte in Chicago eine multilinguale Presselandschaft, die einen wichtigen Bestandteil der politischen Kultur bildete. Durch die Migration des 21. Jahrhunderts - insbesondere aus Lateinamerika und Afrika - stehen viele der Orte, in denen sich vor 1920 europäische Einwanderer niederließen, gegenwärtig vor ähnlichen Problemen wie vor 100 Jahren. Diese neuen Zuwanderer verzichten bei ihrer Integration weitgehend auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen.

Die sozialen Probleme der Zuwanderer stellten die Stadt und ihre Zivilgesellschaft in den Jahren nach 1890 vor immense Herausforderungen. Die Unterschichten Chicago lebten in Slums; diese Wohngebiete lagen in der Nähe von Industrie und Gewerbe. Erst das endemische Verbrechen und die Gefahr, die von den katastrophalen hygienischen Bedingungen ausging, führten dazu, dass die Stadtverwaltung, aber auch zivilgesellschaftliche Gruppen sich der Slums annahmen. Dazu wurde die eigene Stadt zunächst kartiert und untersucht; für die Sozialreformer waren die Slums eine terra incognita, die es zu erfassen galt, bevor man sie verändern konnte. Die Sozialreformer Chicagos - insbesondere Jane Addams und ihre Anhänger - erlangten schnell nationale und internationale Beachtung. Doch die zivilgesellschaftlichen Initiativen der Jahre 1890-1930 stießen auch an Grenzen: Sie konnten der Bevölkerung nicht die soziale Sicherheit bieten, die der europäische Sozialstaat anstrebte. Amerikanische Sozialreformer beschränkten sich darauf, Zuwanderer zu Bürgern zu machen. Sie scheiterten dort, wo sie versuchten, die Werte des progressive movements zu oktroyieren - zum Beispiel in den Jahren der Prohibition.

Das Chicago der Jahrzehnte zwischen 1920 und 1980 war amerikanische Industriestadt - durch die Assimilation ihrer Einwohner verlor die Stadt viel von dem transnationalen Charakter, der sie in der klassischen Moderne um 1900 geprägt hatte. Ihre Bedeutung für die Gegenwart gewinnt die Stadt nicht mehr aus ihrer geographischen Lage, sondern aus ihrem intellektuellen Potential als Zentrum der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der University of Chicago. Als Reaktion auf den europäischen Sozialismus und die Lehren von John Maynard Keynes entstand um Friedrich von Hayek und Milton Friedman die Chicago School of Economics, deren neoklassische Lehre seit den 1970er Jahren reüssiert. Im Zuge der ökonomischen Globalisierung wurde auch Chicago wiederum zur global city. Doch die Ambivalenz der modernen Erfahrung in Chicago lebt auch im 21. Jahrhundert fort: Einerseits ist die Metropole wieder Magnet für Zuwanderer aus aller Welt, andererseits bleiben große Teile der Stadt - insbesondere die South Side - von Armut und Hoffnungslosigkeit geprägt. Weiterhin existieren zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, für die die Verbesserung der Stadt work in progress bedeutet - doch zugleich wird deutlich, dass sie ohne staatliche Unterstützung eine Sisyphusarbeit verrichten. So sind auch im intellektuellen Zentrum der neoliberalen Ordnung die Fragen an ihre Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit hochaktuell - und sie unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht wenig von den Herausforderungen von moderner Stadt und Gesellschaft um 1900.


Weiterführende Literatur:

Jan C. Behrends, Moskau und Chicago als Metropolen der Moderne. Sozialer Konflikt und gesellschaftliche Integration 1870-1914, 20 S. (WZB-Bestellnummer SP IV 2007-402)

Jan C. Behrends, Die andere Moderne. Russische Wahrnehmungen amerikanischer Metropolen vor 1914, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS), Jg. 37, Heft 1, 2007, S. 24-36

Perry R. Duis, Challenging Chicago. Coping with Everday Life, 1837-1920, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 1998, 456 S.

James Gilbert, Perfect Cities. Chicago's Utopias of 1893, Chicago: University of Chicago Press 1991, 293 S.

Charles Madigan (Hg.), Global Chicago, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 2004, 248 S.

Johan van Overtfeldt, The Chicago School: How the University of Chicago Assembled the Thinkers Who Revolutionized Economics and Business, Chicago: Agate 2007, 432 S.


Jan C. Behrends studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld, am Herder-Institut (Marburg) und am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Nach seiner Promotion 2005 kam er als wissenschaftlicher Mitarbeiter ans WZB, Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa. 2007 forschte und lehrte er in Chicago als Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. behrends@wzb.eu


*


Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 118, Dezember 2007, Seite 26-31
Herausgeber:
Der Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wz.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr
(März, Juni, September, Dezember)
Bezug gemäß Paragraf 63 , Abs. 3, Satz 2 BHO kostenlos


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2008