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NEUZEIT/164: Lebensmittelversorgung in den Nachkriegsjahren - Berlin frißt alles weg (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 121/September 2008
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

"Berlin frißt alles weg"
Lebensmittelversorgung in den Nachkriegsjahren

Von Jürgen Schmidt


Wer heute in Deutschland lebt und jünger ist als 65, hat sehr wahrscheinlich keine Erfahrungen damit gemacht, wie es ist, wenn es nichts zu essen gibt. Die Frage, wie die Bevölkerung mit ausreichenden und bezahlbaren Nahrungsmitteln zu versorgen ist, stellte sich zuletzt während der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - insbesondere in Berlin, wo zur "Stunde Null" noch 2,5 Millionen Menschen lebten.

Die Versorgung Berlins zwischen 1945 und 1949 hatte eine Vorgeschichte: In Zeiten nationaler Krisen, abgeschotteter Märkte und beschränkter Handelswege übernahmen staatliche und kommunale Behörden Lenkungs- und Leitungsfunktionen. Unternehmerische und wirtschaftliche Entscheidungen mussten sich den staatlichen Vorgaben anpassen oder unterordnen. Hatten sich im Ersten Weltkrieg Rationierungsmaßnahmen erst mühsam durchsetzen können, griff man unter der nationalsozialistischen Herrschaft bereits in den Vorkriegsjahren regulierend in den Verbrauch der Konsumenten ein. Unter diesem rigiden Lenkungsregime, verbunden mit der rücksichtslosen Ausplünderung der besetzten Gebiete, gelang es, die Versorgung der Bevölkerung Deutschlands und Berlins bis in das letzte Kriegsjahr hinein - unter ständiger Verschlechterung - aufrechtzuerhalten.

Gemüseanbau auf allen nicht bebauten Flächen

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren kam es zu einer weltweiten Ernährungskrise. 1946 betrug die gesamte Nahrungsmittelproduktion in Europa nur 36 Prozent des letzten Jahres vor dem Ausbruch des Kriegs. Amartya Sens These, dass Hungerkrisen weniger Ausdruck von Produktionskrisen, sondern von Verteilungsungleichheiten seien - eine These, die für die gegenwärtig vieldiskutierte Welternährungskrise zutrifft -, galt für die Nachkriegsjahre nur eingeschränkt. In Berlin forderten daher die alliierten Besatzungsmächte die Stadtverwaltung auf, die Eigenproduktion drastisch zu erhöhen. Am 15. Oktober 1945 erließ der Berliner Magistrat die sogenannte Brachlandverordnung, die den Anbau landwirtschaftlicher Produkte auf allen nicht bebauten Flächen anordnete. Der Umsetzung waren dabei keine Grenzen gesetzt: Schafe und Ziegen weideten im Charlottenburger Schlosspark, rote Rüben wuchsen auf dem Olivaer Platz, Petersilie wurde auf der Weißenseer Radrennbahn gezogen, die Innenfläche der Mariendorfer Trabrennbahn wurde parzelliert und an Interessenten zum Eigenanbau von Gemüse vergeben.

In den Kinos lief im Frühjahr 1946 der Lehrfilm "Der Berliner und seine Brachlandaktion". Bei allem Erfindungsreichtum und bei allen Erfolgsmeldungen, die sich um die sogenannte Brachlandaktion rankten, dürfen die zum Teil unbefriedigenden Ergebnisse und enttäuschenden Erträge nicht übersehen werden. Ein Gutachter stellte in Wilmersdorf fest, dass man "über der U-Bahn Heidelberger Platz" nur rund 25 Zentimeter Boden ausgebracht hatte, "so daß nur ein bedingter Gemüseanbau möglich ist". Mehr als ein zusätzlicher Happen in die leeren Mägen konnten diese Bemühungen in der "Asphaltprovinz" Berlin - wie Ernährungsstadtrat Klimpel die Stadt charakterisierte - nicht sein.

Die Stadt blieb daher abhängig von den landwirtschaftlichen Gebieten. In zähen Verhandlungen mussten die nach den Versorgungsplänen der Alliierten vorgesehenen Lebensmittel eingeworben und vertraglich abgesichert werden. Die Bauern, die landwirtschaftliche Produkte abliefern mussten, sahen sich teilweise massivem Druck zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen ausgesetzt und gegenüber der städtischen Bevölkerung benachteiligt. Der stellvertretende Oberbürgermeister Karl Maron wies in der Magistratssitzung vom 26. November 1945 darauf hin, "daß in der Provinz das Ernährungsniveau beträchtlich niedriger ist als in Berlin. In der Bauernschaft draußen herrscht Mißstimmung gegen Berlin, weil Berlin alles wegfrißt."

Den Alliierten kam daher eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Stadt zu. Gerade das Beispiel der Versorgung einer Großstadt zeigte, dass die ersten Nachkriegsjahre sich nicht nur als eine Zeit der Besatzung beschreiben lassen, sondern von einer "Interaktion zwischen Siegern und Besiegten" geprägt waren. Die sowjetischen Truppen, die von Mai bis Anfang Juli 1945 die alleinige Hoheit über das gesamte Stadtgebiet hatten, brachten tausende Tonnen Lebensmittel aus Truppenbeständen in die Stadt, die das Überleben auf schmaler Rationenbasis sicherten. Auch auf amerikanischer Seite hatte man die restriktive Politik von Nahrungsmittelimporten aufgegeben. 1947 bezifferte Stadtkommandant Howley den Wert der 400.000 Tonnen Lebensmittel, die zwischen dem 15. Juli 1945 und Mitte Mai 1947 aus den USA nach Berlin gelangt waren, auf 84 Millionen Dollar.

Das Ernährungsamt und sein Verwaltungsapparat, der rund 5.000 Mitarbeiter beschäftigte, legten nicht nur fest, wie, sondern auch was gebacken werden sollte. Der Kampf der Bäcker um die Erlaubnis zum Kuchenbacken stellte denn auch mehr als nur eine Randglosse in der Versorgungsgeschichte der Berliner dar. Die Produzenten wollten sich Freiräume und eine bessere Einnahmequelle sichern; die Konsumenten sehnten sich nach etwas Abwechslung im täglichen Einerlei und wünschten sich ein Stück Normalität zurück. Die Verbraucher der Nachkriegszeit ließen sich nicht einfach als willfährige Masse abfüttern; sie entwickelten individuelle Handlungsstrategien. Drei Wege boten sich an: Zum Ersten bestand die Möglichkeit, sich jenseits staatlicher Zuteilungen individuell zusätzlich Lebensmittel zu besorgen; zum Zweiten konnten die Konsumenten versuchen, mit Protesten auf eine Verbesserung der Versorgung zu drängen; zum Dritten bot sich die Möglichkeit, durch Organisation der Verbraucherinteressen im regulierten Markt seine Position zu stärken.

Versorgung im Umland - und auf dem Schwarzmarkt

In der Praxis setzte sich nur die erste Strategie durch: Unter den Bedingungen der Besatzungsherrschaft und einer unzureichenden Produktion erwies sich die Organisation von Verbraucherinteressen als wenig erfolgversprechend. Im Gegensatz zu einigen Ruhrgebietsstädten kam es in Berlin nur zu wenigen Protesten. Zum einen nahmen die West-Berliner die Rationierungen der westlichen Alliierten leichter hin, was sich aus der unmittelbaren Blockkonfrontation erklären lässt: Schließlich schützten die Alliierten West-Berlin vor den Sowjets. Zum anderen blieben die Proteste auch deshalb aus, da Berlin besser versorgt wurde als andere Großstädte.

Blieb als erfolgversprechendste Variante die individuelle Zusatzversorgung. Legale und illegale Wege standen den Verbrauchern offen. Auf der einen Seite boten Gemüse aus Wald, Feld und Kleingärten eine gewisse Abwechslung. Immerhin rund zwölf Prozent der Berliner Bevölkerung bewirtschafteten 1947 ein eigenes Gartengrundstück. Hinzu kamen die Hamsterfahrten ins Umland, bei denen allerdings der "Aufwand an Zeit und Kräften unverhältnismäßig groß" waren, wie die Soziologin Hilde Thurnwald in ihrer aus unmittelbarer Anschauung entstandenen Studie festhielt. Schließlich gab es die dunklen Kanäle des Schwarzmarktes.

Die Schwarzmarktgeschäfte waren aus zwei Gründen von Bedeutung. Erstens kam ihnen eine wichtige Funktion bei der Organisation zusätzlicher Lebensmittel zu. Nach Schätzungen ging man 1948 davon aus, dass - gemessen an der Gesamterzeugung der Landwirtschaft - zwischen einem Fünftel und einem Drittel der Produkte auf den Schwarzmarkt gelangten. Wie realistisch diese Zahlen sind, muss letztlich offen bleiben. Nach einer Umfrage im amerikanischen und britischen Sektor von Berlin gaben 1947 zwar 53 Prozent der Befragten an, sie könnten sich zusätzliche Lebensmittel beschaffen. Allerdings kauften nur 15 Prozent diese Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt. Mögen die erstgenannten Zahlen zu hoch, die letztgenannten zu niedrig liegen, so wird deutlich, dass der Schwarzmarkt mit seinen hohen Preisen nur für einen Teil der Stadtbevölkerung zur Nahrungsbeschaffung in Frage kam. Ausgebombte und Flüchtlinge blieben von diesem Markt wegen fehlender Tauschobjekte weitgehend ausgeschlossen.

Deswegen war der Schwarzmarkt zweitens eine moralisch aufgeladene Institution, die die städtische Gesellschaft spaltete. Mit der "Moral der tausend Kalorien" - wie der Leiter des Zentralamts für Wirtschaft in der britischen Zone, Viktor Agartz, das gestörte Rechtsempfinden der Nachkriegszeit charakterisierte - legitimierten diejenigen, die es sich leisten konnten, ihre Schwarzmarktgeschäfte. Die Konsumenten lernten die Marktmechanismen in ihrer verschärften Form kennen. Parteien und Politiker appellierten immer wieder, sich von den Schwarzmarktgeschäften fernzuhalten, da nur die Schieber die Gewinner seien. Der Großschieber wurde zum Feindbild hochstilisiert - das eigene Tun in diesem Marktmechanismus bagatellisiert und verdrängt.

Die individuellen Bewältigungsstrategien der Konsumenten erwiesen sich als ambivalent. Einerseits lernten die Verbraucher die Marktwirtschaft mit ihren Chancen und Schattenseiten kennen, sahen, dass man sich auf Staat und Verwaltung allein nicht verlassen konnte und dass Eigeninitiative und Engagement sich lohnten. Auf der anderen Seite waren die Handlungen auf den eigenen Vorteil ausgerichtet. Sie wurden zwar massenhaft praktiziert, aber blieben individuelle, isolierte Aktionen, die nicht darauf ausgerichtet waren, die Verbraucher zu organisieren, zu "vergesellschaften". Als zivilgesellschaftliches Engagement können diese Handlungen daher nicht bezeichnet werden - es fehlte der bürgerschaftliche, auf das Gemeinwesen bezogene Aspekt ebenso wie die Absicht der Selbstorganisation.

Ideologischer Schlagabtausch am Esstisch

Die ausreichende Versorgung der städtischen Bevölkerung entschied auch über das Ansehen und die Anerkennung staatlicher Institutionen und staatlicher Gewalt. Deutlich wurde dieser Zusammenhang während der Berlin-Blockade 1948/49. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges entwickelte sich die Frage der Versorgung der Bevölkerung West-Berlins zu einem ideologischen Schlagabtausch am Esstisch. Die Sowjets versuchten, die West-Berliner zur Lebensmittelverteilung in den Ostsektor zu locken. Die westlichen Medien berichteten mit Häme über die anfangs wenig erfolgreichen Aktionen und gingen dazu über, die Mangelsituation im Ostsektor herauszustreichen: "Gegen die Auslagen der Ostberliner Geschäfte sehen die Schaufenster in den Westsektoren wie im Frieden aus."

Dass nur ein geringer Anteil der Bewohner der westlichen Sektoren (rund vier Prozent aus dem amerikanischen und britischen Sektor, neun Prozent aus dem französischen Sektor) sich auf den Weg nach Ost-Berlin machte, um sich dort zu versorgen, lag neben politisch-ideologischen Gründen auch daran, dass sich im Westsektor die Hungersnot nicht verschärfte. Allerdings musste das Ernährungsverhalten umgestellt werden, da in stärkerem Maße als vor der Luftbrücke auf getrocknete Lebensmittel zurückgegriffen wurde. Für die West-Berliner Bevölkerung blieb eher die diffuse Angst, die Versorgung könnte ausbleiben, als dass für sie die Gefahr des Verhungerns und Erfrierens noch einmal real werden sollte. Die bessere Versorgung Ost-Berlins während der Blockade im Vergleich zu anderen Städten der sowjetischen Besatzungszone sollte bis 1989 fortdauern, so dass viele DDR-Bürger neidisch auf Ost-Berlin als "Schaufenster der DDR" blickten.

Eine Alternative zu dem regulierten Versorgungssystem in Berlin war in der Nachkriegszeit zunächst nicht in Sicht. Selbst in den Ländern der Sieger standen Rationierung und Regulierung des Marktes im Vordergrund. In Großbritannien beispielsweise verstärkte sich der Trend zur Regulierung der heimischen Lebensmittelversorgung sogar noch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch in Berlin wurden erst gegen Ende der Blockade Stimmen lauter, die ein Ausbrechen aus dem starren Versorgungssystem forderten. Ende 1949 wurde das Rationierungssystem in West-Berlin abgeschafft, in Ost-Berlin und der DDR verschwanden die Lebensmittelkarten und die Rationierung 1958. Andererseits verfestigte das Rationierungssystem gerade in West-Berlin - durch die Inselsituation im Kalten Krieg noch verstärkt - dauerhaft eine Subventionsmentalität.

Obwohl die Versorgung Berlins letztlich bis auf das einschneidende Erlebnis des Hungerwinters 1946/47 im Wesentlichen gelang, blieb der Hunger als Erfahrung im kollektiven Gedächtnis haften. Kompensiert wurde der Mangel in den 1950er und 1960er Jahren. Der neue Konsum mündete nicht in einer generellen "Fresswelle". Vielmehr entwickelte sich ein Ernährungsverhalten, das sich je nach sozialer und wirtschaftlicher Situation der Verbraucher unterschied. Insgesamt aber wurden die beiden Pole "Hungerjahre" und "Wirtschaftswunder" zu Gründungsmythen der Bundesrepublik Deutschland. In der DDR dagegen sollten Probleme der Versorgung mit Konsumgütern - allerdings kaum noch im Hinblick auf Lebensmittel - die Bürger bis 1989 weiter verfolgen.


Jürgen Schmidt, Dr. phil., Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg, Innsbruck und Berlin (Freie Universität); von 2003 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa", seit April 2007 bei der Forschungsprofessur "Historische Sozialwissenschaften". Zurzeit arbeitet er an einer Studie zur Entstehung der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert.
jschmidt@wzb.eu


Literatur

Jürgen Schmidt (Hg.), Rote Rüben auf dem Olivaer Platz. Quellen zur Ernährungskrise in der Nachkriegszeit Berlins 1945-1949, Berlin: LIT Verlag 2008, 452 S.

Malte Zierenberg, Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939-1950, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 336 S.

Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay an Entitlement and Deprivation, Oxford: Clarendon Press 1981, 257 S.


Kurz gefasst

Die Ernährungskrise nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Herausforderung für die Berliner Stadtverwaltung. Ein rigides Rationierungssystem der Landwirtschaft und des Verbrauchs, städtische Selbstversorgung, alliierte Hilfe und individuelle Handlungsstrategien wirkten zusammen, um die Krise zu bewältigen. Im Wesentlichen gelang die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln. Dabei wurde im Westteil der Stadt die Hungererfahrung jedoch bald vom Wirtschaftswunder überstrahlt, während im Osten die Mangelerfahrung andauern sollte.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 121, September 2008, Seite 30 - 34
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für
Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2008