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NEUZEIT/179: Vor-Herbst 1989 (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2009

Vor-Herbst 1989
Auch in Brandenburg wurden 1989 lokale Oppositionsgruppen zu Motoren der Protestbewegung

Von Peter Ulrich Weiß


Die Staatssicherheit zählte 1989 rund 50 Personen zu den "inneren feindlich-oppositionellen" Führungskräften im Bezirk Potsdam. Einige von ihnen waren in Kleinstädten und Dörfern aktiv, wo sie mit spektakulären Einzelaktionen und Veranstaltungen auf politische Veränderungen drängten. Mindestens ein Dutzend oppositioneller Gruppen und Treffpunkte gab es außerhalb der Bezirkshauptstadt. Sie wirkten als Katalysatoren der friedlichen Revolution in der brandenburgischen Region.


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Als in der Nacht zum 4. Juni 1989 auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens Panzer gegen Studenten anrollen, die dort für mehr Demokratie demonstrieren, reagiert die Welt geschockt. Überall kommt es zu Solidaritätsbekundungen und Protesten. In der DDR sogar fernab der Großstädte.

So entdecken Fußgänger und Autofahrer am Morgen des 7. Juni im Stadtzentrum der nordbrandenburgischen Kleinstadt Lindow ein Bettlaken mit der Aufschrift "Protest gegen Massaker in China - Volksarmee gegen Bürger". das weithin sichtbar am Fenster der barocken Stadtkirche hängt. Fünf Tage später sitzen in der 20 Kilometer entfernten Kreisstadt Neuruppin vier junge Männer mit weißen Stirnbändern und schwarzen Armbinden an der Karl-Marx-Straße. Vor sich brennende Kerzen und ein Plakat mit der Aufschrift "China blutet". Während es in Lindow nach der protokollierten Transparentabnahme um 12.57 Uhr über eine einfache Untersuchung durch Bürgermeister und Kreisratsmitarbeiter nicht hinausgeht, wird hier die Polizei aktiv. Vor den Augen der Passanten werden die vier Männer rüde zum Verhör auf die Polizeiwache abgeführt. Dort sind vor allem die festgenommenen Hartwin Schulz, Jugendwart am Jugendzentrum der evangelischen Kirche Neuruppin, und Dirk Bock, Sozialdiakon bei der jungen Gemeinde Lindow, keine Unbekannten mehr. Beide zählen 1989 für MfS und SED zu den lokalen Schlüsselfiguren, die dafür verantwortlich sind, dass der Kreis Neuruppin neben den beiden Stadtkreisen Potsdam und Brandenburg seit Jahren als oppositionelles Schwerpunktgebiet im Bezirk gilt.

In den kirchlichen Treffpunkten der beiden Städte wie auch im Neuruppiner Jugendfreizeitzentrum verbringen vornehmlich junge Leute ihre Zeit miteinander. Auf nonkonforme Art. Dazu gehört auch, dass ihre Leiter subversive Veranstaltungen organisieren. So treten beispielsweise 1987 das oppositionelle Liedermacherpaar Stephan Krawczyk und Freya Klier auf, werden 1988 die Verhaftungen während der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration in Ost-Berlin diskutiert oder 1989 Eingaben gegen die gefälschten Ergebnisse der Kommunalwahlen formuliert. Als sich am 9./10. September 1989 in Berlin-Grünheide die Bürgerbewegung Neues Forum gründet, dauert es nur zwei Wochen, bis sich auch im evangelischen Jugendzentrum eine lokale Initiativgruppe bildet.

Dass der vorgelebte Ungehorsam Einzelner abgefärbt hat, zeigt sich, als am 8. Oktober 15 Jugendliche festgenommen werden. Sie hatten nachts zuvor anlässlich des 40. Jahrestages der DDR vor dem Rathaus Lindow "Gorbi, Gorbi!" skandiert. Nachdem einer von ihnen als Spieler während einer Fußballpartie verhaftet wird, kommt es zu Tumulten und dem Bau von Barrikaden in der Innenstadt. Die rasch angewachsene Menschenmenge ruft "Wir bleiben hier, Reformen wollen wir!" und solidarisiert sich mit den Festgenommenen. Erst ein Knüppeleinsatz der Polizei beendet die Revolte. Am darauffolgenden Tag, der mit der Leipziger Demonstration von 70.000 Menschen für Dialog und Reformen in der DDR historisch wird, findet in der Lindower Kirche das erste Friedensgebet statt, in dessen Anschluss die 600 Teilnehmer mit brennenden Kerzen durch die Straßen marschieren. Damit hat die Massenprotestbewegung die Kleinstadt erreicht.

Außerhalb Lindow oder Neuruppins ist all das unbekannt geblieben. Folgt man den damaligen Stasi-Berichten von 1989, so ging von den 15 erfassten Oppositionsgruppen der drei Bezirke (davon acht in Potsdam) nur wenig Gefahr aus. Im Detail ergibt sich jedoch ein anderes Bild. So agierten im Vor-Herbst 1989 allein in der Bezirkshauptstadt Potsdam zehn Gruppen, und bezirksweit ist mindestens ein weiteres Dutzend hinzuzurechnen. Eine überragende Rolle spielte die Kirche. So befinden sich unter den rund 50 Personen, die die Potsdamer Staatssicherheit 1989 bezirksweit den "inneren feindlich-oppositionellen" Führungskräften zurechnet, vornehmlich kirchliche Angestellte und Amtsträger. Nahezu alle Gruppen agierten unter dem Dach der Kirche: der Friedensarbeitskreis der Brandenburger St. Gotthardt-Kirchgemeinde, die Tee-Stube in der Nikolai-Kirche Jüterbog, der Luckenwalder Bibelgesprächskreis der St.-Jacobi-Gemeinde, der Seelsorgekreis für die Betreuung von Antragstellern auf ständige Ausreise (später Ökologie- und Menschenrechtsgruppe) in Staaken (Kreis Nauen) oder der Friedenskreis Königs Wusterhausen. Ihr Themenspektrum reichte von Friedensarbeit/Menschenrechte über Umweltschutz bis zu Wehrdienstverweigerung und Ausreise. Auch wenn mancher Kreis eher selbstbezogen, als offen systemkritisch agierte, wurden sie im Herbst 1989 doch alle zu Motoren der lokalen Protestbewegung gegen die SED-Diktatur.


Peter Ulrich Weiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.


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Im gemeinsamen Ausstellungsprojekt "Die Lindenstraße 54/55 als Potsdamer 'Haus der Demokratie'" erinnern das Potsdam-Museum und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam an die Akteure der friedlichen Revolution. Ausstellungseröffnung ist Ende 2009 in der Potsdamer "Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert".


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2009, Seite 18-19
Herausgeber:
Referat für Presse-, Öffentlichkeits- und Kulturarbeit (PÖK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2009